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den üblichen Gegenmitteln; ihr Mann aber stand starr in der Mitte des Zimmers und schüttelte trübe den gesenkten Kopf.

      »Du wirst dich erkälten, wenn du da stehen bleibst,« sagte sie.

      Herr Verloc gab sich einen Ruck, zog sich vollends aus und ging zu Bett. Tief unten in der ruhigen Gasse näherten sich gemessene Schritte dem Hause und verklangen wieder, fest und ohne Eile, als ob der, der da vorbeiging, sich vorgenommen hätte, in einer endlosen Nacht die Ewigkeit von Gaslampe zu Gaslampe zu durchmessen; und das schläfrige Ticken der alten Uhr im Stiegenhause war im Schlafzimmer deutlich zu hören.

      Frau Verloc, die auf dem Rücken lag und nach der Decke sah, machte eine Bemerkung.

      »Sehr kleine Einnahme heute.«

      Herr Verloc, in der gleichen Lage, räusperte sich wie zu einer wichtigen Feststellung, fragte aber dann nur:

      »Hast du das Gas unten abgedreht?«

      »Ja, das tat ich,« gab Frau Verloc zurück. »Der arme Junge ist heute abend recht aufgeregt«, murmelte sie nach einer Pause, die drei Pendelschläge der alten Uhr lang gedauert hatte.

      Herr Verloc kümmerte sich durchaus nicht um Stevies Aufregung, doch fühlte er sich elend wach und fürchtete sich vor der Finsternis und Stille, die dem Auslöschen der Lampe folgen mußten. Diese Furcht veranlaßte ihn zu der Bemerkung, daß Stevie seine Aufforderung, zu Bett zu gehen, nicht beachtet habe. Frau Verloc ging in die Falle und begann langatmige Erklärungen darüber, daß das nicht »Ungezogenheit«, sondern einfach »Aufregung« gewesen sei. Sie versicherte, daß es in ganz London keinen jungen Mann dieses Alters gäbe, der williger und gelehriger wäre als Stephan, auch keinen, der so zärtlich und gefällig und sogar so nützlich war, solange ihm nicht die Leute seinen armen Kopf verdrehten. Frau Verloc wandte sich ihrem zurücksinkenden Gatten zu, erhob sich selbst auf dem Ellenbogen und beugte sich über ihn, in dem ängstlichen Eifer, ihn davon zu überzeugen, daß Stevie ein nützliches Mitglied der Familie sei. Die Wärme dieses schirmenden Mitgefühls, das schon in den Tagen ihrer Kindheit durch den Anblick der Leiden eines anderen Kindes krankhaft übersteigert worden war, brachte eine leise Röte in ihre bleichen Wangen und Glanz in ihre großen Augen unter den dunklen Lidern. Frau Verloc sah verjüngt aus; sie sah so jung aus, wie die Winnie früherer Tage, und sehr viel lebhafter, als die Winnie der Belgravia-Pension es sich gestattet hätte, den Junggesellenmietern zu erscheinen. Herrn Verlocs Ängste hatten ihn gehindert, in den Worten seiner Frau irgendwelchen Sinn zu suchen. Für ihn war es, als käme ihre Stimme von der anderen Seite einer sehr dicken Mauer herüber. Erst ihr Anblick brachte ihn zur Besinnung.

      Er schätzte diese Frau, und das Bewußtsein dieser Wertschätzung, durch irgend etwas wie Gefühlserregung aufgerührt, steigerte noch sein inneres Angstgefühl. Als ihre Stimme verstummte, machte er eine Bewegung der Verlegenheit und sagte:

      »Ich habe mich schon die letzten Tage her nicht recht wohl gefühlt.«

      Das war vielleicht als die Eröffnung einer richtigen Beichte gedacht; Frau Verloc aber legte ihr Haupt wieder auf das Kissen, starrte zur Decke und fuhr fort:

      »Der Junge hört zu viel von dem, was da unten gesprochen wird. Hätte ich gewußt, daß die anderen heute abend kommen wollten, so hätte ich ihn mit mir zugleich zu Bett gehen lassen. Er war ganz außer sich über irgendeinen aufgeschnappten Satz von gegessenem Menschenfleisch und getrunkenem Blut. Was hat es für einen Wert, so zu reden?«

      »Frage Karl Yundt,« knurrte er wütig.

      Frau Verloc erklärte Karl Yundt mit größter Entschiedenheit für »einen ekelhaften alten Mann«, machte dagegen kein Geheimnis aus ihrer Zuneigung für Michaelis; über den athletischen Ossipon, in dessen Gegenwart sie hinter äußerlicher Zurückhaltung stets ein inneres Unbehagen verbarg, sagte sie gar nichts und fuhr fort, von ihrem Bruder zu sprechen, der durch so lange Jahre der Gegenstand ihrer Sorgen und Ängste gewesen war.

      »Das, was hier gesprochen wird, taugt nicht für ihn. Er nimmt alles für bare Münze. Er versteht es ja nicht besser, und dann steigert er sich in seine Anfälle hinein.«

      Herr Verloc schwieg dazu.

      »Er stierte mich an, als kennte er mich nicht mehr, als ich hinunter kam. Sein Herz schlug wie ein Hammer. Er kann ja nichts dafür, daß er so erregbar ist. Ich weckte Mutter auf und bat sie, bei ihm sitzen zu bleiben, bis er eingeschlafen wäre. Es ist nicht sein Fehler. Wenn man ihn sich selbst überläßt, fällt er wirklich niemandem lästig.«

      Herr Verloc schwieg dazu.

      »Ich wünschte, er wäre nie zur Schule gegangen«, hob Frau Verloc unversehens wieder an. »Jetzt holt er sich immer die Zeitungen aus dem Fenster zum Lesen. Er wird ganz rot im Gesicht, während er sie durchstudiert. Wir verkaufen ja kein Dutzend davon in einem Monat. Sie nehmen im Ladenfenster nur Platz weg, und Herr Ossipon bringt jede Woche einen Stoß der Z.P.-Flugblätter, die zu einem halben Penny das Stück verkauft werden sollen. Ich wollte keinen halben Penny für den ganzen Pack geben. Es ist lauter Unsinn – das ist es. Und das Zeug ist nicht zu verkaufen. Neulich erwischte Stevie eins von den Blättern, und da stand eine Geschichte von einem russischen Offizier darin, der einem Rekruten das Ohr halb abriß und straflos blieb. Das Vieh! An dem Nachmittag konnte ich mit Stevie gar nichts anfangen. Die Geschichte war ja darnach, um einem das Blut in Wallung zu bringen. Aber wozu braucht man solche Sachen zu drucken? Wir sind ja keine russischen Sklaven hier, Gott sei Dank. Es geht doch uns nichts an – oder?«

      Herr Verloc antwortete nicht.

      »Ich mußte dem Jungen das Vorlegemesser wegnehmen,« fuhr Frau Verloc, nun schon ein wenig schläfrig, fort, »er schrie, strampelte und schluchzte. Er verträgt es nicht, von irgendeiner Grausamkeit zu hören. Er hätte den Offizier sicherlich wie ein Schwein abgestochen, wenn er ihn gerade in die Finger bekommen hätte. Es ist ja auch wahr! Manche Leute verdienen keine Gnade.«

      Frau Verloc verstummte, und der Ausdruck ihrer bewegungslosen Augen wurde während der langen Pause mehr und mehr beschaulich und verschleiert. »Geht es dir nun besser, mein Lieber?«, fragte sie noch leise, wie von weither. »Kann ich jetzt das Licht ausdrehen?«

      Die trostlose Überzeugung, daß es keinen Schlaf für ihn gäbe, lähmte zugleich mit der Angst vor der Dunkelheit Herrn Verlocs Zunge und Glieder. Er nahm sich mit Gewalt zusammen.

      »Ja, lösche aus«, sagte er tonlos.

      IV

       Inhaltsverzeichnis

      Die meisten der kleinen Tische mit den weiß auf rotem Grund gemusterten Tüchern waren im rechten Winkel an die dunkelbraune Wandtäfelung der Kellerhalle gerückt. Von der niedrigen, leichtgewölbten Decke hingen vielarmige Bronzelüster; die fensterlosen Wände wiesen rundlaufende Fresken auf, die Jagdszenen und Gartenfeste in mittelalterlichen Kostümen darstellten, Knappen in grünen Wämsern schwangen Hirschfänger oder Pokale mit schäumendem Bier.

      »Wenn ich mich nicht sehr irre, so bist du der Mann, der Genaues über die leidige Geschichte wissen muß«, sagte der Kraftmensch Ossipon und lehnte sich mit weit gespreizten Ellenbogen über den Tisch, während er die Füße ganz unter den Sessel zurückgezogen hatte. Seine Augen blitzten vor unbezähmbarer Neugier.

      Ein mittelgroßes Piano neben der Tür, von zwei Topfpalmen flankiert, ließ plötzlich mit peinlicher Genauigkeit einen Walzer los. Der Lärm war betäubend. Als er so plötzlich, wie er begonnen hatte, abbrach, ließ sich das bebrillte, fadenscheinige Männchen, das Ossipon hinter einem schweren Bierhumpen gegenüber saß, in ruhigem Ton vernehmen – und es klang wie eine allgemeine Feststellung:

      »Grundsätzlich kann das, was einer von uns über eine gegebene Tatsache weiß oder nicht weiß, für die anderen kein Gegenstand der Nachforschung sein.«

      »Gewiß nicht«, stimmte Genosse Ossipon zu; »grundsätzlich.«

      Er hielt sein großes, blühendes Gesicht auf beide Hände gestützt und verwandte keinen Blick

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