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hielt sich den schmerzenden Arm, und ihre Wange brannte wie Feuer.

      »Es ist Zeit, Abschied zu nehmen von dieser hässlichen Welt, Molly Stone«, sagte Toby Haggerty. »Du bist von ihr so sehr enttäuscht, dass du nicht einmal einen Abschiedsbrief hinterlässt. Möchtest nur so rasch wie möglich weg.«

      »Was ist mit den Büchern?«, fragte Molly, um Zeit zu gewinnen.

      »Die nehme ich mit – sowohl das mit den leeren Seiten als auch das mit dem ersten Kapitel«, antwortete Haggerty. »War ein guter Gag, finde ich. Die beiden Bücher brachten eine gewisse Würze ins Geschehen. So etwas hat es bestimmt noch nie gegeben. Ich liebe solche Einfälle, bin richtig stolz auf diese Idee. Auch der Titel hat mich von Anfang an begeistert. Vor allem deshalb, weil er so treffend ist. Wer weiß, vielleicht schreibe ich das Buch irgendwann einmal zu Ende und bringe es im Eigenverlag heraus. Es könnte ein Bestseller werden. Das Potenzial dafür wäre vorhanden.« Er wurde langsam ungeduldig. »Rauf auf den Hocker, Molly.«

      »Ich weiß noch nicht alles«, stieß sie hastig hervor.

      Er schüttelte unwillig den Kopf. »Du brauchst nichts mehr zu wissen.«

      »Sollte ich nicht das Recht haben, zu erfahren …«

      »Wozu?«, schnappte er.

      »Delinquenten räumt man im Allgemeinen einen letzten Wunsch ein.«

      Er atmete genervt aus. »Also gut. Wir wollen diese traditionelle Gepflogenheit meinetwegen beibehalten. Was willst du wissen?«

      »Wer bist du, Toby Haggerty?«

      »Wer ich bin? Wieso interessiert dich das? Soll ich mich geschmeichelt fühlen? Du hast doch in der kurzen Zeit, die wir uns kennen, nicht etwa eine Schwäche für mich entwickelt? In Anlehnung an das Stockholm-Syndrom. Ich könnte das zwar verstehen, aber es würde nichts bringen, denn … Sehen wir den Tatsachen doch mal ganz nüchtern ins Auge: Ich bin ein Mörder, Molly Stone. Ich habe deinen Liebsten erschlagen, und ich bin auch dein Mörder. Ich meine, niemand ist so verrückt, sich in seinen Henker zu verlieben. Das wäre doch echt bescheuert, oder etwa nicht?«

      »Wer bist du?«, wiederholte Molly ihre Frage starrsinnig.

      Er setzte ein gemeines Grinsen auf und begann seine Biografie herunterzuleiern. Geburtsdatum, Geburtsort, Name der Eltern, Schulbildung …

      Es stellte sich heraus, dass er Rechtsanwalt war. Noch ledig, aber schon verlobt – mit einer jungen Frau, die, wie er offen zugab, nicht einmal halb so schön wie Molly war, dafür aber ungemein vermögend.

      Als Molly abermals wissen wollte, wer ihre leiblichen Eltern waren, zeigte er keine besondere Lust, auch noch darüber zu sprechen.

      Es schien in seinen Augen vergeudete Zeit zu sein. Was hatte sie denn schon davon, wenn sie die Namen ihrer richtigen Eltern kannte?

      Sie würde in Kürze tot sein – und dann hatte das alles keinen Wert mehr für sie. Aber Molly beharrte darauf, auch das noch zu erfahren, und so begann er mürrisch mit der Frage: »Hast du schon mal von Agatha Pallin gehört?«

      »Nein. Ist sie meine Mutter?«

      Toby Haggerty nickte. »Sie ist deine Mutter. Als sie ungefähr in deinem Alter war, vielleicht ein bisschen jünger, wollte sie unbedingt beim Film Karriere machen. Sie war jung, hübsch, hatte zwar eine angenehme Ausstrahlung, aber ihrem schauspielerischen Talent waren doch ziemlich enge Grenzen gesteckt. Sie erschlief sich ein paar unbedeutende Rollen in unbedeutenden Filmen, ging von Hand zu Hand, war zu dumm, um zu erkennen, dass die Männer sie alle nur ausnutzten. Man versprach ihr tolle Engagements in großen Produktionen, doch zu guter Letzt kam es nie dazu, weil sie einfach – was sie nicht wahrhaben wollte – nicht das Zeug zum Star hatte. Sie begann zu trinken, nahm Drogen, um ihren aufgestauten Frust zu betäuben, erschien zu spät zum Dreh, drohte schon sehr bald total abzustürzen und wurde zu allem Überfluss auch noch schwanger. Wer ihr das Kind gemacht hatte, wusste sie nicht, weil dafür zu viele ehrlose Männer infrage kamen. Da sie kaum für sich selbst sorgen konnte, gab sie das Mädchen, das sie auf die Welt brachte, zur Adoption frei, und Loretta und Delbert Stone bekamen das Baby und gaben ihm ihren Namen.«

      Agatha Pallin hätte mich abtreiben können, dachte Molly, hat es aber nicht getan, sonst hätte es mich nie gegeben.

      »Ich musste sehr viel Zeit investieren, um all das, was ich heute weiß, zu erfahren«, fuhr Toby Haggerty fort. »Man hält es nicht für möglich, aber die Geschichte hat auch eine unglaublich märchenhafte Komponente. Deine leibliche Mutter schaffte einen sagenhaften Neustart. Sie nahm keine Drogen mehr, schwor dem Dämon Alkohol ab, sah ein, dass sie für die Schauspielerei zu wenig Talent hatte, wurde Hostess und machte eines Tages die Bekanntschaft eines unermesslich reichen Mannes, der sich unsterblich in sie verliebte. Es war ihm egal, wer sie war, woher sie kam, was sie alles hinter sich hatte. Und ihr machte es nichts aus, dass er zwanzig Jahre älter war als sie. Für die beiden zählte nur das Hier und Jetzt, und er wollte nichts so sehr, als dass sie seine Frau wurde. Ihr Ja-Wort machte ihn überglücklich…«

      »Wie heißt der Mann?«, unterbrach Molly den Anwalt.

      »Carlos Careira«, gab Toby Haggerty zur Antwort. »Ein argentinischer Aristokrat. Achtbarster Hochadel. Schwer reich. Astronomisch reich sogar. Seine innigst geliebte Frau schenkte ihm in Argentinien, auf seinem riesigen Landsitz, eine liebreizende Tochter, die sie Raffaela nannten. Doch das Glück war nicht von langer Dauer, denn Carlos Careira wurde schon sehr bald sterbenskrank und verschied schließlich in den Armen seiner geliebten Gemahlin. Kurz nach seinem Tod verließ Agatha mit ihrer Tochter Argentinien und kehrte als sagenhaft reiche Frau nach England zurück.«

      Allmählich konnte Molly einen Handlungsbogen erkennen. Haggerty hatte gesagt, er sei verlobt. Mit Raffaela Careira etwa?

      Als sie ihn das fragte, sah er sie erstaunt an. »Donnerwetter, du hast ja Grips, Mädchen.«

      »Du hast die Absicht, sie zu heiraten.«

      »Ja«, bestätigte Toby Haggerty, »ich werde Raffaela Careira zur Frau nehmen.«

      »Die Tochter meiner leiblichen Mutter.«

      »Du sagst es.«

      »Obwohl sie dir allem Anschein nach nicht gefällt«, sagte Molly.

      Er zog die Schultern hoch. »Nun ja, sagen wir, bei ihr zählen andere Werte.«

      Ich kann mir vorstellen, welche Werte das sind, dachte Molly angewidert. Du willst dir das Careira-Vermögen erheiraten. »Wie alt ist Raffaela?«, wollte sie wissen.

      »Fünfzehn.«

      »Erst fünfzehn.«

      »Aber bereits voll entwickelt«, sagte Haggerty. »Zwar noch mit ein bisschen Babyspeck behaftet, aber das stört mich nicht. Sie wird ihn mit der Zeit verlieren. Und … wegen ihres Alters … Sie bleibt nicht ewig fünfzehn, wird älter – und dann …, dann wird geheiratet. Wir sind einander im Wort. Raffaela vergöttert mich. Ich werde dafür sorgen, dass das in den nächsten Jahren so bleibt. Sie ist ja so leicht zu beeindrucken – das dumme, hässliche Kind. Bedauerlicherweise wird ihre Mutter an unserer Hochzeit nicht mehr teilnehmen können.«

      »Wieso nicht?«

      »Sie hat in ihrer Jugend zu sehr Raubbau an ihrer Gesundheit betrieben, und das rächt sich nun«, erklärte Toby Haggerty ohne jedes Mitgefühl. »Ihr Körper präsentiert ihr jetzt die Rechnung für all die schweren Sünden, die sie begangen hat. Dagegen sind selbst die besten Ärzte machtlos. Agatha Careira ist ausgebrannt, ist nur noch eine leere Hülle. Sie wird noch in diesem Jahr von uns gehen.«

      »Weiß sie das?«

      Haggerty nickte. »Sie weiß es und sie blickt ihrem Ende erstaunlich gefasst entgegen. Eigentlich hält sie nur noch eines davon ab, jetzt schon für immer abzutreten … Sie will eine – mütterliche – Schuld begleichen, kann sich nicht verzeihen, dich damals zur Adoption freigegeben zu haben. Deshalb trug sie mir, dem Anwalt ihres Vertrauens, auf, dich ausfindig zu machen. Wir mussten eine Menge Geld in die Hand nehmen, um uns

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