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kommen Sie zu mir ins Laboratorium. Oder nehmen Sie einen Schlitten.« –

      Sybil nahm einen Schlitten. Aber sie fuhr nicht ins Sanatorium, sondern bei Sylvester vor.

      Sylvester lag grade auf dem Liegestuhl und schluckte Arsenikpillen, als der Kutscher auf die Veranda polterte: »Das gnädige Fräulein Lindquist lassen den Herrn Doktor zu einer Spazierfahrt einladen.« Er warf sich einen Schal um den Hals und fuhr im Lift herunter.

      Eine kleine weiße Hand winkte ihm fröhlich.

      »Sybil,« sagte er, »Sie machen mich glücklich …« »Wenn ich Sie nur glücklich machen könnte«, sagte sie leise.

      Sie sprach diese Worte so gesellschaftlich gleichgültig, daß Sylvester ihre Schwere nicht empfand. Vielleicht auch wollte er sie nicht empfinden.

      Sie glitten durchs Dorf, dem See zu.

      Eben lief aus dem Bahnhof Dorf ein Zug in der Richtung Landquart – Zürich.

      »Möchten Sie«, fragte Sybil, »mit dem Zug zurück in die Ebene … in den Glanz … in das Leben?«

      Er schüttelte den Kopf.

      »Ohne Sie?«

      Sie schwieg.

      Aus den Nüstern der Pferde schnob silberner Atem.

      »Weshalb suchen Sie meine Freundschaft, Sylvester? Ich bin krank. Und eine Schauspielerin. Eines von beiden schon sollte genügen, Sie zu erschrecken.«

      »Ich bin selber beides. Und noch ein drittes dazu, Sybil. Und also bin ich vielleicht kränker als Sie, Sybil. Ich bin ein Dichter und speie immer Blut.«

      »Und ich weine Blut. Denn ich lebe mit den Augen …«

      »Und ich,« sagte er bitter, »da ich Blut speie, lebe mit dem Mund …«

      Nebel schössen wie Skiläufer von den Bergen.

      Sybil fröstelte.

      »Ich habe schon wieder Fieber. Wir müssen kehrtmachen.«

      Die Sonne schwamm über dem Nebel auf den obersten Bergspitzen, rosa, als lagerten Quallen auf den Gipfeln. Früher ist doch hier überall Meer gewesen, sann Sylvester. Eigentlich wandeln wir auf dem Grund des Meeres. Davos ist Vineta, die verzauberte Stadt. Wir sind längst ertrunken, aber wir wandeln noch, als lebten wir, mit Perlen und goldenen Ketten behängt, über den Meergrund. Der Himmel wallt über uns, und die zarten Seesterne leuchten. Wir greifen mit den Händen in die Luft. Die ballt sich wie Wasser schwer um unsere Glieder. Wir vermögen unsere Hände nicht mehr zu bewegen. Und gehen können wir in der dicken Flut nur langsam, ganz langsam. Kurschritt. Und unsere Augen versuchen, bis zur Oberfläche des Meeres, bis zum Himmel zu dringen. Aber sie sind fast erblindet von dem vielen In-die-Höhe-stieren.

       Inhaltsverzeichnis

      Der naturwissenschaftliche Oberlehrer litt an offener Hauttuberkulose. An seiner linken Hand befand sich eine winzige weißliche Spalte, die hin und wieder eine weiße Flüssigkeit absonderte. Desgleichen hatte er an der linken Wange einen kaum bemerkbaren Einschnitt, der aussah, als rühre er von einem Stich mit einem Federmesser her. Übrigens wußte das niemand von den Herrschaften, die mit ihm zu Tisch saßen. Denn obgleich sie sämtlich an der Krankheit litten, hielten sie doch auf reinliche Scheidung von Haut-und Knochentuberkulose.

      Der naturwissenschaftliche Oberlehrer hatte das sonderbarste Zimmer des ganzen Hauses inne.

      Es kostete nur 6,50 Franken täglich, und darum hatte es der Oberlehrer gemietet.

      Das Zimmer war fensterlos. Die Luke, die die Stelle des Fensters vertrat, ging auf einen grauen Korridor hinaus, von dem das Zimmer sein ganzes Licht empfing. Richtig gelüftet konnte das Zimmer nicht werden. Es roch, ja stank infolge der Jod-, Karbol-und anderen Tinkturen, die der naturwissenschaftliche Oberlehrer für seine offene Hauttuberkulose benötigte, pestilenzialisch. Das Zimmer mußte sich auch ohne Zentralheizung behelfen: es wurde von einem durchlaufenden Kamin geheizt. Den Kamin hatte sich der naturwissenschaftliche Oberlehrer mit allerlei Bildern benagelt, die in der Hauptsache dem kleinen Witzblatt entnommen waren. »Ich bin ein Mensch mit liberalen Ansichten«, pflegte er zu sagen und dabei die Backen wie ein Seehund zu blähen.

      Wie die hübsche Russin gerade auf ihn hereinfiel, ist schwer zu begreifen. Es waren doch mehrere angenehme Herren in der Pension »Schönblick« anzutreffen. Der Leutnant. Oder der schwäbische Virtuose Krampski, welcher von seinen Kompositionen behauptete, sie seien gar nicht »reizend«, wie die abgetakelte Operettensängerin zu verbreiten sich erdreistete, sondern fabelhaft, phänomenal, puccinesk.

      Der naturwissenschaftliche Oberlehrer, der stets nach Karbol roch und daheim drei unmündige Kinder und eine blasse sommersprossige Frau zu verwahren hatte, die einem ausgewrungenen Handtuch glich – er hielt das zarte hübsche Mädchen mit behaarten Affenhänden in seinen schweißigen Armen. Floh die kleine Russin vor sich selber zu ihm? Wollte sie sich peinigen, erniedrigen, bespeien? Sich leidend vernichten? Marternd erlösen? Was hatte die Krankheit aus ihr gemacht?

      Eines Nachts trugen Männer auf leisen Filzsohlen die hübsche Russin aus dem Haus. Am nächsten Morgen hieß es am Frühstückstisch, sie sei abgereist. Der naturwissenschaftliche Oberlehrer blieb den ganzen Tag zu Bett.

      Er hätte Temperaturen, ließ er sagen, und bäte, ihm die Mahlzeiten aufs Zimmer zu bringen.

      Aber die Mägde wollten das Essen nicht in seine stinkende Kammer tragen. Die Pneumo selber mußte es tun.

      Der Desinfektor betrat wichtig mit seinem Instrumentenkasten das Zimmer der kleinen Russin, das plötzlich ein Stück leerer unausgefüllter Raum geworden war ohne Form und Inhalt. Wie ein Kinderballon, dem das Gas entströmt ist, lag es in sich zusammengefallen da.

      Man fand einen Zettel auf dem Nachttisch, mit allerlei konfusen russischen Schriftzeichen bedeckt. Die Pneumo warf ihn nach einem kurzen achtlosen Blick beiseite. Auf dem Zettel aber standen diese russischen Verse:

      Wenn der Dichter träumt, weinen die Mädchen, Und im Morgenrot liegt die Blüte ihres Herzens betaut.

      IX

       Inhaltsverzeichnis

      Lieber Harry!

      Dank für Deine freundlichen Zeilen. Ich habe mich in den zwei Monaten, die ich nun wieder hier bin, recht gut eingelebt. Mißverstehe mich nicht: leben, das heißt hier: einer Protestversammlung Sterbender gegen den Tod angehören. Reden wie feurige Fahnen gegen einen Herrn schwingen, der unerkannt am Präsidententisch sitzt, und jederzeit die Glocke läuten kann. Dann ist einem im Nu das Wort (und der Hals wie mit einem Rasiermesser) abgeschnitten. Es sind Spiegel um einen aufgestellt. Man darf sich nur bespiegeln. In dem edlen Bulgaren. In der mütterlichen Pneumo. Dem taumelnden Thorax. Es gibt einen Spiegel, der heißt Klunkenbul. Dann sind noch vorhanden der Literat Pein, die Operettensängerin, der kleine Japaner, der Virtuose Krampski, der Leutnant. Einer taugt selbst zum Spiegel nicht: der naturwissenschaftliche Oberlehrer. In einer hübschen Russin bespiegelt man sich gern. Schließlich resigniert man, aus Furcht, den Spiegel blind zu machen. Da kommt der naturwissenschaftliche Oberlehrer und schmeißt mit tellergroßen Steinen in den Spiegel. Der zerbricht klirrend, klagend, anklagend. Aus einem der Scherben, die drei-und viereckig herausspringen, verfertigt der Oberlehrer sich einen Rasierspiegel und rasiert sich nun sein Leben lang vor diesem zarten Auge der Unendlichkeit seinen naturwissenschaftlichen Backenbart. Sybil ist kein Spiegel. Sie ist ein See. Selbst unser Schatten versinkt bei einem Blick in sie sofort in die Tiefe. Seit wieviel Jahren schon spiele ich das Spiel der Spiegel? Es sind sieben Jahre her, daß ich an beiderseitiger Rippenfellentzündung erkrankte und im Krankenhaus in Frankfurt an der Oder lag. Ich ging, ein Knabe von sechzehn Jahren, zur Rekonvaleszenz nach

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