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»Das ist nun mein Vater«, dachte er. »Von ihm habe ich das Leben empfangen; das Fleisch auf meinen Knochen ist sein Fleisch, das Brot, das ich esse, ist der Lohn dieser Scheußlichkeiten.« Er gedachte seiner Mutter und trommelte mit der Stirn gegen den Boden. Er dachte an Flucht und an ein neues Leben. Wohin sollte er wohl fliehen? Und gab es überhaupt ein Leben, des Lebens wert, in dieser Höhle blutrünstiger, schadenfroher Tiere?

      Die Zeit bis zur Hinrichtung verging ihm wie ein quälender Traum. Er kam mit seinem Vater zusammen, allein er konnte ihn nicht ansehen, er brachte es nicht über sich, mit ihm zu sprechen. Man hätte glauben können, jedes lebende Wesen müsse unverzüglich diese schwelende Feindschaft empfinden, aber des Lord Oberrichters Fell blieb unverletzt. Wäre Mylord zum Sprechen aufgelegt gewesen, der Waffenstillstand hätte niemals dauern können; aber zum Glück befand er sich gerade in einer seiner Launen sauertöpfischen Schweigens, und so nährte Archie die Begeisterungsflamme der Rebellion unter den Breitseiten des Feindes selbst. Ihn dünkte es von der Höhe seiner neunzehnjährigen Erfahrung herab, als sei er von Geburt aus dazu bestimmt, Träger irgendeiner großen Tat zu werden, die am Boden liegende Barmherzigkeit neu aufzurichten und den Teufel samt Hörnern und Klauen, der ihren Thron usurpiert, zu stürzen. Verführerische, jakobitische Trugschlüsse, die er im Speculative Club häufig widerlegt, tauchten vor seinem geistigen Auge auf und erschreckten ihn mit ihren Stimmen; und es war ihm, als wandle er in Begleitung einer fast greifbaren Gegenwart neuer Grundsätze und Pflichten einher.

      An dem betreffenden Morgen begab er sich an den Ort der Hinrichtung. Er sah den grinsenden Pöbel, sah die Vorführung des zitternden Verbrechers. Eine Weile war er Zeuge einer Art parodistischer Andachtsübung, die dem bejammernswerten Geschöpf noch seinen letzten Anspruch auf Menschentum zu rauben schien. Dann folgte der brutale Akt der Vernichtung und das armselige Zappeln der Überreste gleich denen eines zerbrochenen Hampelmannes. Er war auf etwas Furchtbares gefaßt gewesen, nicht auf dieses Schauspiel tragischer Gemeinheit. Einen Augenblick verharrte er in seinem Schweigen, dann brüllte er: »Ich verdamme dies als einen gotteswidrigen Mord!«, und sein Vater, der zwar den Inhalt jenes Ausrufs zurückgewiesen haben würde, hätte doch die Stentorstimme, mit der dieser vorgebracht wurde, schwerlich verleugnen können.

      Frank Innes schleppte ihn mit Gewalt hinweg. Die beiden hübschen jungen Burschen folgten demselben Studium und den gleichen Vergnügungen und fühlten sich, hauptsächlich durch ihr gutes Aussehen, zueinander hingezogen. Dieses Gefühl ging jedoch niemals tief; Frank war von Natur ein schmächtiges, zynisches Geschöpf, weder fähig, Freundschaft zu empfinden noch einzuflößen, und die Beziehungen zwischen den beiden waren rein oberflächlich und wurzelten in gemeinsamen Kenntnissen sowie in den Annehmlichkeiten, die einem gemeinsamen Bekanntenkreise entspringen. Um so anerkennenswerter war es von Frank, daß er sich über Archies Ausbruch ehrlich entsetzte und zum mindesten den Vorsatz faßte, ihn tagsüber im Auge und, wenn möglich, unter seiner Zucht zu behalten. Aber Archie, der soeben Gott oder dem Satan – es war unklar, welchem von beiden – getrotzt hatte, wollte auf das Wort eines Studiengenossen nicht hören.

      »Ich werde nicht mit Ihnen gehen«, sagte er. »Ich wünsche Ihre Begleitung nicht, Herr; ich will allein sein.«

      »Weir, Mensch, machen Sie sich nicht lächerlich«, sagte Innes und hielt ihn hartnäckig am Ärmel fest. »Ich lasse Sie nicht fort, bis ich nicht weiß, was Sie vorhaben; es hat gar keinen Zweck, derart mit dem Stocke herumzufuchteln.« Im Augenblick hatte Archie tatsächlich eine rasche, vielleicht sogar kampflustige Bewegung gemacht. »Das hier war kompletter Wahnsinn; Sie wissen es selber ganz genau. Sie wissen genau, daß ich jetzt lediglich den barmherzigen Samariter spiele. Ich will ja nichts weiter, als daß Sie sich beruhigen.«

      »Wenn das alles ist, Mr. Innes«, entgegnete Archie, »und Sie mir versprechen, mich in Ruhe zu lassen, kann ich Ihnen das eine verraten: Es ist meine Absicht, aufs Land zu gehen und die Schönheiten der Natur zu bewundern.«

      »Ehrenwort?« forschte Frank.

      »Ich pflege nicht zu lügen, Mr. Innes«, lautete Archies Erwiderung. »Ich habe die Ehre, Ihnen einen guten Tag zu wünschen.«

      »Sie werden doch nicht vergessen, in den Speculative Club zu kommen?«

      »Den Speculative Club? O nein, ich werde es nicht vergessen.«

      Und der junge Mann trug seinen gefolterten Geist hinaus aus der Stadt wegauf, wegab, einen ganzen Tag lang, auf eine endlose Pilgerfahrt der Qual, während der andere sich lächelnd beeilte, die Nachricht von Weirs Wahnsinnsanfall zu verbreiten und auf den Abend hin den ganzen Speculative Club zusammenzutrommeln mit der Mitteilung, daß weitere exzentrische Entwicklungen mit Gewißheit zu erwarten ständen. Es ist zu bezweifeln, ob Innes selbst ernstlich an seine Voraussage glaubte; wahrscheinlich entsprang diese vor allem dem Wunsche, eine gute Geschichte auszuschmücken und den Skandal so groß wie möglich zu machen, und das nicht etwa aus bösem Willen gegen Archie, sondern lediglich, um den Kreis gespannter Gesichter zu sehen. Trotzdem waren seine Worte prophetisch. Archie vergaß den Club nicht; er war pünktlich zur Stelle und hatte vor Ablauf des Abends seinen Kameraden einen denkwürdigen Schock versetzt. Zufällig führte er an jenem Abend den Vorsitz. Er saß in dem nämlichen Zimmer, in dem auch heute noch der Club tagt – nur waren die jetzigen Porträts noch nicht vorhanden: die Männer, die für sie saßen, standen damals noch an den Anfängen ihrer Laufbahn. Aber die nämliche Lichtflut zahlreicher Kerzen umspielte die Versammlung; ja, vielleicht saß Archie in dem gleichen Sessel, auf dem seither so viele von uns gesessen. Zeitweilig schien er die Geschäfte des Abends ganz zu vergessen; aber auch in diesen Momenten zeigte sein Ausdruck trotzige Energie und Entschlossenheit. Dann wieder griff er bitter und unberufen in die Debatten ein und erhob mit herausfordernder Miene Geldbußen, welche die kostbare und selten benutzte Artillerie des Vorsitzenden bilden. Schwerlich ahnte er, wie sehr er dabei seinem Vater glich und daß seine Freunde darüber kichernd ihre Bemerkungen machten. Bislang schien er dort auf seinem erhöhten Sitze über die Möglichkeit eines Skandals erhaben; aber er hatte seinen Beschluß gefaßt – er war fest entschlossen, sein Vergehen bis in dessen letzte Konsequenzen zu verfolgen. Durch ein Zeichen berief er Innes (den er soeben gestraft hatte und der gegen seine Art, den Vorsitz zu führen, protestierte) auf den Präsidentenstuhl, trat von dem Katheder herunter und nahm seinen Platz neben dem Kamin ein, wo der Glanz vieler Wachskerzen sein bleiches Gesicht erhellte und die rote Glut des Feuers die Umrisse seiner schlanken Gestalt klar abzeichnete. Als Amendment zu dem nächsten auf der Liste stehenden Gegenstande hatte er Folgendes vorzuschlagen: »Ist die Todesstrafe mit Gottes allmächtigem Willen und menschlicher Politik vereinbar?«

      Ein Hauch von Verlegenheit, ein Schauer des Erschreckens wehte durch den Raum, so tollkühn erschienen diese Worte auf den Lippen von Hermistons einzigem Sohne. Allein der Vorschlag gewann keine weiteren Stimmen; der vorhergehende Antrag wurde prompt eingebracht und einstimmig angenommen, und der momentane Skandal stahl sich zur Hintertür hinaus. Innes brüstete sich mit der Erfüllung seiner Prophezeiung. Er und Archie waren jetzt die Helden des Abends geworden; während sich jedoch Innes nach Schluß der Versammlung von allen umdrängt sah, trat nur ein einziger von seinen Gefährten an Archie heran.

      »Mensch, Weir, das war aber ein kolossal merkwürdiger Angriff von Ihnen!« bemerkte dieses tapfere Mitglied und nahm im Hinausgehen vertraulich Archies Arm.

      »Ich glaube, es war gar kein Angriff«, meinte Archie grimmig. »Eher Krieg bis aufs Messer. Ich war heute morgen dabei, als der arme Teufel gehenkt wurde, und mir steigt jetzt noch der Ekel hoch.«

      »Pah, pah«, entgegnete sein Gefährte und ließ, als hätte er heißes Eisen berührt, den Arm fallen, um die weniger heikle Gesellschaft anderer aufzusuchen. Archie sah sich allein. Der letzte der Getreuen – oder war es nur der kühnste der Neugierigen – war geflohen. Er sah die gedrängte Schar seiner Mitstudenten sich in flüsternde oder lärmende Gruppen auflösen und in der Dunkelheit nach verschiedenen Richtungen auseinandergehen, und seine momentane Verlassenheit lastete auf ihm wie ein Omen und Symbol seines Schicksals im Leben. Erzogen wie er war, in ständiger Furcht, inmitten zitternder Dienstboten, in einem Hause, das bereits bei der leisesten Verschärfung von des Herrn Stimme in schauderndes Schweigen versank, sah er sich jetzt am Rande des blutroten Tals des Krieges und maß dessen Länge und Gefahr mit eingeschüchtertem Blick. Er machte durch Licht und Dunkel

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