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Karwendelwände sehr brüchig seien. Wir sind daher vorher an der Mitzi-Langer-Wand im Wienerwald nur im linken Wandteil geklettert, der so brüchig ist, dass man bloß einmal husten muss und schon gibt’s Steinschlag. Man hielt uns für verrückt, weil wir für diesen Bruchhaufen Karwendel Bruchklettern übten, wo es doch so viele andere Wände mit festem Fels gibt. Lois lächelte dabei nur still wie einer, der von einem großen Schatz weiß.

      Doch unser Klettern an der Bruchwand im Wienerwald hatte sich gelohnt: Wir hatten in der Lalidererwand das Gefühl, in eisenfestem Fels zu klettern.

      Gegen Mittag hatten wir die schwerere Hälfte der Wand unter uns. Kurze Rast. Unser Tourenproviant: ein Stück Brot.

      Und dann wurde die Luft plötzlich warm und schwer. Auch unsere Stimmen klangen auf einmal ganz anders. Nebel fiel wie ein Wasserfall die Wand herab, hüllte uns ein und alles wurde grau. Ein dumpfes Grollen war zu hören ...

      Dann geschah alles so schnell.

      Klatschend schlugen schwere Tropfen auf den Fels, die bald zu Hagelkörnern wurden, und es dauerte nimmer lang und wir standen in einem wüsten Schneesturm. Noch glaubten wir, dass der ganze Zauber nur ein vorüberziehendes Gewitter sei. Es war aber der Beginn eines Schlechtwettereinbruchs.

      So begann das größte Abenteuer meines Lebens. Heute gibt es Abenteuerschulen, können Abenteuerreisen und Abenteuerurlaube gebucht werden. In Wirklichkeit spürt man bei einem echten Abenteuer gar nicht, dass man ein Abenteuer erlebt.

      Im Nebel und Schneetreiben sahen wir höchstens zwei Meter Fels über uns. Sozusagen im Blindflug kletterten wir so lange höher, bis mächtige Überhänge den Weiterweg sperrten. Ich erinnerte mich an die Routenskizze: Unterhalb der Überhänge führte der Weiterweg nach links.

      Ein 40 Meter langer Quergang, den ich machte, wurde dann eindeutig zur allergrauslichsten Kletterstelle meines Lebens: moos- und sandbedeckte Felsen, auf denen außerdem Neuschnee lag. Lois wollte diesen Quergang barfuß klettern. Wir alle waren nach dem Krieg Barfußkletterer, Kletterschuhe waren Mangelware. Auf unseren Hausbergen kletterten wir immer barfuß, nur in hochalpinen Wänden benützten wir die kostbaren Kletterschuhe. Deren Filzsohlen (Manchon) waren aber sehr rutschfreudig, schwere Kletterstellen kletterten wir lieber barfuß. (Noch 1951 hatte Leo Seitelberger auch die zweite Solobegehung der Großen-Zinne-Nordwand barfuß gemacht.)

      Langsam kam Loisl nach. Ich sah ihn nicht in dem Nebel und Schneetreiben, ich hörte nur sein Fluchen ... und plötzlich einen lauten Schrei!

      Mit klammen Fingern hatte Lois die Kletterschuhe mit den Socken darin ans Seil gebunden. Mitten im Quergang löste sich der Knoten und die Schuhe verschwanden lautlos in der Tiefe.

      Lois stand barfuß in einer neuschneebedeckten Wand.

      Finster war es geworden. Ein nur 20 Zentimeter breites Felsband wurde unser Biwakplatz. An zwei Mauerhaken gebunden, mussten wir stehend die Nacht verbringen. Den Biwaksack hatten wir übergestülpt, in den Kletterrucksack steckte Lois seine Füße. Am Morgen lagen auf unserem Band 20 Zentimeter Schnee. Und aus dem Schneetreiben war ein Schneesturm geworden. Noch etwa 200 Höhenmeter Fels gab es über uns. Wenn wir wieder lebend aus der Wand herauskommen wollten, mussten wir sie erklettern. Es gab keine andere Möglichkeit. Bis jemand von der Hütte nach Scharnitz gelaufen wäre und Bergretter sich gesammelt und bis sie uns endlich in der verschneiten Wand erreicht hätten, wären wir längst erfroren gewesen. Lois sagte: »I geh, solange es meine Haxen aushalten!«

      Hoch lag der Schnee auf den Felsen, vereist war der Fels darunter. Ich versuchte die Tritte für Lois halbwegs vom Schnee freizumachen. Sicht gab es nur auf zwei, drei Meter. Oft musste ich wieder abklettern, um glatten oder überhängenden Stellen auszuweichen. Ich kletterte wie in Trance ... die Finger fanden wie von allein die richtigen Griffe, die Beine die Tritte. Damals war ich klettersüchtig. Jedes Wochenende war ich in Wänden unterwegs, während der Woche fuhr ich sehr oft nach der Arbeit zu den kleinen Felsen im Wienerwald. Klettern, klettern, klettern! Ich kletterte auch bei Regen, ich kletterte noch im Dezember, ich kletterte schon wieder im Jänner. Heute glaube ich, dass wir dieser Klettersucht unser Überleben in der verschneiten Lalidererwand verdankten.

      Auf den Standplätzen stellte Lois seine blutig aufgerissenen Füße in den Kletterrucksack, unterwegs hatte er sie mit Taschentüchern umwickelt. Sie hinterließen eine blutige Spur im Schnee. Lois sagte: »Jetzt ist der Weg durch die Lalidererwand sogar rot markiert!«

      Zuletzt hatten wir auch noch auf eine Standplatzsicherung mit Mauerhaken verzichten müssen. Lois hatte einige der geschlagenen Standhaken stecken lassen müssen, weil seine Kräfte zum Wiederherausschlagen zu schwach waren. Bald war auch der letzte unserer Haken dahin ...

      »Was is, wennst jetzt fliegst?«, fragte Loisl.

      »Das darf i jetzt nimmer!«, sagte ich. Und das hatte ich damals wirklich so gemeint.

      Um vier Uhr Nachmittag stiegen wir aus der Wand. Bis zum Knie standen wir im Neuschnee. Mit dem Taschenmesser schnitt Lois den gefrorenen Seilknoten ab und sagte: »Jetzt graust mir vorm Klettern!«

      Stumm schauten wir in die Tiefe, wo der fallende Schnee unsere letzten Schritte in der Wand immer mehr zudeckte.

      Vom Ausstieg aus der Wand bis hinab ins Tal (ins Rossloch und zur Kastenalpe) mussten wir an die 1000 Höhenmeter absteigen. Absteigen?

      Wir quälten uns durch die Schneemassen. Steilstellen rutschten wir auf dem Hintern runter – dabei mussten wir aber verdammt gut aufpassen, denn wir waren noch im felsdurchsetzten Gelände. Wo der richtige Weg verlief, wussten wir nicht. Nur hinunter wollten wir, hinunter. Dabei wurden die Füße von Lois immer mehr zu blutigen Fleischklumpen.

      Und dann kamen wir zu den Schafen.

      Es war schon nahe dem Talgrund. Die Schneeflocken waren zu dicken Wassertropfen geworden und wir sahen andere Farben als Weiß und Grau. Plötzlich Glockengebimmel ... und schon waren wir umringt von einer Schafherde. »Jetzt san wir nimmer allein!«, sagte Lois.

      Wir fühlten uns dem Leben wiedergegeben und geborgen inmitten der struppigen Schafleiber. Ein wundersames Gefühl war’s, das ich bis heute nicht vergessen habe.

      Ein wundersames Gefühl war’s auch, als wir den Talgrund erreicht hatten und wieder auf einem Weg standen, auf einem breiten Weg. Oberhalb von dem Weg sah Lois eine Hütte. In ihr wollte er auf Hilfe warten, ich lief weiter, um Hilfe zu holen. Doch die Hütte war versperrt. Unter ihrem Vordach rastete Lois eine Weile, dann wurde ihm zu kalt und er tappte und kroch zuletzt auf allen vieren in finsterer Nacht weiter. So traf ihn am nächsten Morgen das Rettungsauto, das ihn dann nach Innsbruck ins Spital brachte.

      Als wir Loisl im Spital aufsuchten, steckten seine Füße in dicken Verbänden. Sie waren von tiefen Fleischwunden zerrissen; die Zehen waren zwar angefroren, aber er konnte sie alle behalten. »Und die Lalidererwand kann uns zwei auch niemand mehr wegnehmen!«, sagte er.

      Es dauerte einige Zeit, bis Lois wieder gehfähig war. Klettern ist er nicht mehr gegangen.

      Jahre später an einem Vormittag rief mich seine Zimmervermieterin an und sagte, dass Lois an diesem Nachmittag sein Begräbnis hätte.

      Ich versuchte noch einige Spezln von dem Donnerstagabend-Treffen beim Loisl zu verständigen. Erreicht habe ich nur den Moravec Fritzl – und der flog am späten Nachmittag wieder einmal in den Himalaya. Jede Minute bis dahin hatte er schon verplant.

      Nur wenige Leute standen an Loisls Grab. Ein Funktionär von der kommunistischen Partei hielt eine kleine Ansprache. Und dann kam der Moravec Fritzl den Berg heraufgerannt ...

      »Dem Loisl muss i noch Servus sagen ... der war doch ein Stück unserer Jugend!«, keuchte er und rannte gleich wieder zu dem wartenden Taxi hinunter.

      1947 – ein Jahr nach dem Lalidererwand-Abenteuer – war ich wieder im Karwendel. 1946 hatte Hias Rebitsch seine Direkte Lalidererspitze-Nordwand in zwei Etappen durchklettert, einmal die untere und dann die obere Wandhälfte. An einer Durchsteigung der Wand in einem Durchgang war er nicht mehr interessiert. Ich schon. Doch Hermann Buhl machte sie eine Woche vorher. Mit Hansl Hausner gelang mir dann die dritte Begehung.

      Hermann

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