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Читать онлайн.»Eine nette Idee. Wenn Sie gegen zehn hier sein können, frühstücken wir noch zusammen«, schlug Sarah vor.
Dr. Lancaster war einverstanden. Als er sich wenig später verabschiedete, lächelte er ihr warm zu und versicherte: »Ich freue mich schon auf morgen!«
Sarah blieb in der offenen Tür stehen und blickte ihrem Besucher nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Als sie sich umdrehte, bemerkte sie Dick Jones. Er stand vor dem Pferdestall und starrte mit düsterer Miene zu ihr herüber. Im ersten Impuls wollte sie mit ihm reden, entschied sich dann aber doch anders. Er hatte sie am Morgen abfahren lassen, war ziemlich unfreundlich und wenig hilfsbereit gewesen, im Gegensatz zu James Lancaster. Sie hatte keine Lust, wieder düstere Andeutungen von ihm zu hören, auf die niemand sich wirklich einen Reim machen konnte. Deshalb ignorierte sie ihn und ging zurück ins Haus.
Später in dieser Nacht wurde Sarah von Geräuschen geweckt.
Sie hatte tief und fest geschlafen und brauchte eine Weile, um wach zu werden. Dann lag sie benommen da und fragte sich, was sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es auf vier zuging. Und im Haus war es absolut still.
Seit die junge Ärztin sich auf Harper-Island aufhielt, war es mit ihrem sonst so ruhigen Schlaf vorbei. Ständig schreckte sie nachts auf oder hatte Albträume. Sie seufzte. Je eher David aufkreuzte und sie alles klären konnten, desto besser. Obwohl Sarah sich in ›Ivy-House‹ nach wie vor heimisch fühlte, sehnte sie sich mittlerweile doch nach ihrem normalen Leben in London zurück. Sie schloss die Augen und versuchte, wieder einzuschlafen, als sie etwas hörte. Es waren Schritte, und diesmal ganz nah. Fast hatte es den Anschein, als ginge da jemand vor ihrer Zimmertür über den Gang.
Als ihr das klar wurde, setzte sie sich auf und knipste das Licht an. Entschlossenheit blitzte aus Sarahs klaren, grauen Augen, als sie nach ihrem Morgenmantel griff. Sie hatte die Nase voll von seltsamen nächtlichen Wahrnehmungen! Sie wollte endlich wissen, was hier los war.
Ohne zu zögern verließ die junge Ärztin ihr Schlafzimmer und trat auf den Gang. Hier und da brannte eine Lampe, doch der Großteil der Freitreppe und der Halle lagen im Dunkel.
Sarah schaltete das Licht ein und ging nach unten. Niemand ließ sich blicken. Außer ihr schliefen noch Annabell und Butler Niles im Haupthaus. Alle anderen Angestellten wohnten im so genannten Personalhaus. Sarah dachte kurz daran, Niles zu wecken, aber dann erschien ihr das albern. Sie war schließlich eine erwachsene Frau und kein kleines Mädchen mehr, das im Dunkeln Angst hatte. Sie betrat den Wohnraum und hatte für den Bruchteil einer Sekunde den Eindruck, dass jemand vor den bodentiefen Fenstertüren stand. Deutlich malte sich eine Silhouette wie von einem großen, schlanken Mann ab. Aber als sie das Licht einschaltete, war niemand hier.
Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Offenbar hatte ihre Phantasie ihr einen Streich gespielt. Vermutlich hatte sie sich auch die Schritte eingebildet. Sarah beschloss, das Ganze zu vergessen und wieder ins Bett zu gehen. Sie betrat die Freitreppe, als sie die Schritte erneut hörte. Sie waren weiter entfernt und klangen seltsam patschend, so als laufe jemand über Morast oder durch große Pfützen.
Die junge Ärztin wusste nicht, was sie tun sollte. Während sie noch zögerte, erlosch in der Halle das Licht. Sarah stand einen Moment lang wie angewurzelt da. Die Schritte näherten sich ihr nun. Kälte wehte ihr entgegen und ein übler Geruch wie von Moder und Fäulnis. Sarah konnte nicht verhindern, dass sich auf ihrem Rücken eine Gänsehaut bildete. Sie war kein ängstlicher Typ, doch was sie hier erlebte, das war schon mehr als unheimlich.
Vorsichtig tastete sie sich am Treppengeländer nach oben. Die Schritte waren verstummt. Doch die junge Frau rutschte auf der zweiten Stufe aus und wäre gestürzt, hätte sie sich nicht am Geländer festgekrallt. Angst kroch in ihr hoch, verdichtete sich zu Panik. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Jemand, etwas schien hinter ihr her zu sein, sie zu verfolgen. Hastig stolperte sie die Treppe weiter hinauf und rannte dann, so schnell sie konnte, auf ihre Zimmertür zu. Kurz bevor sie ihr Ziel erreicht hatte, ging das Licht wieder an. Sarah war einen Moment lang geblendet und schloss die Augen.
Als sie sie wieder öffnete, hatte sie den Eindruck, sich mitten in einem ausgewachsenen Albtraum zu befinden. Nun begriff sie auch, wieso sie auf der zweiten Treppenstufe ausgerutscht war. Die gesamte Treppe und der Gang vor ihrem Zimmer waren mit einer dicken Spur aus modrigem Schlamm bedeckt. Es sah aus, als sei jemand mit schmutzigen Gummistiefeln immer und immer wieder hin und her gelaufen. Sarah hatte die Schritte gehört. Doch wer tat so etwas? Und wie kam der Eindringling ins Haus?
Die junge Frau zuckte zusammen, als ein kalter Hauch über ihren Nacken streifte. Und sie meinte, dass jemand ganz in ihrer Nähe ihren Namen flüsterte.
Das war zuviel für ihre Nerven. Mit einem verzweifelten Aufschrei stürzte sie in ihr Zimmer, knallte die Tür hinter sich zu und verriegelte sie. Um keinen Preis wollte sie in dieser Nacht ihr Zimmer noch einmal verlassen!
*
Am nächsten Morgen war von dem nächtlichen Spuk nichts mehr zu finden. Keine Spuren, kein Schmutz, kein seltsamer Geruch. Es war, als habe Sarah sich das alles nur eingebildet. Obwohl sie genau wusste, was sie gesehen hatte, schwieg sie deshalb und sprach mit niemandem über ihr unheimliches Erlebnis.
Dr. Lancaster erschien pünktlich zum Frühstück und war bester Laune. Dass Sarah ein wenig blass um die Nase war, schrieb er ihrer Trauer um die geliebte Großtante zu. Er ging behutsam auf sie ein und schaffte es auf seine einfühlsame Art, sie ein wenig abzulenken und ihre Laune zu bessern.
Als sie dann zusammen ausritten, hatte Sarah den nächtlichen Zwischenfall fast vergessen. Sie genoss den herrlichen Spätsommertag und es gefiel ihr, wie nett und aufgeräumt ihr Begleiter sich gab. Dick Jones’ finstere Blicke, als sie nach ›Ivy-House‹ zurückkehrten, versetzten ihr aber sogleich wieder einen Dämpfer.
»Sie sollten einen neuen Verwalter einstellen«, riet James Lancaster ihr, als sie zusammen Tee tranken.
Sarah bedachte ihn mit einem irritierten Blick und wollte wissen, wie er auf den Gedanken kam.
»Nun, Sie wissen, dass ich fast zwei Jahre lang täglich hier war. Und mir ist mehr als einmal aufgefallen, wie ungehobelt und unbeherrscht dieser Kerl ist. Er eignet sich überhaupt nicht als Verwalter. Ich glaube, Mrs. Tumbrill hat ihn nur behalten, weil schon sein Vater in ihren Diensten stand. Loyalität ist eine schöne Sache, doch man kann es auch übertreiben, finde ich.«
»Dick hat sich aber nichts zu Schulden kommen lassen«, gab Sarah zu bedenken. »Außerdem möchte ich hier nichts verändern, solange ich nicht mit meinem Bruder geredet habe.«
»Ich verstehe. Wussten Sie, dass Ihr Bruder und dieser Jones oft Zeit zusammen verbrachten? Ich glaube, Sie waren befreundet. Immer wenn David hier war, steckten sie ihre Köpfe zusammen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass dabei etwas Sinnvolles herausgekommen ist.«
»David mochte Dick, das war schon immer so. Aber befreundet waren sie früher eigentlich nicht.«
»Geben nicht zu viel auf das, was dieser Jones sagt. Falls Ihr Bruder sich etwas zu Schulden hat kommen lassen, wird Jones bestimmt seine Finger im Spiel haben.«
Sarah musste noch eine ganze Weile über das nachdenken, was Dr. Lancaster angedeutet hatte. Im Grunde ihres Herzens vertraute sie Dick nach wie vor. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Mediziner sie absichtlich belog. Warum auch? Er konnte doch gar kein Interesse daran haben, sie etwas Falsches glauben zu lassen.
Auch den Sonntag verbrachte Sarah mit James Lancaster.
Wieder verstanden sie sich gut und genossen beide die gemeinsame Zeit. Als der Kollege sich am Abend verabschiedete, deutete Sarah an, dass sie am nächsten Tag nach London zurückkehren wolle.
»Ich glaube, es hat keinen Sinn, wenn ich noch länger hierbleibe«, gab sie zu. »David hat sich bis jetzt nicht bei mir gemeldet. Es hat auch nicht den Anschein, als ob er in absehbarer Zeit nach Harper-Island zurückkehren will.