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Die Ströme des Namenlos. Emma Waiblinger
Читать онлайн.Название Die Ströme des Namenlos
Год выпуска 0
isbn 4064066113612
Автор произведения Emma Waiblinger
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Und wenn wir schon manchmal in dunkeln Nächten um eine verlorene oder versagte Liebe wachlagen, war uns das Leben so unerträglich und grauenvoll und bitter, daß es uns Erlösung und Seligkeit dünkte, das zu tun, was der Vater damals um die Mutter getan hatte.
Es tut es aber keines von uns. Denn da ist froh und leuchtend das Erbteil der Mutter: eine mächtige, warme Lebensfreude und ein tiefes, schweigendes Bewußtsein, daß wir nicht für uns selber da seien, sondern Leben und Kräfte von Gott hätten, um sie in seinem Dienste für die Menschen zu brauchen.
Zwischen jetzt und meiner Kinderzeit liegen mir so viele Erlebnisse und starke Eindrücke, soviel mit einem hellen Bewußtsein empfundene Stunden, daß mir die Dinge damals unendlich ferngerückt sind und gleichsam in einem dämmerigen Vorleben und in fremden Ländern geschehen erscheinen.
Wäre meine Jugend glücklich und heiter gewesen, mit vielen hellen Augenblicken, so hätte sich mir das doch einprägen müssen und wäre mir jetzt leicht und fröhlich in Erinnerung. Es müßte sein, wenn ich jetzt einmal durch unser Haus liefe, daß ich auf einmal lächelnd stehen bliebe und meine Mutter fragte: »Gelt, es ist da gewesen, wo wir als Kinder die Undine aufgeführt haben? Da, vom Kasten bis zur Küchentüre ging der geteilte Vorhang; das waren zwei aufgetrennte Rupfensäcke. Die Margret war der Ritter Huldbrand, die Hosen waren ihr zu lang und sind gerade bei den rührendsten Stellen manchmal heruntergerutscht. Dem Oheim Kühleborn ist jemand auf den weißen Mantel getreten, so daß er sich nachher hat verantworten müssen wegen dem zerrissenen Leintuch. Es war wunderbar schön, dir sind die Tränen gekommen vor Rührung, als Undine den Ritter umschlang, und der Vater hat zwanzig Pfennige Eintritt bezahlt.«
Oder wenn ich in der Kammer droben nach einem Flicken suchen würde und mein Aug' fiele auf des Greiners alten Holzgaul, der nie einen Schwanz gehabt hat, so müßte da plötzlich ein ganzer schimmernder Christtag mitsamt den farbigen Kerzen und den Springerlein und den großen Puppen und dem Kaufladenglöcklein dahinter auferstehen. Ich müßte eine Viertelstunde lang still versunken dasitzen, und es müßte mir ordentlich weich und weit ums Herz werden vor lauter unaufhörlichem Erinnern an einen schönen Kinderchristtag.
Ich müßte es mir noch denken können, wie mich mein Vater auf den Knieen reiten ließ, und es müßten tausend Plätzlein im Haus und ums Haus herum sein, bei deren Anblick in mir ein vertrauliches Licht und eine liebe alte Erinnerung hell würde. Aber es ist nichts da. Wenn ich mich auch noch so sehr besinne – es ist fast alles dunkel und tot. Und wenn es so war, wie meine Geschwister erzählen, daß ich als Kind viel geweint habe und die meiste Zeit still und bockig und verschlossen war, so bin ich froh, daß ich es vergessen habe und es nicht quälend oder mit Neid auf glückliche Kinder mit mir herumtragen muß.
Ich habe ja gewiß auch viele Freuden und Freudlein genossen. Und wo sechs Kinder sind, gibt es Dummheiten und etwas zum Lachen, Händel und Friedensschlüsse und ein unterhaltendes, buntes Leben, und wenn sich alle finsteren Mächte dagegen verschworen hätten.
Aber daß das nicht stark und tiefgehend war, bezeugt, daß es in meiner Erinnerung ausgelöscht ist. Ich weiß von meiner Jugend nur, als von einem wirren, traurigen, mir kaum bewußten Zustand mit einer dumpfen Sehnsucht nach einem schönen, glücklichen Leben.
Es ist mir wie ein Traum und ein langer unruhiger Schlaf; nur ein paar helle, deutliche Ereignisse heben sich davon ab, an die ich oft lächelnd zurückdenke, und von denen ich manchmal meine, daß sie mir lieber und werter waren, als eine ganze reiche, glückliche Kindheit. Ich will versuchen, alle Verklärung und verschönende Veränderung, die sich etwa im Lauf der Jahre darüber angesetzt hat, wegzutun und sie so aufzuschreiben, wie ich sie damals erlebt und aufgenommen habe.
Unser Haus liegt auf der Höhe über der Stadt; es hat drei geräumige Stuben, die Werkstatt und etliche Dachkammern; auch ist ein Geißenstall hinten angebaut, und ein kleiner Garten darum samt einer Wiese mit ein paar Obstbäumen, die uns das Gras für die Geißen liefert.
Das schönste daran ist aber der alte, steinerne Brunnen; er steht neben dem Haus an der Straße und ist so groß und wasserreich wie weit und breit keiner mehr und ein Labsal für Mensch und Vieh.
Wenige Minuten von unserem Haus weg, weiter oben am Berg, fängt der Wald an; auf der andern Seite aber, ins Tal hinunter, geht der alte Kirchhof, der seit hundert Jahren nicht mehr benützt wird. Und mehr als das Haus und der Garten, als Mutter und Geschwister, war dieser Kirchhof mein Eigentum und meine Unterhaltung.
Wenn die Geschwister mit drüben waren, ging es wild her. Wir spielten Räuberles und rissen die Hagenbutten und Dürlitzen von den Zweigen. Auch war in des Syndikus Grünzweig Grab eine schöne, runde Lücke zum Bohnenspielen. Aber es kam mir wie eine Entweihung der stillen Heiligkeit vor, wenn die andern da so über die Gräber sprangen und lachten und sich um die Früchte prügelten; und einmal liefen mir vor Zorn darüber die Tränen herunter, und ich ging in die dunkle Chornische, um mich auszuheulen.
Oft, wenn ich wußte, daß die andern alle beschäftigt waren, schlich ich mich hinüber und freute mich, ungestört da zu sein. Ich stieg auf das Mäuerlein oder auf einen Baum und schaute ins Tal hinunter und dachte, ich wäre ein Wächter und Turmwart und focht mit unsichtbaren Gestalten, die den Frieden der mir Anvertrauten bedrohen wollten.
Oder ich stand an den Hagebutten und pflückte sie langsam und säuberlich in meine Schürze, saß mit ihnen auf ein Grab und putzte die haarigen Kernlein heraus. Dann suchte ich ein recht schönes Blatt oder einen netten Scherben, legte die roten Schalen ordentlich darauf, trug sie so an irgend ein Grab und lud den Bewohner feierlich ein, dieses Mahl mit mir zu teilen.
Im Sommer brach ich auf der Wiese Sträuße und grub sie in die Gräber ein; einmal war an einem Margritlein die Wurzel hängen geblieben; ich wußte es nicht, aber als ich im nächsten Jahr eine weiße Blume auf dem Grab blühen sah, hatte ich eine unbändige Freude daran, und holte nun ganze Büschel von Margriten und Vergißmeinnicht und Dotterblumen mit Wurzeln und einem Klumpen Wiesenerde daran und pflanzte sie ein. Das Wachsen und Blühen wollte mir nicht schnell genug gehen; ich flocht Kränze und Gewinde und steckte mit einem dürren Aestchen lange Ketten von Buchen- und Kastanienblättern zusammen und putzte die Wege, d. h. ich fegte nur das welke Laub weg, das Gras ließ ich stehen und streute frische Blumen von der Wiese und Heckenröslein darauf. Dann hielt ich einen großen Feiertag: ich blies auf einem glatten, zähen Buchenblatt meine Lieblingslieder und lief langsam und lächelnd und feierlich in den Wegen auf und ab und um die Gräber und richtete mir aus Birnen und Stachelbeeren und wildem Schnittlauch eine Mahlzeit. Am Schluß aber räumte ich alle Kränze und Verzierungen eifrig weg, rannte wie besessen in den Wegen herum, um das Gras wieder wüst zu machen und holte vom nächsten Gütlein den halben Unkrauthaufen, verstreute ihn auf dem Boden und stampfte ihn fest, daß man gar, gar nichts mehr sah von der Schönheit vorher. Denn hätte irgend jemand etwas davon gemerkt, so hätte ich mich elend geschämt.
Am liebsten auf dem Kirchhof hatte ich zwei Gräber. Sie standen ganz nahe beieinander; nur ein Streifen Gras war dazwischen. Auf dem einen stand verwaschen, daß man's kaum lesen konnte: Melitta Barbara Wonnigmacherin, und auf dem andern stand gar nichts. Da lag ich oft in der Sonne zwischen den beiden, legte auf jedes Grab eine Hand, ließ mich von den Gräsern kitzeln und konnte es wohl leiden. Ich sprach mit ihnen und gab mir Mühe, recht leis und lieb zu sein.
Die Melitta nannte ich kosend bei ihrem Namen, immer wieder, und strich ihr über den Grabstein, wie man einem bekannten, geliebten Menschen übers Gesicht fährt. Aber zu dem andern Grab wußte ich nichts zu sagen. Ich fragte einmal die Mutter darum, und sie meinte, es werde wohl ein Handwerksbursch darin begraben liegen, dessen Namen man nicht gewußt habe.
Ich hatte auch schon einen Handwerksburschen gesehen: er kam müd und langsam die Steige herauf und stand vor unserem Haus veratmend still. Die Mutter rief ihn herein und gab ihm einen Kaffee; der Mensch sah nicht gut aus, hustete oft und schauerte zusammen, und aus seinem rechten Stiefel sah eine große, rote Zehe heraus.
Am Schlusse sagte er vergelt's Gott, lächelte traurig meine Mutter an und ging leise pfeifend weiter, in den Wald hinauf.
So dachte ich mir nun, er sei gestorben und liege da; und meine erste