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Ein neuer Herr und Heiland, ruht.«

      Der Schweiger aber begnügte sich leider nicht mit diesem berühmten Poem des Dichters Waruschan, hielt er sich doch selbst für einen »Aschugh«, einen Volksbarden. Er beglückte deshalb sein Publikum auch noch mit einem langen Gedicht eigener Machart, das den einzigen Vorzug hatte, trotz seiner vielen Strophen wie ein wilder Platzregen nieder- und vorbeizugehn. Als kein Beifallszeichen der verdutzten und verständnislosen Menge des Barden Ohr berührte, hob er sein Mausergewehr, ob grüßend oder dräuend, wurde nicht klar, und verließ stolz den Schauplatz, um den Musikanten Platz zu machen.

      Nun begann der bessere Teil des Festprogramms. Erst zierten sich die jungen Leute, bald aber traten einige Paare zum Tarz Bar und Polor Bar an, zu den heimischen Berg- und Stampftänzen. Später zog Gabriel auch Juliette unter die Tänzer, um mit ihr ein paar Schritte zu versuchen. Nach einer Minute schon bat sie ihn aufzuhören, denn diese Art Tanz verstehe sie nicht. Auch Gonzague Maris und Hrand Oskanian erhielten von ihr einen Korb. Letzterer fand Trost darin, daß er sich in diese Ablehnung mit dem »Eleganten« teilen durfte. Iskuhi aber tanzte mit Gabriel einen ganzen Polor Bar zu Ende. Sie sah in dem zuckenden Schein des Feuers heiter und rosig aus, obgleich sie niemals noch unter ihrem Gebrechen so sehr gelitten hatte wie während dieses Tanzes. Gabriel kehrte dann sehr bald in die Nordstellung zurück, und auch die Frauen gingen nach Hause. Das Volk aber blieb noch lang und warf immer neue Nahrung in das Feuer. Unter den Tänzern ragte sonderbarerweise Sarkis Kilikian, der Russe, als ein Meister hervor. Trotz seines wenig einladenden Äußeren wurde er von den Mädchen als Partner begehrt. Er tanzte mit geschmeidigen und erfinderischen Gliedern, während sein jugendlicher und lebensmatter Totenkopf mit feierlicher Wurstigkeit über den Tänzerinnen schwebte. Der schwachsinnige Kework drehte sich selbstversunken zwischen den Paaren. Er hatte diesmal keine Sonnenblume, sondern einen abgerissenen Myrtenzweig in der Hand.

      Dies ist, mit groben Strichen gezeichnet, das Leben, wie es sich in den ersten vierzehn Tagen des Musa Dagh abspielte. Im Keime war alles vorhanden, was das Leben der ganzen Menschheit ausmacht. Unser Volk befand sich in einer Einöde, ausgesetzt im leeren Raum. Der Tod umgab es fugenlos, und nur Schwärmer konnten auf eine Erlösung von dem Tode hoffen. Des Volkes kurze Geschichte entwickelte sich nach dem Naturgesetz des geringeren Widerstands. Dieses Gesetz hatte ihm auch die gemeinwirtschaftliche Lebensform aufgezwungen, in die sich die meisten wohl oder übel fügten, obgleich sie die freie Selbstverköstigung dem Zwange weit vorzogen. Die Reichen aber, zuvörderst die schwergeschädigten Herdenbesitzer, litten tief unter der Entziehung ihres Eigentums. Die klare Überzeugung, daß sie auf dem Wege der Verschickung nicht nur ihr Eigentum, sondern auch ihr Leben viel früher würden verloren haben, half ihnen dennoch nicht über die Bitterkeit der Verarmung hinweg. Auch jetzt, da doch die Lebensdauer nur mehr eine Frage von Wochen oder Tagen war, taten diese Personen alles, um sich von der grauen Masse durch eine begünstigte Lebensform wenigstens dem Scheine nach zu unterscheiden. Trotz der schweren Anforderungen, die der Tag stellte, war die Sehnsucht des Volkes nach Vergessen, nach Genießen, ja sogar nach Geist ebensowenig zu unterdrücken wie in allen anderen Menschenstädten der Welt. Es gab einen Mann wie den Apotheker Krikor, desgleichen sich gewiß nicht überall fand, einen großen Stoiker, der unter dem blutigen Schwerte noch seine allumfassende Wissenschaft weniger aus der geliebten Bücherei als aus dem furchtbaren Nichts schöpfte. An den Rändern der Einöde waren Verteidigungswälle gegen den Tod errichtet, doch innerhalb dieser Wälle fühlte sich das Volk ganz unbegreiflich sicher und so geborgen, daß es in lächerliche Streitigkeiten verfiel, daß es am Abend sang und tanzte. Unüberwindbar blieben die Bedingungen des Lebens. Eine Rückkehr ins Tal gab es nicht, in die paradiesische Vorzeit, aus der diese kleine Menschheit, ohne ihre Schuld zu kennen, durch einen grausamen Befehl der höchsten Regierungsstelle verjagt worden war. Rückkehr gab es nicht, dafür aber gab es vortreffliche Männer, die eine gütige Fügung dem Volke in seiner Not geschenkt hatte. Diese hervorragenden Persönlichkeiten, diese unerschrockenen Führer machten sich die Bedingungen des Mosisberges bis zu einem gewissen Grade dienstbar, so daß zutrauliche Gemüter in freundlichen Stunden hoffen konnten: Das Schicksal wird am Ende nicht unsere Führer, sondern unsere Führer werden am Ende das Schicksal unterwerfen.

      In der Mitte der Ansiedlung erhob sich der Altar. Wenn zur Zeit der letzten Nachtwache, eine Stunde vor dem Morgengrauen, die verblassende Milchstraße über ihm kreiste, als sei er Mitte und Nabel des Alls, dann kniete Ter Haigasun, sein Priester, manchmal auf der obersten Stufe, den Kopf aufs offene Meßbuch gepreßt. Ter Haigasun war ein lebenserfahrener, skeptischer Mann. Gerade darum aber sammelte er die Mächte des Gebetes so leidenschaftlich in seiner Brust. Wenn keiner mehr an Rettung glaubte, so mußte er als einziger und letzter durchdrungen sein vom kommenden Wunder, von der Gewißheit des Heiles und dem bergeversetzenden Glauben an die Erlösung vom Tode. Um diesen bergeversetzenden Glauben an ein Paradoxon, angesichts des hiesigen Lebens unbegreifbar, rang die Seele Ter Haigasuns im einsam schamhaften Gebet.

      Juliette hatte sich zu einer gänzlich neuen Lebensführung aufgerafft. Sie erhob sich jetzt knapp vor Sonnenaufgang, kleidete sich schnell an, um Mairik Antaram bei der Milchverteilung zu helfen und so früh wie möglich unter den Kranken im Lazarettschuppen zu sein. Was sie leistete, war noch immer keine Tat des Erbarmens, sondern etwas weit Schwierigeres, ein Versuch, sich dem ganz und gar Fremden unterzuordnen und einzugliedern. Es gab keine andere Möglichkeit für sie. Gabriel hatte recht gehabt. Niemand kann gewissermaßen als Ausländer von Distinktion unverbunden und unverbindlich in einer menschlichen Gemeinschaft hausen, die den Tod erwartet.

      Ein oberflächlicher Menschenbeobachter könnte sich hier leicht wider Juliette verhärten: Was wollte denn diese Hochnäsige? Worauf eigentlich war sie so eingebildet, daß sie sich nach fünfzehnjähriger Ehe noch immer gegen die Welt ihres Gatten sträubte? Lebte nicht jetzt in derselben Stunde so manche europäische Frau in diesen Ländern, die mit Heldenmut ihr Leben dem gemordeten und geschändeten Armeniervolke weihte? Gab es nicht eine Karen Jeppe in Urfa, die in ihrer Wohnung die Flüchtlinge versteckte und mit ausgebreiteten Armen die Tür vor den Saptiehs schützte, bis sie abzogen, denn eine Dänin abzuschlachten wagten sie doch nicht. Reisten nicht deutsche und amerikanische Diakonissinnen unter den schwersten Strapazen bis nach Deïr es Zor und in die Wüste hinein, um den verhungernden und umherirrenden Frauen und Kindern der Ermordeten ihre schwache Hilfe zu bringen? Und diese Frauen waren mit keinem Armeniermann verbunden und hatten keinen Armeniersohn geboren. Solche Vorwürfe scheinen zu treffen, sind aber dennoch ungerecht. Juliette war viel zu unselig, um kalt und überheblich zu sein, sie war der Mensch auf dem Musa Dagh, der über das allgemeine Leiden hinaus noch tief unter sich selbst litt. Als Französin war ihr eine gewisse Starrheit angeboren. Die Romanen sind bei all ihrer äußeren Geschmeidigkeit innerlich unbeweglich und abgeschlossen. Sie sind formvollendet. Sie haben ihre Form vollendet. Mögen die Nordländer noch immer wie Wolkengebilde voll Spannung und Verwandlung sein, die Franzosen lieben es im allgemeinen, weder aus ihrem Land noch aus ihrer Haut zu fahren. Juliette teilte diese Starrheit ihrer Rasse in hohem Maße. Ihr fehlte die Einfühlungskraft, die zumeist ein Kind der formlosen Unsicherheit ist. Hätte Gabriel von Anfang an den stetigen Willen gehabt, sie mit vorsichtiger Hand seiner Stammeswelt entgegenzuführen, vielleicht wäre alles anders geworden. Doch Gabriel gehörte ja selbst zu den Parisern, zu den Assimilianten, die von Armenien als von einer klassisch vornehmen, aber ein wenig unwirklichen Sache sprachen. Der spärliche Verkehr mit Armeniern, die bewegten politischen Gespräche im türkischen Revolutionsjahr, die Aufnahme Samuel Awakians ins Haus, dies alles reichte nicht hin, um einer Frau wie Juliette eine rechte Vorstellung von den Dingen zu geben, geschweige sie auf die eigene Seite herüberzuziehen. Sie wußte fünfzehn Jahre lang im Grunde nicht mehr, als daß sie einen ottomanischen Staatsbürger geheiratet hatte, doch was es heißt Armenier sein, welche Schicksale und Pflichten es mit sich bringt, das war ihr erst vor wenigen Wochen schreckhaft bewußt geworden. Die Schuld an Juliettens Verwirrung lag demnach zum großen Teil in Gabriel selbst. Nun rächte sich an ihr seine liebende Schwäche, die immer die Überlegenheit der Französin anerkannt und mit größtem Zartgefühl ihr die Schärfen der Blutsverschiedenheit ferngehalten hatte. Doch warum hätte er sich in Paris anders verhalten sollen, war er doch selbst erst durch die Zwangslage in Yoghonoluk zu seinem Armeniertum erwacht. Er mußte jetzt oft an die Worte des Agha Rifaat Bereket denken: »Du hast sie geheiratet, und folglich bleibt sie dem Karma deines Volkes verfallen.« Juliette war wirklich diesem Karma verfallen,

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