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sagen. Es wird Zeit, dass das mal einer tut!«

      »Ich begreife das alles nicht«, gab Sarah da leise und bekümmert zu. »Keiner scheint meinen Bruder zu vermissen. Und niemand macht sich Sorgen um ihn. Schließlich könnte ihm doch auch etwas zugestoßen sein …«

      Annabell lachte trocken auf. »Du kennst doch sicher den Spruch, dass es schlechten Menschen immer gut geht. Tut mir leid, Kindchen, wenn ich dir das so offen ins Gesicht sagen muss. Aber dieser Spruch trifft auf deinen Bruder zu. In den letzten Monaten war er nur ganz selten daheim. Meist ist er unterwegs gewesen und kam hierher, wenn ihm das Geld ausgegangen war. Ach, es war ein Trauerspiel! Wie die Missis aufgelebt ist, wenn er da war. Und dann ist sie wieder ganz still und unglücklich gewesen, sobald er die Insel verlassen hat. Ich sage dir, Sarah, dein Bruder hat sie auf dem Gewissen. Er hat ihr das Herz gebrochen, das hat er!«

      Sarah sagte dazu nichts. Sie hielt Annabells etwas pathetische Rede zwar für überzogen, aber sie wusste leider zu gut, dass die Köchin im Grunde genommen recht hatte. Und auch sie brannte darauf, ihren Bruder wieder zu sehen, um ihm einmal ganz offen die Meinung zu sagen. Früher war das kaum möglich gewesen, da hatte Tante Alice ihre schützende Hand stets über ihn gehalten, egal, was er wieder verbrochen hatte. Doch das war ein für alle Mal vorbei. David musste nun für sich selbst einstehen.

      *

      Dr. James Lancaster kam zum Diner nach Harper-Island und begrüßte Sarah freundlich. Er war ein attraktiver Mann, groß und schlank, mit einem markant männlichen Gesicht, dichtem, dunkelblondem Haar und tiefgründigen blauen Augen. Doch etwas an ihm war Sarah auf Anhieb unsympathisch, auch wenn sie es nicht mit Worten benennen konnte. Es war eine spontane Abneigung, für die es wohl keine sachlichen Gründe gab. Eine Gefühlsregung eben. Und die nahm die junge Ärztin nicht allzu ernst.

      Sie begegnete dem Kollegen, den sie auf Anfang vierzig schätzte, auf die gleiche Art, wie er sich ihr gegenüber gab. Rasch fanden sich einige Gesprächsthemen, die sie beide als Berufskollegen interessierten, und so entspann sich während des Essens ohne Zögern eine unverkrampfte Unterhaltung. Beim Kaffee kam Sarah dann aber auf weniger erfreuliche Dinge zu sprechen, die sie jedoch geklärt wissen wollte.

      »Haben Sie Kontakt zu meinem Bruder, Dr. Lancaster? Ich kann ihn nämlich nicht erreichen. Annabell sagte mir, dass er wohl auf Reisen sei, sie wusste auch nichts Genaues. Ich möchte aber auf jeden Fall noch vor der Beisetzung mit David reden.«

      Der Mediziner hob die Schultern. »Es tut mir leid, aber ich weiß auch nicht, wo er steckt.«

      »Kennen Sie meinen Bruder denn näher? Oder gab es da keinen Kontakt? Verstehen Sie mich nicht falsch, ich versuche nur zu begreifen, was sich in den vergangenen beiden Jahren hier abgespielt hat. David ist kein zuverlässiger Mensch, niemand, auf den ich mich verlassen würde, wenn ich krank wäre. Ich nehme deshalb an, dass meine Großtante sich eher an Sie gewandt hat, wenn sie Kummer hatte oder es ihr nicht gut ging.«

      Der Mediziner nickte. »Ja, das stimmt schon in gewisser Weise. Wie ich Ihnen ja bereits am Telefon gesagt habe, ist das Verhältnis eines Landarztes zu seinen Patienten grundsätzlich verschieden von dem Arzt-Patient-Verhältnis in der Stadt oder gar in einer Klinik. Ihre Großtante hat oft mit mir über ihren Kummer und ihre Ängste gesprochen. Und dazu zählte auch die Sorge, was aus David werden sollte, wenn sie starb.«

      »Und was hat mein Bruder dazu gesagt, dass sie sich Ihnen so freimütig anvertraut hat?« Sarah wurde den Eindruck nicht los, dass Dr. Lancaster sich in Dinge eingemischt hatte, die ihn eigentlich nichts angingen und über das Maß von normaler Anteilnahme hinausführten.

      Er schien ihre Vorbehalte zu spüren, denn er erklärte nun offen: »Ich kannte Ihren Bruder nur flüchtig. In der Zeit, in der Ihre Großtante meine Patientin war, habe ich ihn vielleicht drei oder vier Mal gesehen. Er kam sozusagen immer nur auf Stippvisite, schien auf gepackten Koffern zu sitzen. Ich nahm zunächst an, dass diese Besuche aus einem Pflichtgefühl heraus stattfanden, er sich hier aber nicht wirklich wohl fühlte. Später vertraute Mrs. Tumbrill mir dann an, dass David sie nur besuche, wenn er Geld brauchte. Er lebte offenbar auf großem Fuß und spielte auch gerne im Kasino. Ich erinnere mich noch gut daran, wie oft Ihre Großtante sagte: »Wenn David nur endlich erwachsen werden würde. Auch meine Rücklagen sind nicht unerschöpflich.«. Doch sie schien ihm nichts abschlagen zu können. Er musste sie nur um etwas bitten und bekam es.«

      Sarah bemerkte einen harten Glanz in den Augen des Kollegen, der jedoch gleich verschwand, als sich ihre Blicke trafen.

      »Wann war mein Bruder denn zum letzten Mal hier?«

      »Nun, da muss ich überlegen. Das ist erst ein paar Wochen her. Er blieb aber nur zwei Tage, glaube ich. Und er war wütend, als er wieder abreiste.«

      »Woher wissen Sie das?«, wunderte sie sich.

      »Es war Zufall, dass ich ein Gespräch zwischen ihm und Mrs. Tumbrill mit anhörte. Er warf ihr Geiz vor, sie nannte ihn einen leichtsinnigen Menschen ohne Verantwortungsgefühl. Ich habe mich im Hintergrund gehalten, denn ich wollte nicht in den Verdacht geraten, zu schnüffeln. Das wäre mir wirklich peinlich gewesen.«

      Sarah musterte den Mediziner nachdenklich. Sie hatte nie erlebt, dass David und Tante Alice gestritten hatten. Doch wie hatte Dick Jones gesagt? »Die Dinge hier haben sich geändert. Und nicht zum Guten.«

      »Ich würde jetzt gerne mit Ihnen über die Beisetzung reden«, sagte James Lancaster in Sarahs Gedanken hinein.

      Sie nickte. »Tante Alice wird in der Familiengruft beigesetzt, wo schon Onkel Gregory ruht«, sagte sie automatisch.

      »Ja, der Pfarrer wird kommen und eine Predigt halten, so wollte sie es. Und das Personal geht geschlossen zur Beisetzung. Wenn Sie vielleicht noch ein paar Worte sprechen wollen …«

      »Nein, das wird nicht nötig sein. Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Herr Kollege. Und dafür, dass Sie sich hier um alles gekümmert haben.«

      »Das war doch selbstverständlich. Ich nehme an, Sie werden morgen nach der Beerdigung gleich wieder nach London fahren.«

      Sarah bemerkte nicht den verschlagenen Ausdruck, der in seine Augen trat, als er auf ihre Antwort wartete.

      »Nein, ich bleibe ein paar Tage. Ich möchte auf David warten. Und ich werde den Nachlass regeln. Tante Alice hat mich schon vor Jahren über alles informiert.«

      Dr. Lancaster lächelte bemüht. »So, nun, dann bleibt mir ja hier nichts mehr zu tun. Sollten Sie aber meine Hilfe oder meinen Rat benötigen, zögern Sie bitte nicht und rufen Sie mich an. Ich bin immer für Sie da.«

      »Das ist nett von Ihnen.« Sarah nahm die Visitenkarte, die er ihr reichte.

      Schon wenig später verabschiedete James Lancaster sich. Sarah begleitete ihn noch hinaus, dann ging sie auf ihr Zimmer, denn sie spürte nun die Müdigkeit eines langen Tages voller Eindrücke. Sie duschte und legte sich in ihr altes Bett, das sich sogleich wieder vertraut anfühlte. Kaum war sie eingeschlafen, begannen aber die Albträume. Und diesmal war es schlimmer als jemals zuvor …

      Sarah hetzte im Traum über das Moor. Ein unheimlicher Verfolger war ihr dicht auf den Fersen. Todesangst trieb sie an, denn sie wusste, dass es aus war, wenn er sie erreichte. Er würde keine Gnade kennen und niemand würde ihre Todesschreie hören. Dann trat sie plötzlich ins Leere. Ihr rechtes Bein versank in einem Moorloch. Ein Ruck ging durch ihren schlanken Körper, als sie bis zur Hüfte im Morast unterging. Sie wollte schreien, doch der Schock, den der eiskalte Schlamm ihr versetzte, war lähmend. Schwer atmend versuchte sie, sich zu befreien. Sie grabschte nach einem nahen, niedrigen Busch, aber das spröde Holz brach. Durch die hektische Bewegung wurde Sarah nur tiefer ins Moor gedrückt. Nun stand ihr der Morast bereits bis zu den Schultern. Sie schluchzte verzweifelt auf. Tränen liefen über ihre Wangen, Verzweiflung und Todesangst in nie gekanntem Ausmaß schüttelten sie.

      Hatte sie aber geglaubt, das Schlimmste zu durchleiden, was möglich war, sie wurde eines weitaus Schlechteren belehrt.

      Im nächsten Moment klang ein Ruf an ihr Ohr. Wie das leise Echo einer Stimme, die sie gut kannte.

      »Sarah!«

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