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      Heather musste lachen. »Sie meinen, hier passiert nicht viel. Und was hat Sie in diese einsame Gegend verschlagen?«

      »Nun, ich besuche meinen Onkel. Eigentlich lebe ich auch in London. Ich bin Anwalt und werde demnächst in eine Sozietät einsteigen. Vielleicht sagt Ihnen der Name Waterford-Langley etwas? Ich bin dort als Juniorpartner aufgenommen worden.« Er bemerkte, wie Heathers ebenmäßiges Gesicht sich beschattete. Eine tiefe Traurigkeit legte sich über ihren Blick und ließ ihre himmelblauen Augen dunkel werden. Betroffen fragte er: »Ist Ihnen nicht gut? Kann ich etwas für Sie tun?«

      »Nein, es liegt nicht an Ihnen. Ich … bitte entschuldigen Sie, aber die Erinnerung macht mir zu schaffen. Mein Vater war auch in dieser Kanzlei tätig. Ich habe meine Eltern erst kürzlich verloren. Sie waren Passagiere auf der Titanic.«

      »Ich bitte um Verzeihung für diese Taktlosigkeit.«

      »Aber nein, Sie konnten das ja nicht wissen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Es ist eine sehr renommierte Kanzlei. Sie müssen gute Beziehungen haben, Mr. Humbert.«

      »Oh ja, mein Onkel war da hilfreich. Ich konnte schon während des Studiums dort erste Erfahrungen sammeln. Sie vermissen London?«

      Heather schaute ihn überrascht an. »Wie kommen Sie darauf?«

      »Nun, ich kann es mir denken. Wenn man sein bisheriges Leben in der Stadt verbracht hat, ist es doch eine große Umstellung, hier heimisch zu werden.« Er zögerte kurz, bevor er noch hinzufügte: »Und vor allem bei den Hanleys. Ich wage mich wohl nicht zu weit hervor, wenn ich annehme, dass Sie nur sehr weitläufig mit ihnen verwandt sind.«

      »Es ist nicht ganz leicht«, gab Heather leise zu. Sie verspürte den Wunsch, offen zu Timothy zu sein, denn sie hatte spontan Zutrauen gefasst. Und es hätte ihr gut getan, sich einmal auszusprechen. Doch es gehörte sich wohl nicht, mit einem eigentlich Fremden über private Dinge zu reden. Sie hätte das zudem wie einen Verrat an den Hanleys empfunden, die sie trotz aller Differenzen in einer schweren Zeit aufgenommen hatten.

      Sie waren nebeneinander her spaziert und näherten sich nun dem Birkenhain. Heather sah eine Möglichkeit, das Thema zu wechseln.

      »Hat hier mal jemand gewohnt? Das Haus sieht verlassen aus.«

      Der junge Anwalt nickte. Er betrachtete sie versonnen von der Seite, wich dann aber dezent ihrem aufmerksamen Blick aus und erwiderte: »Ein Torfstecher namens Ted Tomkins. Er hat das Haus selbst gebaut, hat die Steine gehauen und alle Materialien hier aus dem Umgebung geholt. Ein fleißiger und sehr geschickter Mann.«

      »Was ist aus ihm geworden?«

      »Nun, er ist kürzlich verschwunden. Von einem Tag zum anderen hat er alles stehen und liegen lassen. Nicht mal seinen letzten Lohn hat er sich abgeholt. Es heißt, er hätte die Geisterlady gesehen.«

      Heather stutzte. »Die Geisterlady? Was hat denn das zu bedeuten?«, wunderte sie sich.

      Der junge Mann lächelte schmal. »Das ist eine alte Legende, die sich mit diesem Landstrich verbindet. Ich kenne sie nicht genau, mein Onkel hat sie mir früher mal erzählt, als ich noch ein Junge war. Es soll sich, glaube ich, um eine adlige Dame aus der Gegend handeln, die auf gewaltsame Weise zu Tode kam. Sie spukt seither auf dem Moor und wird stets von zwei großen, schwarzen Hunden begleitet.«

      »Das Heulen …« Heather war blass geworden. Sie musste an die unheimlichen Geräusche denken, die sie an ihrem ersten Abend in Hanley-Hall gehört hatte. Waren es vielleicht die Hunde dieser Geisterlady gewesen, sie geheult hatten? Als sie Timothys Blick begegnete, der sie fragend musterte, wurde sie verlegen.

      »Haben Sie denn ein Faible für solche Geistergeschichten, Miss Somersby?«, fragte er sie ein wenig neckend. »Ich kenne noch einige und würde sie Ihnen sehr gern erzählen. Falls wir uns mal wiedersehen …«

      »Kommen Sie mich doch besuchen. Meine Verwandten würden sich bestimmt freuen«, bot Heather spontan an.

      Timothy zögerte kurz. Das Angebot war verlockend, er wünschte sich nichts mehr, als dieses zauberhafte Geschöpf wiederzusehen und Zeit mit ihr zu verbringen. Selbst wenn dies bedeutete, die unsympathischen Nachbarn besuchen zu müssen. »Ich komme gern«, versprach er also. »Wenn Sie es erlauben schon morgen …«

      *

      Heather blickte sich unsicher um. Wo war sie? Die Umgebung verschwamm im grauen Licht der Dämmerung eines sehr frühen Morgens. Nebel lag über dem Land und verwischte die Konturen. Es war still, kein Laut drang an das Ohr des jungen Mädchens. Als Heather an sich herunter sah, bemerkte sie, dass sie nur ein Nachthemd trug. Es ist ein Traum, dachte sie und entspannte sich ein wenig. Sie erinnerte sich an den Nachmittag, den sie in Gesellschaft von Timothy Humbert verbracht hatte, und ein warmes Gefühl der Zuneigung erfüllte ihr Herz.

      Hoffentlich kommt er mich wirklich bald besuchen, wünschte sie sich, denn sie hatte sich in seiner Gesellschaft so wohl gefühlt wie lange nicht. Zum ersten Mal war sie beschwingt nach Hanley-Hall zurückgekehrt. Und nun dieser seltsame Traum.

      Heather versuchte, aufzuwachen. Obwohl sie keine direkte Bedrohung ausmachen konnte, fühlte sie sich nicht wohl. Sie war ganz allein und wusste weder, wie sie hierher gekommen war, noch was sie hier sollte.

      Doch der Traum wollte nicht weichen. So sehr sie sich auch bemühte, sie schaffte es nicht, wach zu werden.

      Zugleich änderte sich die Umgebung. Ein leichter Wind kam auf, vertrieb den Nebel und gab den Blick frei auf Eddystone, den Leuchtturm vor dem Festland. Heather wurde nun klar, wo sie sich befand. Sie stand an der Küste, dort, wo die Klippen steil ins Meer abfielen. Das Licht des Leuchtturms blitzte im immer gleichen Takt auf und verlosch. Heather konnte den rot-weiß gestrichenen Koloss im Meer nun deutlich erkennen. Fast schien es, als ob sie nur die Hand ausstrecken müsste, um ihn zu berühren. Dann hörte sie plötzlich die Stimme. Es war wie in jenen Albträumen, die sie in ihren letzten Londoner Tagen heimgesucht hatten. Wieder schien die Stimme nur in ihrem Kopf zu sein. Und wieder stieß sie eine finstere Warnung aus.

      »Heather Somersby, flieh! Verlasse Dartmoor, so schnell du kannst, sonst ist dein Leben verwirkt.« Die Stimme klang beschwörend und sehr streng. Es schien ihr wirklich wichtig zu sein, dass Heather die Warnung nicht nur hörte, sondern auch ernst nahm. Doch was bedeutete sie? Das junge Mädchen konnte mit den Worten nichts anfangen.

      »Wer will mir etwas Böses?«, fragte sie die Stimme im Traum. »Sag es mir, dann kann ich mich schützen und vorsichtig sein.«

      »Die Gefahr ist überall. Du musst fliehen«, wiederholte die Stimme aber nur monoton.

      Heather wusste nicht, was sie davon halten sollte. Plötzlich sah sie aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung. Mittlerweile hatte das erste Licht des Tages die graue Dämmerung vertrieben. Die Sonne stieg über dem Meer auf und in ihrem goldenen Licht erkannte Heather die vornehme Dame, die ihr schon öfter in diesen finsteren Albträumen erschienen war. Sie wurde von zwei großen, schwarzen Hunden begleitet.

      Heather riss die Augen auf, denn sie begriff nun, was dies zu bedeuten hatte und wer die unheimliche Dame war. Die Geisterlady! Sie wollte zurückweichen, denn die Erscheinung kam auf sie zu. Doch sie spürte direkt vor sich den Abgrund. Und der sichere Rückweg war ihr versperrt. Panik brandete in dem jungen Mädchen auf. Immer näher kam die Geisterlady. Heather sah ihr Gesicht, das im hellen Morgenlicht nur einem Schatten glich. Es war eine verwischte Fläche, die entfernt an das Antlitz eines Menschen erinnerte. Einzig die Augen waren deutlich zu erkennen. In ihnen brannte ein rötliches Feuer, das seinen Ursprung in den tiefsten Tiefen der Hölle zu haben schien.

      Dieser Anblick steigerte Heathers Panik ins Unerträglich. Sie wich vor der grausigen Erscheinung zurück, dachte nicht daran, dass sie sich damit in eine noch viel größere Gefahr begab – und fiel im nächsten Moment ins Bodenlose …

      Da endlich wachte sie auf. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Heather in das wattige Grau des frühen Morgens. Sie schnappte nach Luft, ihr Herz hämmerte wie ein Schmiedehammer in der Brust und sie zitterte am ganzen Körper. Es dauerte eine Weile, bis Heather sich soweit beruhigt hatte, dass sie das Bett verlassen

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