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mehr am Leben, und sie hatte sich keine große Mühe gegeben in den letzten Jahren, das zu verbergen. Aber sie hatte nicht angenommen, daß andere in ihr eine alkoholkranke Frau sahen, die ihrer Sucht hilflos gegenüberstand.

      »Ich dachte«, sagte sie schließlich, nach einer Pause, die beiden Frauen sehr lang erschien, »daß ich alles in der Hand habe. Daß ich trinke, weil ich trinken will – damit ich aufhören kann zu denken.«

      »Ich fürchte, Sie trinken, weil Sie trinken müssen«, sagte Stefanie leise. »Sie können gar nicht mehr anders.«

      Wieder war es lange still, dann sagte Alida, indem sie kurz nach Stefanies Hand griff und sie drückte: »Danke für Ihre Offenheit, Frau Wagner.«

      »Wenn sie nur etwas bewirken würde«, erwiderte Stefanie hilflos.

      »Ich glaube nicht. Jetzt habe ich noch mehr Verlangen nach einem Whisky als vorher.«

      Ihre Blicke trafen einander, und völlig unerwartet lächelte Alida Roth. »Verrückt, was?«

      »Ein bißchen schon, Frau Roth. Aber wissen Sie was? Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Sie haben noch so viel Kraft in sich – das kann ich spüren.«

      Wieder griff die Ältere nach ihrer Hand. Dieses Mal hielt sie sie fest und ließ sie lange nicht los.

      *

      »Ich denke, Sie wollten heute in den Zoo, Herr Weyrich«, sagte Adrian erstaunt. »Sie haben doch frei, oder?«

      »Ja, habe ich – und ich gehe auch in den Zoo«, antwortete Marc, »aber nicht allein, Herr Winter. Ich hole jemanden ab.«

      »Ach, so!« Adrian lächelte. »Dann wünsche ich Ihnen viel Spaß. Seien Sie froh, daß Sie heute nicht hier sein müssen!«

      »Ich hab’ schon von dem Brand gehört«, sagte Marc, »ist es schlimm?«

      »Katastrophal, ich muß deshalb auch sofort zurück!« Der Notaufnahmechef winkte mit dem Brötchen, das er sich gerade gekauft hatte und verschwand eilends, während Marc zur Inneren Station lief. Hoffentlich begegnete er Janine Gerold wenigstens ganz kurz…

      Er klopfte und betrat das Zimmer von Frau Roth, in dem sich jedoch außer der Patientin und Stefanie Wagner niemand befand. Er spürte eine vage Enttäuschung, die jedoch durch Stefanies Lächeln deutlich gemildert wurde.

      »Da sind Sie ja, Herr Weyrich«, sagte sie und stand auf.

      »Sie kennen sich?« erkundigte sich Alida erstaunt.

      »Ja, wir sind Nachbarn, seit Herr Weyrich hier an der Klinik arbeitet«, erklärte Stefanie, »und ich habe ihm versprochen, jetzt noch mit ihm für ein Stündchen in den Zoo zu gehen, damit er sich dort nicht völlig verloren vorkommt.«

      Marc trat zu der Patientin und sagte erstaunt: »Sie sehen viel besser aus, Frau Roth, als bei meinem letzten Besuch.«

      »Das ist auch kein Wunder«, stellte Alida trocken fest. »Erst hat mich Ihre junge Kollegin, Dr. Gerold, in die Mangel genommen – und nun noch Frau Wagner. Das regt den Kreislauf ordentlich an, Herr Doktor!«

      Er lachte über ihre Selbstironie und freute sich zugleich darüber, daß sie sich selbst vielleicht ja doch noch nicht ganz aufgegeben hatte.

      Sie verabschiedeten sich von Alida, und Marc nahm höflich Stefanies Arm, als sie zur Tür gingen. Dort trafen sie Janine, die gerade zurückkehrte. Ihre Augen leuchteten kurz auf, als sie den Arzt erkannte. Dann jedoch sah sie die Frau an seiner Seite, bemerkte seine Hand an ihrem Arm und erstarrte. Es dauerte jedoch nur Sekunden, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte und mit erzwungener Gelassenheit sagen konnte: »Mit Ihnen hatten wir heute gar nicht gerechnet, Herr Weyrich.«

      »Es liegt an Frau Wagner, daß ich hier bin«, erklärte er und strahlte sie dabei an. Nun hatte er sie also doch noch gesehen – und sie erschien ihm heute schöner als je zuvor. »Oh, Entschuldigung, Sie kennen einander ja gar nicht – Frau Wagner – Frau Dr. Gerold. Frau Wagner begleitet mich in den Zoo, was ich sehr nett von ihr finde. Allein im Zoo ist es vermutlich nicht sehr amüsant.«

      Die beiden Frauen gaben sich die Hand, Janine wandte sich danach hastig ab. »Viel Spaß im Zoo«, sagte sie, bemüht, ihre Stimme unbefangen und locker klingen zu lassen.

      »Danke. Tschüß, Frau Roth, bis morgen.«

      »Ja, auf Wiedersehen, Frau Roth«, sagte nun auch Stefanie. »Vielleicht komme ich in den nächsten Tagen noch einmal vorbei, und wir setzen unser Gespräch fort. Auf Wiedersehen, Frau Dr. Gerold.«

      Die Tür klappte hinter ihnen zu, und Alida sagte ruhig: »Setzen Sie sich, Kind, sonst kippen Sie mir noch um. Sie sind ja bleich wie der Tod.«

      *

      »Laß uns einen Kaffee trinken«, sagte Julia Martensen, die wie alle anderen in der Notaufnahme blaß und müde aussah. Sie brauchten eine kurze Verschnaufpause an diesem furchtbaren Tag, der die Notaufnahme durch den Großbrand in einer Charlottenburger Firma in ein lange nicht mehr dagewesenes Chaos gestürzt hatte. Adrian war nicht einmal dazu gekommen, sein Brötchen aufzuessen, weil unablässig neue Patienten eingeliefert worden waren – mit schlimmen Brandverletzungen. Einige von ihnen hatten sie nicht mehr retten können, und das machte diesen Tag noch schrecklicher.

      »Ja, ich komme sofort«, murmelte Adrian. »Aber ich brauche ein bißchen Zuckerzufuhr. Wie wär’s mit einem Müsliriegel?«

      »Du ziehst das Süßzeug aus dem Automaten, ich besorge den Kaffee«, entschied Julia, und Adrian spurtete los. Viel Zeit blieb ihnen nicht, weitere Verletzte waren bereits angekündigt worden. Es gab nur gerade eine kleine Lücke, und er hoffte, daß die Zufuhr von Kaffee und Zucker seine Lebensgeister wieder in Schwung brachte.

      Er rannte durch den großzügigen Eingangsbereich der Klinik zum Automaten, zog mehrere Müsliriegel – man wußte schließlich nie, wie dieser Tag sich noch entwickelte – und wollte gerade in die Notaufnahme zurückkehren, als er Stefanie Wagner in Begleitung von Marc Weyrich aus einem der Aufzüge kommen sah. Adrian blieb wie angewurzelt stehen und starrte die beiden an. Sie war also die Frau mit den wunderschönen Augen, von der sein Kollege neulich gesprochen hatte? Ihretwegen war er hierhergekommen, weil sie gemeinsam in den Zoo gehen wollten! Mitten an einem Arbeitstag ging sie mit Marc Weyrich in den Zoo?

      Er konnte es kaum glauben. Er wußte nicht allzu viel über Stefanie Wagner, aber eines wußte er ganz sicher: Daß sie ihre Arbeit überaus ernst nahm. Wenn sie also jetzt bereit war, mit seinem Kollegen einen Stadtbummel zu machen, dann konnte das nur eins heißen…

      Er drehte sich um und kehrte, auf einmal im Schneckentempo, in die Notaufnahme zurück. Es ist meine eigene Schuld, sagte er sich verzweifelt. Vielleicht hat sie sich schon vor langer Zeit von ihrem Freund getrennt. Wenn ich sie jemals gefragt hätte, dann wäre ich jetzt vielleicht derjenige, an dessen Arm sie diese Klinik verließ.

      Er verbot sich, weiter an Stefanie zu denken. Zwar fragte er sich, wieso sie bereit gewesen war, abends mit ihm essen zu gehen, wenn sie sich in Marc Weyrich verliebt hatte – aber dann fiel ihm ein, daß sie bisher seine Einladungen immer ohne zu zögern angenommen hatte. Und warum auch nicht? Sie waren gute Bekannte, nicht einmal Freunde. Warum sollte sie nicht mit ihm essen gehen?

      Er hätte heulen können, als er die Notaufnahme betrat, und im selben Augenblick sagte Julia zu ihm: »Was ist passiert? Du siehst aus, als wolltest du in Tränen ausbrechen.«

      »So ungefähr fühle ich mich auch«, murmelte er und gab ihr zwei Müsliriegel, die sie umgehend gegen einen Becher Kaffee tauschte.

      »Die meisten haben wir retten können, Adrian«, sagte sie ernst.

      »Ich weiß«, erwiderte er. Die drei Menschen, die bisher an ihren Brandverletzungen gestorben waren, hatten ihm in der Tat den ganzen Vormittag über schwer zugesetzt, und er ließ Julia in dem Glauben, daß er in diesem Moment noch immer ihretwegen so durcheinander war.

      Die Wahrheit, dachte er müde, geht niemanden etwas an.

      Julia aber warf ihm, während sie einträchtig ihren Kaffee

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