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würden. – Die Zeitwahl war demnach durch die Gunst der Umstände genau vorgeschrieben. Der Führerrat rechnete mit folgender Entwicklung: Die rückkehrenden und neueintreffenden Saptiehs werden am Morgen des Samstags anstatt des ganzen Volkes nur mehr Pastor Nokhudian mit seinen fünfhundert Protestanten in Bitias vorfinden. Dieser – die Kriegslist stammte von Gabriel Bagradian – wird dem Müdir lang und breit erklären, daß die verschiedenen Gemeinden sich trotz seiner Bitten und Beschwörungen in der letzten Nacht aufgemacht und freiwillig in die Verbannung begeben hätten. Der Grund sei die Angst vor den Saptiehs und insonderheit vor dem Polizeihauptmann. Die Wege wisse er nicht genau anzugeben, denn die Leute seien in kleineren Gruppen und in allen möglichen Richtungen davongezogen, ein Teil gegen Arsus und Alexandrette, ein Teil in südlicher Richtung, alle aber mit der Absicht, bewohnte Orte zu vermeiden. Die wichtigste Gruppe wolle sich freilich bis nach Aleppo durchschlagen, um in der großen Stadt Schutz zu finden. Pastor Nokhudian, den viele wegen seines sanften Wesens und seiner christlichen Gehorsams-Entscheidung für einen mattherzigen Feigling gehalten hatten, entpuppte sich nun als aufrechte Seele. Das Täuschungsmanöver, das er auf sich nahm, bedeutete für ihn unmittelbare Todesgefahr. In der Minute, da die Türken diese Kriegslist erkannten, konnte er mit dem Leben abschließen. Der Pastor zuckte die Achseln: Was war keine Todesgefahr? Die Kämpfer auf dem Berge mußten Zeit gewinnen. Die Finte schob die Entdeckung um mehrere Tage hinaus und schuf eine hinreichende Frist, die Verteidigungswerke auszubauen.

      Der Führerrat tagte bei Ter Haigasun im Pfarrhaus. Das Gesicht des Priesters war von dem Knutenhieb sehr entstellt, das rechte Auge und die Backe noch immer geschwollen; bis zur halben Stirn hinauf zog sich ein violett verfärbter Fleck. Ter Haigasun hatte zwei Backenzähne verloren und man sah ihm an, daß er starke Schmerzen litt. Gabriels Rißwunden hingegen machten sich unter den Pflastern Altounis kaum mehr bemerkbar. Die körperliche Mißhandlung – die erste in seinem gehobenen und behüteten Dasein, ein Erlebnis von ungeahnter Wucht – hatte ihn den anderen noch näher geführt, diese aber ihrerseits auch näher zu ihm.

      Im Verlauf der Ratsitzung beschäftigten sich die Führer mit einem besorgniserregenden Übelstand, dem vorzubeugen es leider schon zu spät war. Die Dorfbewohner pflegten sonst in friedlichen Jahren während des Julimonats nach der Getreideernte ihren Bedarf an Brotfrucht bei den türkischen oder arabischen Bauern zu decken, da sie ja selbst fast gar keinen Ackerbau trieben. In diesem Jahre hatten sie, durch das Drohende völlig betäubt, den Einkauf der notwendigen Wintervorräte verabsäumt. Diese Versäumnis rächte sich nun. Man besaß in den Dörfern Mehl, Kartoffeln und Mais nur in sehr bescheidenen Mengen. Wollte man damit eine längere Zeit auskommen, war die größte Sparsamkeit vonnöten. Da der Armenier aber sehr viel Brot und sehr wenig Fleisch zu essen gewohnt ist, entstand aus diesem Mangel für die Führung eine bedenkliche Frage. Dazu kam noch, daß in den ersten Tagen des Damlajik keine Möglichkeit bestand, Brot zu backen, weil die Backtröge erst in die Erde gemauert werden mußten. Pastor Aram Tomasian traf deshalb die Verfügung, daß bis Freitag abends jede Stunde ausgenützt und alle Tonirs der Dörfer unter Feuer gehalten werden sollten, damit soviel Wecken- und Fladenbrot wie nur möglich beförderungsbereit sei. – Am Ende der Tagung kündigte Ter Haigasun für den morgigen Freitag einen feierlichen Bittgottesdienst an. Nach Abschluß der Messe sollten die beiden Glocken aus der Turmstube niedergeholt, in großer Prozession zum Friedhof gebracht und dort bestattet werden. Das Volk werde dann von den Gräbern der Väter betenden Abschied nehmen. Ter Haigasun erklärte ferner, daß er mehrere Tragbutten mit geheiligter Totenerde auf den Damlajik mitzunehmen gedenke. Diejenigen, die dort oben im Kampf oder im Lager stürben, würden dann nicht ganz verlassen in der herzlosen Wildnis liegen, sondern ein Häuflein altgeweiht-ewiger Erde unter den Kopf mitbekommen.

      Am Freitagmorgen hatten sich die Saptiehs tatsächlich bis zum letzten Mann auf das mohammedanische Land verflüchtigt. Müdir und Muafin waren nach Antakje heimgeritten. Die Kirche zu den wachsenden Engelmächten aber war lange schon vor der festgesetzten Stunde so überfüllt wie noch nie seit dem Tage ihrer Einweihung. Der Vorraum und das große Viereck, über dem sich die Mittelkuppel erhob, die beiden Seitennischen und selbst die Bühne des Hochaltars konnten die Menschenfülle kaum fassen. Da die Kirche nach uralter Sitte keine Fenster besaß, drangen scharfe bernsteinfarbene Schwerter des Sonnenlichtes durch schießschartenförmige Mauerschlitze, die dem Auge der Dreieinigkeit glichen. Die sich kreuzenden Sonnenklingen erleuchteten aber den Raum nicht, ja sie nahmen den Kerzen alles Licht und warfen über die Menschenmenge ein Netzwerk von seltsamen Schattenschlägen. Es waren heute nicht nur viele Hunderte von Frommen aus den kleineren Orten zum Bittgottesdienst nach Yoghonoluk gekommen, sondern auch die Priester und Kirchensänger allesamt, um bei diesem letzten Hochamt auf »festem Boden« feierlich mitzuwirken. Noch niemals hatte der Chor so volltönend leise den Hymnus gerauscht, der am Fuße des Altars den Ankleidungsritus des Priesters in der Sakristei verkündet:

      »Tiefes Geheimnis, unbegreiflich anfangloses!

       Du schmücktest die oberen Reiche als Vorhand des unnahbaren Lichts.

       Du schmücktest mit ruhmreicher Herrlichkeit

       Die Heere der Feuerwesen.«

      Niemals noch hatte Ter Haigasun tiefer gebeugt und fröstelnder das große Sündenbekenntnis vor dem Volke abgelegt. Unter seiner goldenen Krone glühte der Schandfleck des Peitschenhiebs. Und niemals noch hatte das Geheimnis des Friedenskusses, die Vereinigung der Gemeinde in Christo die Seelen der Gläubigen heiliger verbunden. Wenn sonst nach dem Aufopferungsgebet der Diakon bei den Worten »Grüßet einander mit dem heiligen Kusse« dem Obersänger (Lehrer Asajan) das Weihrauchfäßchen an die Lippen hielt, wenn dieser den nächsten Sänger küßte und die Umarmung sich vom Chor unter die Gemeinde fortpflanzte, dann war es zumeist in flüchtigen Berührungen nur eine schlaffe Förmlichkeit gewesen. Heute aber drückte einer den andern fest an die Brust und küßte ihn wirklich auf Wange und Mund. Viele weinten dabei. Als aber nach der Kommunion die assistierenden Priester auf einen Wink Ter Haigasuns mit der Abräumung des Altars begannen, da warf ein wilder, unerwarteter Schmerz die ganze Gemeinde auf die Knie. Ein fassungsloses Jammern, Stöhnen, Klagen stieg über das huschende Schattenwerk, über die gekreuzten Erzengelschwerter der Sonne in die verschwebende Kuppel auf. Jedes einzelne der heiligen Geräte wurde hoch emporgehalten, ehe es in einem strohgeflochtenen Korb verschwand, Kelch, Patene, Ziborium und das große Evangelienbuch. Die Weihrauchgefäße, die silbernen Leuchter und Kruzifixe bettete der Sakristan in einen anderen Koffer. Zuletzt lag nur mehr die weiße Spitzendecke auf dem Altar. Ter Haigasun bekreuzigte sich ein letztes Mal, ließ seine Hände, deren Farbe den gelblichen Kirchenkerzen glich, unentschlossen eine Zeitlang über der Decke schweben, um diese dann mit einem plötzlichen Ruck abzuheben. Nackt starrte der Steintisch, den man einst aus dem grauen Kalkfelsen des Musa Dagh gebrochen hatte. In derselben Minute ließen die Bauarbeiter Vater Tomasians an Flaschenzügen die große und die kleine Glocke aus dem Seitenturm herab. Mühsam hoben sie dann das schwere Metall auf je eine Totenbahre, deren jede acht Männer zu Trägern hatte.

      Die Prozession eröffneten Ministranten mit dem hohen Stangenkreuz. Dann kamen die schwankenden Totenbahren mit den Glocken. Hinter ihnen schritten Ter Haigasun und die Priesterschaft. Es dauerte übermäßig lange, ehe der Trauerzug den Kirchhof von Yoghonoluk erreichte. Dieses Totengefolge schien wirklich ehrwürdige Leichen zum Grabe zu geleiten. Betäubende Hitze herrschte. Selten nur überkletterte ein Hauch vom Mittelmeer den Musa Dagh, um sich des syrischen Sommers zu erbarmen. An der Spitze der Prozession bildete ein laufender Staubwirbel den gespenstischen Vortänzer, eine beklagenswert dürftige Abart jener erhabenen Rauchsäule, die den Kindern Israel in der Wüste vorangezogen war. Der Friedhof lag weitab auf dem Wege nach Habibli-Holzdorf. Wie die meisten Totenorte im Orient erstreckte er sich auf einer geneigten Hügellehne und war von keiner Mauer umgeben. Dies sowie die gestürzten oder schief im Boden versunkenen Grabplatten, in deren verwitterten Kalkstein Kreuz und Schrift roh gemeißelt waren, gaben ihm beinahe das Ansehen einer türkischen oder jüdischen Begräbnisstätte Kleinasiens. Als der Zug anlangte, flatterte es da und dort von den Grabgehäusen und Platten fledermausgrau auf. Es waren alte Weiber in zerzundernden Gewändern, die nur mehr durch die Substanzen von Staub und Schmutz zusammengehalten wurden. Greisinnen zieht es überall an solche Stätten. Auch im Westen kennt man diese ausdauernden Stammgäste des Todes, diese Beiwohnerinnen und Wächterinnen der Verwesung, die oft nur im Nebenamte betteln. Hier freilich in Yoghonoluk

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