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Gesammelte Werke von Joseph Conrad. Джозеф Конрад
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke von Joseph Conrad
Год выпуска 0
isbn 9788027204113
Автор произведения Джозеф Конрад
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Ich bekam den Posten – wie nicht anders zu erwarten; und überdies noch sehr schnell. Wie sich dann herausstellte, hatte die Gesellschaft die Nachricht bekommen, daß einer ihrer Kapitäne in einem Scharmützel mit den Eingeborenen getötet worden war. Das war mein Glück, und es machte mich noch versessener darauf, hinzugehen. Erst viele Monate später, bei dem Versuch, die Überreste des Leichnams zu retten, hörte ich, daß der ganze Streit durch ein Mißverständnis wegen einiger Hühner entstanden war. Jawohl, wegen zwei schwarzer Hennen. Fresleven – so hieß der Bursche, ein Däne – glaubte sich in dem Handel irgendwie benachteiligt, ging also an Land und begann den Häuptling des Dorfes mit einem Stocke durchzubläuen. Es überraschte mich nicht im geringsten, das zu hören und gleichzeitig auch die Versicherung zu erhalten, daß Fresleven das höflichste, ruhigste Geschöpf gewesen sei, das je auf zwei Beinen dahingegangen war. Das war ganz fraglos richtig; nur war er schon einige Jahre dort draußen gewesen, im Dienst der guten Sache, und hatte also wohl schließlich das Bedürfnis empfunden, vor sich selbst seine Selbstachtung auf irgendeine Weise zu bestätigen. Darum verprügelte er den alten Neger erbarmungslos, während eine große Menge Volkes wie betäubt zusah, schließlich führte ein Mann – der Sohn des Häuptlings, wie man mir sagte – in heller Verzweiflung über das Geschrei des Alten versuchsweise einen Speerstoß nach dem weißen Mann – und natürlich drang die Spitze ganz leicht zwischen den Schulterblättern ein. Dann verschwand die gesamte Bevölkerung in den Wald, in der Befürchtung alles erdenklichen Unheils, während andererseits der Dampfer, den Fresleven befehligt hatte, gleicherweise von Panik ergriffen, unter dem Befehl eines Ingenieurs abfuhr. Hinterher schien sich niemand um Freslevens sterbliche Reste sonderliche Gedanken zu machen, bis ich hinauskam und an seine Stelle trat. Ich konnte es nicht auf sich beruhen lassen; als sich mir aber endlich die Gelegenheit bot, mit meinem Vorgänger zusammenzutreffen, da war das Gras hoch genug durch seinen Körper gewachsen, um seine Knochen zu verbergen. Sie waren vollzählig da. Das übernatürliche Wesen war nach seinem Fall nicht mehr angerührt worden. Und das Dorf war verlassen, die Hütten gähnten schwarz, verfault, ganz windschief hinter den eingefallenen Zäunen. Ein Unheil war in der Tat über sie hereingebrochen. Die Einwohner waren verschwunden. Blindes Entsetzen hatte sie, Männer, Weiber und Kinder, durch den Busch gejagt, und sie waren nie wiedergekehrt. Was aus den Hennen geworden war, konnte ich auch nicht feststellen. Ich möchte aber glauben, daß sie der Sache des Fortschrittes anheimfielen. Doch so oder so, infolge dieser glorreichen Angelegenheit bekam ich meine Anstellung, bevor ich sie noch richtig zu erhoffen begonnen hatte.
Ich flog wie verrückt herum, um fertig zu werden, und noch vor Ablauf von achtundvierzig Stunden fuhr ich über den Kanal, um mich meinen Arbeitgebern vorzustellen und den Vertrag zu unterschreiben. Nach ganz wenigen Stunden kam ich in einer Stadt an, die mich immer an ein getünchtes Grab erinnert. Ein Vorurteil, ohne Frage. Ich hatte keine Schwierigkeiten, das Kontor der Gesellschaft zu finden. Es war die größte Unternehmung in der Stadt und ihr Name auf jedermanns Lippen. Die Leute waren eben dabei, ein überseeisches Reich zu errichten und im Handel ungeheuer viel Geld zu machen.
Eine enge, einsame Gasse im tiefen Schatten hoher Häuser, zahllose Fenster mit Jalousien, ein totes Schweigen, Gras zwischen den Pflasterfugen, mächtige Torbogen links und rechts, ungeheure zweiflügelige Tore, die wuchtig offen standen. Ich schlüpfte durch eines hinein, ging ein sauberes und schmuckloses Treppenhaus, kahl wie eine Wüste, hinauf und öffnete die erste Tür, an die ich kam. Zwei Frauen, die eine fett und die andere mager, saßen auf strohgeflochtenen Stühlen und strickten schwarze Wolle. Die schwarze stand auf und kam gerade auf mich zu – wobei sie immer noch mit niedergeschlagenen Augen weiterstrickte –, und erst als ich zu erwägen begann, ob ich ihr würde aus dem Wege gehen müssen wie einer Traumwandlerin, blieb sie stehen und sah auf. Ihr Gewand war schlicht wie der Überzug eines Regenschirmes; sie drehte ohne ein Wort um und ging mir in ein Wartezimmer voran. Ich nannte meinen Namen und sah mich um. Ein Tisch aus weichem Holz in der Mitte, einfache Stühle längs der Wand, an einem Ende eine leuchtende Landkarte, mit allen Farben des Regenbogens bemalt. Es gab viel Rot darauf – gut anzusehen, weil man weiß, daß dort nützliche Arbeit geleistet wird; verteufelt viel Blau, ein wenig Grün, ein paar Streifen Orange und, an der Ostküste einen Fleck Purpur. Doch ich wollte ja in keines davon. Ich würde ins Gelbe gehen. Gerade in den Mittelpunkt. Und auch der Strom war da, berückend, toddrohend, wie eine Schlange. Uff! Eine Tür ging auf, der weißhaarige Kopf eines Sekretärs mit dem Ausdruck unverkennbaren Mitleids erschien, und ein knochiger Zeigefinger winkte mich ins Heiligtum. Die Beleuchtung darin war düster. Ein wuchtiger Schreibtisch nahm die ganze Mitte ein. Hinter dem Prunkbau war in Umrissen eine bleiche, unförmige Leiblichkeit in einem Gehrock zu erkennen. Der große Mann in Person. Er war fast sechs Fuß hoch, glaube ich, und hielt die Hand auf vielen Millionen. Er schüttelte mir die Hand, murmelte etwas, schien mit meinem Französisch zufrieden. Bon voyage!
Nach etwa fünfundvierzig Sekunden fand ich mich wieder im Wartezimmer neben dem mitleidigen Sekretär, der mich voll fassungslosen Erbarmens ein Dokument unterschreiben ließ. Soviel ich weiß, verpflichtete ich mich darin unter anderem, keine Geschäftsgeheimnisse zu verraten. Nun gut. Ich habe auch nicht die Absicht.
Ich begann, mich ein wenig ungemütlich zu fühlen; ihr wißt ja, daß ich an solche feierliche Umstände nicht gewöhnt bin, und überdies lag etwas wie die Vorahnung von Unheil in der Luft. Es war, als hätte man mich in eine Verschwörung aufgenommen – wie soll ich sagen – in irgend etwas Unerlaubtes; und ich war froh, wieder herauszukommen. In dem Vorzimmer strickten die beiden Frauen fieberhaft schwarze Wolle. Leute kamen an, und die Jüngere ging hin und her, um sie einzulassen. Die Alte saß auf ihrem Stuhl fest. Ihre flachen Tuchpantoffel waren fest auf einen Fußwärmer gestemmt, und eine Katze ruhte in ihrem Schoß. Sie trug eine weiße gestärkte Sache auf ihrem Kopf, hatte eine Warze auf einer Wange und eine silbergefaßte Brille auf der Nasenspitze sitzen. Sie warf mir über die Gläser weg einen Blick zu. Die Seelenruhe in diesem flüchtigen und gleichgültigen Blick verwirrte mich. Zwei junge Leute von munterem und leicht närrischem Aussehen wurden eben vorbeigelotst, und auch ihnen warf sie den gleichen Blick zu, voll unbeteiligten Wissens. Sie schien alles über die beiden, wie auch über mich zu wissen. Ein unbehagliches Gefühl begann in mir aufzusteigen. Sie wirkte unheimlich und schicksalhaft. Oft dachte ich weit dort draußen an diese beiden, die die Tür zur Finsternis hüteten und schwarze Wolle dazu strickten wie für ein warmes Leichentuch; die eine ließ ein, ließ unaufhörlich ein ins Unbekannte, die andere prüfte die munteren, närrischen Gesichter mit ihren teilnahmslosen alten Augen. Ave! Alte Strickerin, mit deinem schwarzen Wollknäuel. Morituri te salutant! Nicht viele von ihnen, die sie so angeblickt hat, haben sie jemals wiedergesehen. – Lange nicht die Hälfte.
Es blieb noch der Besuch beim Arzt. ›Eine einfache Formsache‹, versicherte mir der Sekretär, immer noch mit einer Miene, als nähme er an allen meinen Sorgen ungeheuern Anteil. Danach tauchte ein junger Bursche, der seinen Hut schief über dem linken Auge trug, ein Beamter vermute ich – es müssen Beamte in dem Geschäft gewesen sein, obwohl das Haus still war, wie das einer Totenstadt – tauchte also auf, irgendwoher aus dem oberen Stock und führte mich hinaus. Er sah schäbig und vernachlässigt aus, mit Tintenflecken auf den Rockärmeln; seine Krawatte war breit und bauschte sich unter seinem Kinn, das wie die Kappe eines alten Stiefels geformt war. Es war noch zu früh für den Doktor, darum schlug ich vor, wir sollten eins trinken, und daraufhin wurde er gemütlich. Als wir bei unserem Wermut saßen, pries er die Geschäfte der Gesellschaft, und ich äußerte im weiteren Verlauf meine Verwunderung darüber, daß er nicht auch hinausginge. ›Ich bin nicht ganz so dumm, wie ich aussehe, sagte Plato