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der Frühling hatte noch nicht angefangen. Ein schneidender Wind aus Nord blies um die Hausecken, feiner Graupel traf mit ungezählten Nadelstichen die Haut. Lee zuckte leicht zurück und sagte zu Ted: »Gib Acht, es könnte wirklich gefährlich sein.«

      Ted lachte und entblößte dabei den einen Zahn, der ihm treu geblieben war. Eine deutliche Whiskyfahne wehte dem Wirt entgegen. »Nicht für mich, ich glaube nicht an den Quatsch. Es gibt keine Geister, das ist Aberglaube.«

      »Hab ich auch immer gedacht«, räumte Lee ein. Sein breitflächiges Gesicht, das stets leicht gerötet war, nahm einen sehr ernsten Ausdruck an. In seinen hellen Augen schimmerte etwas wie die Erinnerung an das Grauen, das ihn vor Jahren geschüttelt hatte. Es war so tief in sein Gedächtnis eingegraben, dass er nur daran denken musste, um es wieder ganz deutlich zu empfinden, so als sei es erst gestern passiert.

      »Aber dann hab ich sie gesehen, die Geisterlady. Es war … grauenhaft. Ich kann es gar nicht beschreiben.« Er schüttelte den Kopf und fuhr mit seiner rechten Hand über die Narbe auf dem linken Unterarm. Die hatte er sich damals geholt. Dachte er an jenen verhängnisvollen Abend, dann fing sie wieder an zu jucken. Es war fast so, als wolle diese Wunde einfach nicht heilen, als existiere sie auch unter der Narbe noch weiter. »Sie sah aus wie eine vornehme Dame aus früherer Zeit. Sie trug ein kostbares Kleid und einen Hut mit Schleier. Und sie hatte zwei große, schwarze Hunde bei sich.«

      »Das klingt doch nett. Du hättest sie grüßen sollen, dann hätte sie dir vielleicht Trinkgeld gegeben«, scherzte Ted.

      Lee, der sonst eine Seele von einem Menschen war, wurde mit einem Mal richtig zornig. Er starrte Ted an, als wolle er diesem an die Gurgel und schimpfte: »Das war nicht lustig, ganz bestimmt nicht! Sie schaute mich an und ich hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Ihr Gesicht war … durchsichtig. Und in ihren Augen brannte ein rötliches Feuer. Es sah aus wie das Feuer der Hölle. Ich schwöre, das werde ich nie vergessen!«

      Ted spürte, dass der Wirt sich sehr aufregte, die Erinnerung schien ihm zuzusetzen. Er klopfte ihm begütigend die Schulter und versicherte: »Ich glaube dir ja. Aber solange ich auf dem Moor lebe und arbeite, und das ist fast mein ganzes Leben, ist sie mir nie erschienen. Du musst dir keine Sorgen machen, sie lässt mich gewiss auch heute Nacht in Ruh.«

      Lee wiegte den Kopf hin und her, seine Stimme klang flach, er als dem Alten riet: »Sei nur vorsichtig. Heute ist Vollmond. Ich habe sie auch in einer solchen Nacht gesehen …«

      Ted nickte und machte sich auf den Heimweg. Er mochte den Wirt, aber diese Geistergeschichte nahm er ihm nicht ab. Vermutlich hatte Lee auf dem Heimweg einfach zu intensiv seine Ladung geprüft. Nach wie vor war Ted überzeugt, dass es keine Geisterlady gab. Unverdrossen ließ er die letzten Häuser von Callington hinter sich und stapfte in die Dunkelheit dieser Märznacht im Jahr 1912 hinaus …

      Das kleine Haus, das der alte Torfstecher sich aus selbst gebrochenen Steinen gebaut hatte, lag in einem Hain aus Birken. Ted brauchte eine halbe Stunde vom Dorf aus, um es zu erreichen. Die Nacht war klar, der Vollmond hing wie ein riesiges Auge über der flachen Landschaft. Überall stapelten sich Berge aus Torfbriketts. Es roch erdig und feucht. Nebelschlieren krochen über den Boden. Die Stille hing wie ein schweres Tuch über dem Land. Ungezählte Sterne flimmerten und in der Ferne schimmerte das Wasser des Kanals. Ted mochte diesen Landstrich. Er war karg, die Arbeit hart. Doch er hatte sein Auskommen und war mit seinem Leben zufrieden. In ein paar Jahren, wenn er zu alt zum Arbeiten war, würde er ins Dorf ziehen. Er hatte etwas gespart, wovon er dann leben konnte. Aber das war Zukunftsmusik, denn der agile Mann hatte noch keine Lust, seine Hände in den Schoß zu legen. Was sollte er dann auch den lieben langen Tag anfangen? Seit seinem siebten Lebensjahr hatte er gearbeitet, er kannte es nicht anders.

      Ein ungewöhnlicher Laut drang nun an das Ohr des einsamen Wanderers und ließ ihn innehalten. Was war das gewesen? Ted blieb stehen und lauschte. Da war es wieder. Es klang wie das Heulen eines Hundes. Schaurig, tief und dröhnend. Ted schaute sich um. Das silberne Mondlicht erhellte die Umgebung, schuf harte Schattenfelder und hob die weite Landschaft deutlich hervor. Es schien sich niemand in seiner Nähe zu befinden. Und doch war da dieses Heulen, nun schon wieder.

      Ted wusste, dass es hier verwilderte Hunde gab. Sie streiften herum, jagten oder klauten Abfälle. Aber das klang nicht nach einem dieser Exemplare. Es musste ein Riesenvieh sein, das da seine Stimme erschallen ließ. Der Torfstecher konnte nicht verhindern, dass eine Gänsehaut über seinen Rücken kroch. Er fühlte sich mit einem Mal gar nicht mehr so wohl in seiner Haut. Der genossene Whisky schien seine Wirkung verloren zu haben, Ted war auf einen Schlag nüchtern geworden. Ein diffuses Gefühl von Unsicherheit und Angst stieg in ihm auf. Plötzlich musste er an das denken, was Lee Wilkins ihm erzählt hatte.

      Im Licht der Laterne neben dem »Red Rooster« hatte er diese Geschichte als Unsinn abgetan. Aber hier, in der mondhellen Einsamkeit des nächtlichen Moores wurde er unsicher. Er beschloss, schnellstmöglich nach Hause zu gehen. Sein Häuschen kam bereits in Sicht, die Birken grüßten ihn wie alte Freunde.

      Da erklang wieder das Heulen. Und diesmal ganz in der Nähe. Ted zuckte zusammen und blieb wie angewurzelt stehen. Eine schwer zu beschreibende Panik ergriff von ihm Besitz. All die Geschichten über die Geisterlady kamen ihm in den Sinn, die er schon in seinem Leben gehört hatte. Plötzlich war das alles kein Unfug mehr, keine Angabe oder Spinnerei. Er spürte ganz deutlich, dass sich etwas in seiner Nähe aufhielt, dass etwas kam. Etwas, das er lieber nicht sehen wollte. Der Torfstecher nahm all seinen Mut zusammen und setzte sich wieder in Bewegung. Nun konnte es für ihn nur noch ein Ziel gegen: So schnell wie möglich sein Häuschen zu erreichen und …

      Im nächsten Moment hatte Ted das Gefühl, gegen eine Mauer gelaufen zu sein. Auf dem Weg vor ihm, kaum zwei Meter entfernt, stand jemand. Es war eine Frau, vornehm gekleidet, in Begleitung zweier Hunde. Sie sah so aus, wie Lee Wilkins es beschrieben hatte. Sie trug ein kostbares Gewand und einen Hut mit Schleier, alles in einer Mode aus früheren Zeiten gearbeitet. An ihren bleichen Händen funkelten Edelsteine. Die beiden schwarzen Doggen standen wie treue Wächter an ihrer Seite.

      Es war nicht so sehr der Anblick der Geisterlady, der Ted völlig aus der Fassung brachte. Es war etwas anderes, etwas, das er spürte. Kälte. Wut. Einsamkeit. Der Wunsch nach Rache. Und immer wieder eine lähmende, alles verzehrende Traurigkeit. Sie schien sich in sein Herz zu fressen und es zu schwächen. Er öffnete den Mund, aber kein Laut kam heraus. Er hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren, denn das Grauen, das ihn erfasst hatte, steigerte sich mit jeder Sekunde.

      Die Geisterlady schwebte nun langsam auf ihn zu. Teds Augen weiteten sich. Er hörte keinen Laut, auch die Hundepfoten tappten geräuschlos über den Boden. Dann hatte die Erscheinung ihn erreicht. Er empfand nun die Kälte, die von ihr ausging, wie einen Schmerz. Die Geisterlady hob eine Hand, als wolle sie ihn berühren. Zugleich sah er das rötliche Glosen dort, wo die Augen waren. Das war zuviel für Ted Tomkins. Er stieß einen markerschütternden Schrei aus und rannte los. Ohne nach rechts oder links zu blicken, hastete er davon, so schnell seine Füße ihn tragen konnten. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Mund noch wie zum stummen Schrei geöffnet. Er atmete rasselnd, sein Brustkorb hob und senkte sich verzweifelt, seine Füße stampften über den Weg.

      Endlich hatte er sein Haus erreicht und schlüpfte nach drinnen. Ted war kaum noch in der Lage, klar zu denken, die Panik schüttelte ihn für den Rest der Nacht. Er fand keinen Schlaf, schlich wie ein Dieb herum und wartete auf das erste Licht des neuen Tages.

      Als die Sonne im Osten über dem Meer aufstieg, packte Ted seine wenigen Habseligkeiten und verließ sein Häuschen. Er war fest entschlossen, Dartmoor so weit wie irgend möglich hinter sich zu lassen und nie wieder dorthin zurückzukehren.

      *

      Es war ein sonniger Märzmorgen. Das goldene Licht des frühen Tages fiel durch die großen, bleiverglasten Fenster des Musikzimmers im Hause Somersby nahe dem Hyde-Park im noblen Londoner Stadtviertel Mayfair. Die Tochter des Hauses, Heather, die vor kurzem ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte, saß im hellen Tageskleid am Flügel und spielte. Ihre schlanken, beweglichen Finger glitten mit einer spielerischen Leichtigkeit über die weißen und schwarzen Tasten, die an einem Schmetterling erinnerte. Und ebenso verspielt und leicht perlten die Akkorde,

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