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und lindert vielen Jammer. Eugénie schreitet himmelwärts, und alle wohltätigen Handlungen geben ihr Geleit. Die Größe ihrer Seele mildert die Kleinlichkeit ihrer Erziehung und die beschränkten Sitten ihrer Lebensweise.

      So endet die Geschichte dieser Frau, die mitten in der Welt nichts wußte von der Welt; die – wie nur je eine Frau – geschaffen war zur Gattin und Mutter und doch weder Mann noch Kinder hat.

      Seit einigen Tagen spricht man wohl von einer möglichen Wiedervermählung. Die Leute von Saumur nennen ihren Namen in Verbindung mit dem Marquis de Froidfond, dessen Familie die reiche Witwe einzukreisen sucht, wie das ehemals die drei Cruchots getan haben. Nanon und Cornoiller seien, so sagt man, vom Marquis für seinen Plan gewonnen; aber nichts ist verkehrter. Weder die Große Nanon noch Cornoiller haben Verstand genug, um die Verderbtheit der Welt zu begreifen.

      Vater Goriot

      (1834)

      Madame Vauquer, geborene de Conflans, ist eine alte Frau, die seit 40 Jahren in Paris, und zwar in der Rue Neuve-Ste-Geneviève, zwischen dem Quartier Latin und dem Faubourg St-Marcel, eine Familienpension leitet. Diese unter dem Namen Haus Vauquer bekannte Pension beherbergt Männer wie Frauen, Jünglinge und Greise, ohne daß bisher die geringste üble Nachrede über die Moral dieses achtbaren Unternehmens laut geworden wäre. So hatte man denn auch 30 Jahre hindurch kein junges Mädchen in dem Hause gesehen, und wenn ein junger Mann dort mietete, so geschah es nur deshalb, weil er nur einen überaus schmalen Wechsel erhielt. Im Jahre 1819 jedoch, zur Zeit, wo unser Drama beginnt, wohnte in dem Hause ein armes junges Mädchen. Der Begriff »Drama« ist nun zwar durch den Mißbrauch, den unsere heutige, auf die Tränendrüsen wirkende Literatur mit ihm getrieben hat, in Verruf geraten: Trotzdem muß man ihn hier aber anwenden. Nicht, weil etwa unsere Geschichte im eigentlichen Sinne des Wortes dramatisch wäre. Aber wenn wir an ihrem Ende stehen, wird man doch vielleicht einige Tränen vergossen haben: intra muros et extra, d. h. also nicht nur hier in Paris, sondern auch in der Provinz. Wird sie außerhalb von Paris aber verstanden werden? Man darf füglich daran zweifeln. Die Eigentümlichkeiten des Schauplatzes mit seiner Fülle von Einzelheiten und seinem Lokalkolorit können nur zwischen dem Montmartre und den Höhen von Montrouge voll gewürdigt werden, in diesem berühmten Tal, von dessen baufälligen Häusern unablässig der Gips rieselt und dessen Rinnsteine schwarz sind von Schmutz; in diesem Tal echter Leiden und oft falscher Freuden, in diesem Tal, wo die dauernde Erregung so groß ist, daß sich schon etwas ganz Außerordentliches zutragen muß, um ein Interesse von einiger Dauer zu gewinnen. Und gleichwohl finden sich hier mitunter Leiden, die durch das Übermaß der Laster und Tugenden groß und feierlich werden. Vor ihnen machen die Egoismen, machen die persönlichen Interessen halt und wandeln sich in Mitleid; aber der Sturmwagen der Zivilisation wird, wie der Wagen des Götzen Jaggernaut, selten einmal durch ein standhafteres Herz aufgehalten. Seine Räder gehen darüber hinweg, er setzt seinen Siegeszug fort, und das Herz bleibt gebrochen zurück. Ähnlich werdet auch Ihr Euch verhalten, meine Leser, Ihr, die Ihr dieses Buch in Euren weißen gepflegten Händen haltet, tief in den weichen Sessel geschmiegt, und nun eine kurzweilige Lektüre erwartet. Denn wenn Ihr das Geheimnis des unglücklichen Vaters Goriot gelesen habt, werdet Ihr mit Appetit dinieren und Eure Gefühllosigkeit dem Autor aufs Konto schreiben, ihn der Übertreibung und der poetischen Unwirklichkeit zeihend. Aber Ihr müßt wissen: Dieses Drama ist nicht erdichtet, es ist kein Roman. All is true, es ist so wahrhaft, daß jeder die Elemente unserer Erzählung bei sich selbst, in seinem eigenen Herzen, wiederfinden kann.

      Das Haus, in dem sich die Familienpension befindet, ist das Eigentum der Madame Vauquer. Es liegt im unteren Teil der Rue Neuve-Ste-Geneviève, an der Stelle, wo der Boden sich so steil gegen die Rue de l'Arbalète senkt, daß die Straße nur selten von Wagen passiert wird. Deshalb ist es so still hier, zwischen dem Dom des Val-de-Grâce und dem Panthéon, zwischen diesen beiden Bauwerken, die die Atmosphäre durch ihre gelbgetönten Schatten färben und ihre Umgebung durch das strenge Aussehen ihrer Kuppeln düster stimmen. Hier sind Pflaster und Rinnsteine trocken, das Unkraut wächst an den Mauern. Der gleichgültigste Mensch wird hier genauso traurig wie alle Passanten dieser Straßen, das Geräusch eines Wagens wird zu einem Ereignis, die Häuser sind düster, und die Mauern atmen Gefängnisluft. Der Pariser, der sich hierher verirrt, findet nur Familienpensionen und Erziehungsinstitute, Elend und Langeweile, ein langsam hinsterbendes Alter und eine Jugend, die zu harter Arbeit gezwungen ist. Kein Viertel von Paris ist schrecklicher und – sagen wir es ruhig – unbekannter. Die Rue Neuve-Ste-Geneviève ganz besonders ist wie ein Bronzerahmen, der unserer Erzählung angegossen ist, einer Erzählung, auf die man sich gar nicht genug durch trübe Gedanken und dunkle Stimmungen vorbereiten kann – ganz so wie das Tageslicht von Stufe zu Stufe abnimmt und die Stimme des Führers dumpfer wird, wenn die Besucher der Katakomben hinabsteigen. Wie wahr ist dieser Vergleich! Wer vermag zu entscheiden, was schrecklicher anzusehen ist: Fühllose vertrocknete Herzen oder hohle Totenschädel?

      Die Fassade der Pension geht auf ein Gärtchen, so daß das Haus rechtwinklig auf die Rue Neuve-Ste-Geneviève stößt. Von hier aus kann man es in seiner ganzen Tiefe übersehen. Die Vorderseite entlang zieht sich, zwischen Haus und Gärtchen, etwa 2 m breit, eine Kieselschicht, davor ein sandgestreuter Weg, der mit Geranium, Oleander- und Granatbäumchen in blauweißen Fayencekübeln eingefaßt ist. Man betritt diesen Weg durch ein Tor, über dem ein Schild mit folgender Inschrift angebracht ist: Haus Vauquer. Darunter liest man: Bürgerliche Pension für Familien und Einzelpersonen. Tagsüber geben die Scheiben der Haustür, die mit einer lärmenden Glocke versehen ist, den Blick frei auf einen kleinen Vorflur, dessen Wand, der Straße gegenüber, mit einer Arkade aus gemaltem grünem Marmor – ein Künstler des Stadtviertels ist dafür verantwortlich – verziert ist. In der Scheinnische dieser Malerei steht eine Amorstatue. In dem abgeblätterten Lack, der die Figur bedeckt, könnten Freunde des Symbolismus vielleicht eine Anspielung auf das Liebesleben von Paris vermuten, dessen Folgen einige Schritte weiter, in dem Hospital nebenan, kuriert werden. Eine halbverwischte Inschrift unter dem Sockel verrät durch ihre Begeisterung für Voltaire, den sie zitiert, die Zeit, da dieses Schmuckstück entstand: das Jahr 1777, in dem Voltaire nach Paris zurückkehrte. Die Inschrift lautet:

      Wer du auch seist, sieh deinen Meister hier auf Erden,

      Er ist es, war es oder wird es werden.

      Bei Anbruch der Dunkelheit wird die Glastür mit Fensterläden geschlossen. Das Gärtchen, dessen Breite der Länge der Fassade entspricht, wird von der Straßenmauer und der Mauer des Nachbarhauses eingefaßt. Dieses Haus ist von einem dichten Efeumantel umgeben, der es völlig verbirgt und die Augen der Passanten auf sich lenkt, denn für Paris bedeutet dies schon einen malerischen Effekt. An den Mauern ziehen sich Spaliere und Weinstöcke hin, deren jammervolle staubige Früchte für Madame Vauquer eine Jahr um Jahr wiederkehrende Sorge und der Gegenstand ihrer Unterhaltungen mit den Pensionären sind. An der Mauer läuft ein schmaler Weg entlang, der zu einer Lindenlaube führt. Zwischen den beiden Seitenwegen liegt ein Artischockenbeet, flankiert von umwickelten Obstbäumen und eingefaßt von Sauerampfer, Lattich und Petersilie. In der Lindenlaube steht ein runder grüner Tisch mit einigen Stühlen ringsherum. In den Hundstagen nehmen hier die Gäste, die reich genug dazu sind, ihren Kaffee bei einer Temperatur, die Eier ausbrüten könnte.

      Die Fassade, die außer den Mansarden drei Etagen aufweist, ist aus Bruchsteinen gebaut und mit jener gelben Farbe gestrichen, die fast allen Pariser Häusern ein so gemeines Aussehen gibt. Die fünf Fenster jeder Etage haben kleine, viereckige Scheiben, und ihre Jalousien sind alle verschieden hoch aufgezogen, so daß ein wirres Durcheinander von Linien entsteht. In der Seitenfront hat das Haus je zwei Fenster; die des Erdgeschosses sind durch Eisengitter geschützt. Hinter dem Gebäude liegt ein etwa 20 Fuß breiter Hof, auf dem Schweine, Hühner und Kaninchen einträchtig zusammen hausen. Im Hintergrund steht ein Schuppen für das Holz. Zwischen diesem Schuppen und dem Küchenfenster ist ein Speisebehälter angebracht, unter dem das Spülwasser aus der Küche abfließt. Der Hof hat eine kleine Tür, die auf die Rue Neuve-Ste-Geneviève geht und durch die die Köchin die Speisereste auf die Straße befördert, wenn sie unter großem Wasseraufwand die Gosse, die sonst die Pestilenz verbreiten würde, sauber macht.

      Das Erdgeschoß, das seiner Lage nach natürlich vor allem für den Pensionsbetrieb in Frage kommt, besteht aus einem Vorzimmer, das von zwei Fenstern erhellt

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