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Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch). Franz Werfel
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen, Dramen & Gedichte (Über 200 Titel in einem Buch)
Год выпуска 0
isbn 9788075835543
Автор произведения Franz Werfel
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Es geschah zum Unheil, daß die Landnahme durch Türken und Araber dem vagabundierenden Doppelleben Satos ein Ende setzte. Als sie sich das letztemal hinabgewagt hatte, wäre es ihr beinahe an den Kragen gegangen, denn auch unten im Tale hatten sich Horden muselmanischer Halbwüchsiger gebildet, die beim Anblick dieses scheuen Wildes sofort zur Jagd riefen. Jetzt aber verlegte ihr der große Bergbrand die gewohnten Dämmerpfade und Schlupflöcher. Sato blieb leider nichts übrig, als sich mit der Hochfläche des Damlajik und mit einigen Schrunden und Rinnen seiner Steilseite zu begnügen. Doch das ausgeleierte Gelände des Lagerkreises, all diese vertretenen Steige, Pfade, Hohlwege, die langweiligen Kuppen und Wellen von der Südbastion über die Stadtmulde bis zum Nordsattel, wie hätten sie die verkörperte Unrast befriedigen können, die Sato in Person war? Dazu stand sie mit der Dorfjugend schlechter denn je. Ter Haigasun hatte vor einigen Tagen trotz des Widerstrebens der Lehrer angeordnet, daß wieder Schule gehalten werden müsse. Doch jetzt gelang es nicht einmal dem schärfsten aller Schultyrannen, Hrand Oskanian, die gewohnte Totenstille während des Unterrichts durchzusetzen, wenn Sato unter den Kindern saß. »Stinkerin, Stinkerin«, heulte der grause Chor, sobald die Vagabundin auf dem Schulplatz erschien. Es liegt unausrottbar im Wesen des Menschen, daß er seinen ewig erbosten Geltungsdrang auf Kosten der Niedriger-, Ärmer-, Mißgeborenen, ja auch nur der Fremdbürtigen erbarmungslos steigert, wie und wo er kann. Diese Sucht, zu erniedrigen, und der rachgierige Rückschlag, den sie auslöst, sind sehr bedeutende Hebel der Weltgeschichte, die von dem zerschlissenen Mantel der politischen Ideale nur kärglich bedeckt werden. Auch hier oben, auf der letzten Zufluchtstätte der Verfolgten, gab die zugewanderte elternlose Sato dem Kindervolk den erwünschten Anlaß, sich selbst erhaben und wohlgeboren zu fühlen. Während einer Schulstunde, die wieder einmal Iskuhi abhielt, nahm das Hohngeheul so erschreckend überhand, daß die Lehrerin selbst, ohne ihren eigenen Abscheu zu verbergen, die Verhaßte fortschickte:
»Geh, Sato, und laß dich bitte nie wieder blicken.«
Mit zähem Gleichmut, der nichts von Ehre und Schande wußte, hatte sich Sato immer gegen die ganze Horde behauptet. Nun aber, da ihr bewundertes Fräulein, ihre Kütschük Hanum, selbst zum Feinde überging und sie vertrieb, mußte Sato gehorchen. In ihrem europäischen Hängekleidchen mit den Schmetterlingsärmeln, das zerfetzt und schmutzstarrend ihr ein groteskes Ansehen gab, hatschte sie langsam von dannen. Doch sie ging nur bis zum nächsten Gebüsch, dahinter sie sich still auf die Lauer legte, dem Schakal gleich, der ein Karawanenlager mit hungrigen Augen verschlingt.
Sato war nicht so arm wie es schien. Auch sie hatte eine unabhängige Welt. Sie verstand zum Beispiel die Tiere gut, denen sie auf ihren Streifzügen begegnete. Iskuhi und andere hätten wohl darauf geschworen, daß Sato eine grausame Tierquälerin sei. Für diese Annahme sprach alles. Und doch war gerade das Gegenteil wahr. Das Bastardgeschöpf ließ seinen Haß und seine Schadensucht keineswegs an den Tieren aus, sondern behandelte sie mit Behutsamkeit und flüsterndem Einverständnis. Sie nahm mit unempfindlicher Hand den gerollten Igel vom Wege auf und wisperte so lange zu ihm, bis sich die Kugel löste, die spitze Schnauze entblößte und die flink geriebenen Äuglein eines kleinen Bazarhändlers sie rasch abschätzten. Sato, die nur wie mit einem Klotz im Munde reden konnte, hatte Kenntnis von allerlei Lockrufen und -tönen des Vogelsangs. Alle diese Eigenschaften, die ihr ein Ansehen verschafft hätten, verbarg sie aber geflissentlich, weil sie sich damit sozial zu schaden fürchtete. Wie mit den Tieren, so verstand sie es auch, mit den wahnsinnigen Weibern zu reden, die im Friedhofumkreis von Yoghonoluk hausten. Sie merkte es gar nicht, daß diese atem- und sinnlosen Plaudertaschen anders plapperten als vernünftige Weiberzungen sonst: Es war jedenfalls angenehm, an solchen Disputen teilzunehmen, die ein Mindestmaß von Mühe und Anstand der Sprache gegenüber erforderten. Die kleinen Tiere, die Närrinnen und etwa die blinden Bettler noch, das war das Reich, aus dem Sato jene Überlegenheitsgefühle bezog, die jedes Menschenwesen zum Leben braucht. Was freilich Nunik, Wartuk und Manuschak anbelangt, war sie die Dienende und Ehrfürchtige. Durch die Entwicklung der Dinge aber war die Gemeinschaft zerrissen. Die Streifzüge in dem Geviert der Verteidigung blieben ergebnislos und langweilig. Die Jugendlichen stießen sie unerbittlich aus ihren Reihen. Ihre beschäftigungslose Unruhe wurde nach und nach auf ein anderes Gebiet gelenkt. Ausspionieren der Erwachsenen! Mit feinster Witterung, die aller unerlernbaren Schullehre spottete, erkannte sie, was in diesen Erwachsenen aufgelöst, tierhaft, bettelgierig, suchtvoll und verrückt war. Sie hörte das Gras jener gefährlichen Gefühle wachsen, von deren Bestand in der Welt sie kaum eine Ahnung hatte. Wo etwas nicht in Ordnung war, zog sie, ohne daß sie es wußte, der lüsterne Spionenmagnet hin.
Es kann somit nicht wundernehmen, daß Sato sehr bald an Gonzague und Juliette abgelesen hatte, was geschehen war. Das prickelnde Vorgefühl einer großen Katastrophe erfüllte sie. Alle Enterbten kennen diese Katastrophenfreudigkeit, diese süße Hoffnung auf Weltuntergang, welche eine der vorzüglichsten Triebfedern der kleinen Skandale und großen Revolutionen ist. Sato war scharf hinter dem Paar her. Juliette und Monsieur Gonzague bedeuteten für sie neben Bagradian das Glänzendste, was ihr im Leben begegnet war. Sie flößten ihr nicht den Haß ein, den schlechte Dienstboten gegen ihre Herrschaft empfinden, sondern die heiße Neugier des Primitiven für das, was ihm halb und halb als überirdisch erscheint. Vor Gonzague aber, der sie mit seiner donnernden Schlagermusik einst so sehr erschreckt hatte, empfand sie die zehrende Furcht einer geprügelten Hündin.
Rasch hatte Sato die Ruheplätze, die Rhododendron- und Myrtenheimlichkeiten der Riviera heraus. Von Wonne überrieselt, zwängte sie ihr Gesicht leise durch das Zweigicht. Ihre geblendeten Augen tranken das Spektakel, das ihr die Götter gaben. Die erhabene Frau, Hanum aus dem Frankenlande, die Immer-Duftende, die Riesin, nun hing ihr das Haar halb aufgelöst herab, nun drängte sich die erloschene Fläche ihres Gesichtes mit dem breit schmachtenden Mund an das gemessene Gesicht des Mannes, der mit verhängtem Blick, und doch überwach, die Gabe