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wenn ich als Kind so zu meinen Eltern gesprochen hätte, wäre ich windelweich geschlagen worden“, bemerkte Tante Mary Maria spitz. „Ich finde, in manchen Familien sollte man wirklich wieder zum Stock greifen, so wie früher.“ Sie schüttelte empört den Kopf.

      „Aber Klein-Jem hat doch keine Schuld“, fauchte Susan. „Bertie Shakespeare Drew hat ihm doch den Floh ins Ohr gesetzt, er war den ganzen Nachmittag da. Erst kam er in die Küche geschlichen, um mir den besten Aluminiumtopf zu entführen. Er sagte, er bräuchte ihn als Helm, weil sie Soldat spielen wollten. Danach machten sie sich Boote aus Schindeln und ließen sie im Bach herumsegeln, dabei wurden sie naß bis auf die Haut. Und schließlich spielten sie Frosch und hüpften eine geschlagene Stunde laut quakend über den Hof. Kein Wunder, daß Jem völlig überdreht ist. Normalerweise ist er nämlich das liebste Kind auf der Welt!“ Susan schnappte sich einen Stapel Teller und marschierte hinaus.

      Tante Mary Maria schwieg vorsichtshalber. Beim Essen sprach sie nie mit Susan Baker, um auf diese Weise ihr Mißfallen darüber zum Ausdruck zu bringen, daß es Susan gestattet war, überhaupt mit der Familie am Tisch zu sitzen.

      Dabei hatten Anne und Susan dies ausgeheckt, bevor Tante Mary Maria aufkreuzte. Susan wußte ganz genau, was sich gehörte, und setzte sich normalerweise nie mit an den Familientisch, wenn Gäste da waren.

      „Aber Tante Mary Maria ist kein Gast“, hatte Anne erklärt. „Sie ist bloß ein Mitglied unserer Familie, und das bist du genausogut, Susan.“

      Susan war also einverstanden gewesen. Mary Maria Blythe sollte ruhig sehen, daß sie keine gewöhnliche Haushälterin war. Sie kannte Tante Mary Maria zwar nicht persönlich, aber ihre Nichte hatte früher einmal in Charlottetown bei ihr gearbeitet und Susan alles über sie erzählt.

      „Ich kann nicht gerade behaupten, daß ich mich über Tante Mary Marias bevorstehenden Besuch übermäßig freue, ausgerechnet jetzt“, hatte Anne damals frei heraus gesagt. „Aber sie hat Gilbert einen Brief geschrieben, in dem sie fragt, ob sie für ein paar Wochen kommen kann, und du weißt ja, wie er ist…“

      „Ist ja auch sein gutes Recht“, meinte Susan fest. „Was bleibt einem anderes übrig, als zu seiner Verwandtschaft zu stehen? Aber gleich ein paar Wochen … also, liebe Frau Doktor, ich will ja nicht den Teufel heraufbeschwören, aber die Schwägerin von meiner Schwester Matilda kam auch mal ‚Für ein paar Wochen‘ und blieb schließlich zwanzig Jahre.“

      „Ich glaube nicht, daß wir derlei befürchten müssen“, lachte Anne. „Tante Mary Maria hat ein nettes eigenes Haus in Charlottetown. Nur findet sie es mittlerweile zu groß und einsam. Ihre Mutter ist vor zwei Jahren gestorben, mußt du wissen, sie war fünfundachtzig; Tante Mary Maria hat immer für sie gesorgt, und sie vermißt sie sehr. Wir wollen versuchen, ihr den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, Susan.“

      „Ich werde tun, was in meiner Macht steht, liebe Frau Doktor. Den Tisch werden wir wohl besser ausziehen.“

      „Ja. Und stell bitte keine Blumen auf den Tisch, Susan. Sie bekommt Asthma davon. Und auf Pfeffer sollten wir auch verzichten, weil sie sonst ständig niesen muß. Außerdem kriegt sie leicht Kopfschmerzen, es wäre also besser, wenn wir nicht allzuviel Lärm veranstalten.“

      „Oje! Also, Sie und der Herr Doktor sind ja nun wirklich nicht laut. Und wenn mir nach Schreien zumute ist, kann ich mich ja in die Büsche schlagen. Aber die armen Kinder… wenn die ständig still sein müssen, bloß damit Mary Maria Blythe keine Kopfschmerzen kriegt, also, entschuldigen Sie, aber ich finde, das geht doch ein bißchen zu weit.“ Susan stemmte die Hände in die Hüften.

      „Es ist doch bloß für ein paar Wochen, Susan“, begütigte Anne sie.

      „Hoffentlich. Wir müssen wohl aus allem das Beste machen.“ Mehr hatte Susan dazu nicht zu sagen.

      Tante Mary Maria kam also mit Sack und Pack an und erkundigte sich als erstes, ob denn der Schornstein wenigstens frisch gereinigt wäre. Sie hatte offenbar eine Heidenangst, es könnte ein Feuer ausbrechen. „Ich hab schon immer gesagt, daß euer Schornstein viel zu niedrig ist. Ich hoffe, mein Bett ist ordentlich gelüftet, Annie. Stickiges Bettzeug ist mir ein Graus“, verkündete sie mit schneidender Stimme. Sodann ergriff sie Besitz von Inglesides Gästezimmer und nach und nach von allen anderen Räumen des Hauses, mit Ausnahme von Susans Zimmer. Niemand brach bei ihrem Empfang in stürmisches Jubelgeschrei aus. Jem warf ihr nur einen kurzen Blick zu und entschlüpfte gleich in die Küche, um Susan zu fragen, ob sie denn wenigstens lachen dürften, solange diese Tante da wäre? Walter stiegen bei ihrem Anblick die Tränen in die Augen, so daß er unehrenhafterweise aus dem Zimmer gescheucht werden mußte. Die Zwillinge ließen es gar nicht erst so weit kommen, sondern suchten freiwillig das Weite. Sogar Krabbe mußte hinauslaufen, um draußen laut loszuprusten. Nur Shirley ließ sich nicht beirren und musterte die Tante furchtlos mit seinen runden braunen Augen, während er sicher auf Susans Schoß saß. Tante Mary Maria fand, daß die Ingleside-Kinder schlechte Manieren hätten. Aber was konnte man schon anderes erwarten bei einer Mutter, die für die Zeitung schrieb, und einem Vater, der sich einbildete, seine Kinder seien die Perfektion in Person, bloß weil sie seine Kinder waren, und schließlich einer Haushälterin wie Susan Baker, die nicht wußte, was sich gehört. Aber sie, Mary Maria Blythe, war entschlossen, ihr Bestes zu tun für diese bedauernswerten Enkelkinder von Cousin John, zumindest solange sie in Ingleside weilte.

      „Dein Tischgebet ist viel zu kurz, Gilbert“, bemerkte sie mißbilligend nach dem ersten Essen. „Möchtest du, daß ich das Tischgebet spreche, solange ich hier bin? Es würde deiner Familie schon ein besseres Beispiel geben.“ Sie zog die Augenbrauen fragend hoch.

      Gilbert erklärte sich, wenn auch unbehaglich, einverstanden, sehr zu Susans Entsetzen. ‚Klingt eher wie eine Andacht‘, dachte sie verächtlich, als Tante Mary Maria das nächste Mal ihr Gebet aufsagte. Und Susan war im Grunde ganz derselben Ansicht wie ihre Nichte, die einmal über Mary Blythe gesagt hatte, sie sähe immer so aus, als rümpfe sie die Nase. Trotzdem sah sie für eine Dame von vierundfünfzig eigentlich nicht übel aus. Sie hatte ebenmäßige Gesichtszüge – sie selbst war davon überzeugt, daß sie aristokratisch waren —, umrahmt von stets wohlgepflegten grauen Löckchen, die Susan im Vergleich zu ihrem piksenden grauen Haarknoten geradezu als Beleidigung empfand. Sie zog sich auch recht hübsch an und schmückte sich mit langen Ohrringen und modischen hohen, netzartigen Kragen, die ihren schlanken Hals zur Geltung brachten.

      ‚Na, wenigstens brauchen wir uns wegen ihres Aussehens nicht zu schämen‘, überlegte Susan insgeheim. Gut, daß Tante Mary Maria ihre Gedanken nicht lesen konnte…

      Kapitel 5

      Anne schnitt im Garten einen Strauß Lilien für ihr Zimmer und einen Strauß Pfingstrosen für Gilberts Schreibtisch ab. Es war ein ungewöhnlich heißer Junitag gewesen, und man konnte kaum unterscheiden, ob der Hafen silbern oder golden schimmerte.

      „Das wird ein wundervoller Sonnenuntergang heute abend“, sagte Anne zu Susan, während sie ihren Kopf durchs Küchenfenster streckte.

      „Solange ich den ganzen Abwasch noch vor mir habe, kann ich dem Sonnenuntergang nichts abgewinnen“, entgegnete Susan sarkastisch und schrubbte auf einer Pfanne herum.

      „Aber bis dahin ist er vorbei, Susan. Sieh doch bloß diese riesengroße weiße Wolke mit dem rosaroten Saum, die sich da oberhalb der Bucht auftürmt. Hättest du nicht auch Lust, da hinaufzufliegen und dich auf der Wolke niederzulassen?“

      Susan ließ die Bürste sinken und stellte sich vor, wie sie mit dem Geschirrtuch in der Hand zu besagter Wolke emporschwebte. Sie konnte daran nichts Aufregendes finden. Aber schließlich war ihre Frau Doktor in anderen Umständen, man mußte also nachsichtig mit ihr sein.

      „Übrigens entdecke ich neuerdings eine ganz gemeine Sorte Käfer, die unsere Rosenbüsche anknabbert“, fuhr Anne fort. „Ich muß sie morgen absprühen. Am liebsten würde ich es heute abend schon tun. An einem Abend wie heute arbeite ich besonders gern im Garten, da wächst alles so gut. Ich hoffe, Susan, daß es im Himmel auch Gärten gibt, ich meine, Gärten, in denen man arbeiten und pflanzen darf.“

      „Aber Käfer soll’s doch wohl nicht geben“, warf Susan ein.

      „Nein,

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