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Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)
Год выпуска 0
isbn 9788075835543
Автор произведения Franz Werfel
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Bereits am ersten Morgen waren die Deserteure des Musa Dagh zu den Kämpfern gestoßen. Sie vermehrten sich im Laufe der beiden Tage zu der stattlichen Menge von sechzig Mann, denn Nurhans Trompete schien die Gesellen von den Nachbarbergen, vom Ahmer Dagh und dem kahlen Dschebel el Akra, herbeigelockt zu haben. Für Gabriel Bagradian bedeuteten sie, obgleich alle gut bewaffnet waren, einen willkommenen-unwillkommenen Zuwachs. Zweifellos befanden sich unter diesem herzbeklemmenden Element nicht nur gewöhnliche Fahnenflüchtige, mißhandelte, freiheitssüchtige oder feige Soldaten, sondern auch düstere Burschen, die mehr als den militärischen den bürgerlichen Richter zu fürchten hatten. Hochstapler mit einem Wort, die sich die Deserteurwürde fälschlich anmaßten, da sie Wegelagerer von Beruf waren und nicht den Kasernen von Antakje, Alexandrette und Aleppo, sondern dem Bagno von Payas entsprungen zu sein schienen. Das wahre Gewerbe der sechzig Neuankömmlinge zu unterscheiden, fiel äußerst schwer, denn alle sahen sie gleich scheu, tückisch und verkommen aus, was ja bei solchen Ausbrechern nur selbstverständlich war, die bei Tag und Nacht den Fahndungen der Gendarmerie Trotz bieten mußten und sich niemals vor zwei oder drei Uhr morgens in die Dörfer wagten, um von den zusammenschreckenden Volksgenossen ein Stück Brot zu erbetteln. Die verhungerten Knochen der Deserteure – von Körpern konnte man kaum mehr reden – staken in den Lumpen der wüstenfarbenen Felduniform. Soweit man durch das verlauste Haar- und Bartgestrüpp noch so etwas wie Gesichter wahrnahm, waren sie gebräunt von Sonne und Schmutz. Aus ihren Armenieraugen blickte nicht nur das große allgemeine Leiden, sondern noch ein besonderes dazu, das boshafte Leiden verkrochener Nachtseelen, die langsam wieder im Tiersein untergehen. Das Gesindel sah aus wie von der Menschheit gekündigt. Nur auf den Deserteur Sarkis Kilikian, den man den Russen nannte, stimmte dieses Wort äußerlich wenigstens nicht, obgleich gerade er noch unerbittlicher aus dem menschlichen Sicherheitsverband entlassen war als alle anderen. Gabriel erkannte in ihm auf den ersten Blick das nächtliche Gespenst vom Dreizeltplatz. Die Frage, wie diese sechzig unholden Gesellen auf die Zehnerschaften verteilt werden sollten, ohne die werdende Disziplin zu gefährden, konnte nicht sofort gelöst werden. Vorläufig wurden sie trotz ihrer erstaunten Grimassen in die eiserne Zucht Tschausch Nurhans geschickt, wo sie für Speis und Trank dasselbe schweißtreibende Kriegsgewerbe üben mußten, dem sie entlaufen waren.
Doch nicht Nurhans Gefechtsexerzieren war die wesentlichste Aufgabe dieser arbeitsbegeisterten Tage, sondern Vorbereitung und Bau der Kampfstellungen. Die blauen und braunen Linien, die Gabriel in Awakians Karten eingezeichnet hatte, mußten nun in Wirklichkeit umgesetzt werden. Da es auf dem Damlajik zurzeit mehr Hände als Grabscheite, Krampen und Spaten gab, wurde die Arbeit in zwei Schichten geleistet, die einander in ihrer Beschäftigung ablösten. Als eigentliches Arbeitsheer war von Bagradian ja die Reserve gedacht, das heißt jene elfhundert Männer und Frauen, die nur in der Stunde des Kampfes ihre Posten zu beziehen hatten, sonst aber im Lager das notwendige Handwerk und den allgemeinen Dienst verrichten sollten. Das Volk aber, das zur Reserve gehörte, befand sich noch in den Dörfern unten.
Nach Gabriel Bagradians Berechnung gab es dreizehn Einfallspunkte, an denen der Damlajik bedroht war. Die offenste Zugangsstelle lag im Norden, wo jener schmale Einschnitt, den Gabriel als Nordsattel bezeichnete, den Berg von den anderen Teilen des Musa Dagh trennt, die in die Richtung von Beilan verlaufen. Der zweite, obwohl schon weniger gefährdete Ort, war der breite Ausstieg der Steineichenschlucht oberhalb Yoghonoluks. Diesem glichen dann die übrigen Gefahrzonen des westlichen Bergrandes im kleineren Maße, und zwar überall dort, wo die steilen Hänge sich sänftigten und Hirten und Herden schmale Naturpfade ausgetreten hatten. Einen Unterschied machte nur der mächtige Felsturm im Süden, die Südbastion der Karte, welche die weiten Steinhalden beherrschte, die aus der Orontes-Ebene in schroffen Stufen und Terrassen zur Höhe stiegen. Unten in der Ebene der Zusammenbruch einer menschlichen Riesenwelt, die römischen Ruinenfelder von Seleucia. Und dieses Steinmeer einer zertrümmerten Gesittung äffte der Berg mit dem Halbrund der gestaffelten Trümmerhalden seiner Südflanke nach. Unter Samuel Awakians Aufsicht wurden nach Bagradians genauer Vorzeichnung nicht nur auf dem Felsturm, sondern auch links und rechts von ihm aus großen Blöcken ein paar ziemlich hohe Mauern errichtet. Der Student wunderte sich, daß man der Deckung wegen so umständliche Wände aufführte. Seine kriegerische Phantasie war in diesen ersten Tagen noch sehr ungelenk und er verstand die Absichten seines Meisters nur selten. Die härteste Arbeit wurde freilich im Norden, an der verwundbarsten Stelle der Verteidigung, gefordert. Gabriel Bagradian hatte den langen Graben eigenhändig abgesteckt, der mit all seinen Ausbuchtungen und Winkelzügen mehrere hundert Schritt maß. Im Westen lehnte er sich an das Felsgewirr der Meerseite, wobei dieses mit seinen Barrikaden, Gängen, Schanzen, Kavernen eine labyrinthische Festung bildete. Im Osten