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mir einen Becher mit heißem Tee. Ich trug den Becher zu einem der freien Holzstühle in der Nähe des Herdes und setzte mich hin. Das Buch durchblätternd, nippte ich vorsichtig an meinem Tee. Er war brühend heiß und schmeckte nach Piniennadeln. Ich sehnte mich nach Alkohol.

      Während ich in dem Buch schmökerte, gingen Menschen in dem Raum ein und aus. Sie führten Gespräche in einer Sprache, die für mich völlig unverständlich klang. Einige Male streckte ich den Hals in ihre Richtung, um sie besser sehen zu können; ihre Schatten, die durch das offene Feuer des Herdes verstärkt wurden, zuckten wie nicht greifbare Schemen über die steinernen Wände.

      Ich nahm die Lektüre des Buches wieder auf und übersprang sämtliche Kapitel bis zum letzten, in dem Mallorys Verderben auf der Nordseite des Mount Everest beleuchtet wurde. Ich spürte eine leichte Beklemmung, als ich wieder zwanghaft an jene Nacht von vor zwei Jahren erinnert wurde, in der ich das zweifelhafte Vergnügen hatte, diese mit einem aus der Haut ragenden Schienbeinknochen in einer Höhle verbringen zu dürfen, wobei ich beinahe ums Leben gekommen wäre. Andrews tadelnde Stimme meldete sich wieder zu Wort – Was hattest du allein in der Höhle zu suchen? –, und gleichzeitig war es auch die Stimme von Marta. Eine berechtigte Frage.

      Jemand war hinter mich getreten. Als er sprach, schrak ich auf und schüttete ein wenig von dem heißen Tee in meinen Schoß.

      »Es ist ein interessantes Buch«, sagte der Mann. Er sprach leise, aber mit kräftiger Stimme.

      Ich sah auf und war erstaunt, dass seine Erscheinung nicht so bullig war, wie es mich seine Stimme hatte vermuten lassen, aber er war in guter, physischer Verfassung. Das Gesicht war sonnengebräunt und er sah mich aus alten, grauen Augen an, obwohl er kaum älter sein konnte als ich. »Wenn du natürlich so auf das Ende zuspringst, werden dir sämtliche Details entgehen.«

      »Woher willst du wissen, dass ich die vorherigen Kapitel nicht gelesen habe?«

      Er setzte sich in einen der freien Stühle und hielt die Hände dem Feuer entgegen. »Wir sind beide am Flughafen in dieselbe Tram gestiegen. Ich habe an deinem Lesezeichen sehen können, dass du das Buch nur zu Hälfte durch hattest. Es sei denn, du bist ein Schnellleser …«

      Ich schlug das Buch zu. »Nein, kein Schnellleser, nur ein Schwindler. Ein Schwindler, der auf frischer Tat ertappt wurde.«

      Er bot mir die Hand an. »Ich bin John Petras. Du kannst mich ruhig Petras nennen. Eigentlich nennt mich außer meiner Mutter niemand John.«

      Ich schüttelte seine Hand und spürte die Kraft in seinem Griff. »Tim Overleigh.«

      »Woher kommst du?«

      »Maryland.«

      »Ich bin aus Wisconsin, dem Land des Käses«, lächelte Petras.

      »Bist du mit einer Touristengruppe hier?«

      »Nee. Ich bin aus demselben Grund hier wie du.«

      Ich musste grinsen, weil ich annahm, er würde mich verarschen. »Und der wäre?«

      Petras erwiderte mein Grinsen und sagte: »Weil Andrew Trumbauer wollte, dass ich herkomme.«

      – 3 –

      Offensichtlich fand Petras den Ausdruck auf meinem Gesicht ziemlich lustig. Er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen und es hörte sich an wie das Donnern eines Sattelschleppers auf einer einsamen Straße inmitten der Wüste.

      »Woher kennst du Andy?«, wollte ich wissen.

      »Eisklettern. In den kanadischen Rockies. Wir waren in derselben Gruppe unterwegs, etwas 15 Leute, und verbrachten gut zwei Wochen in den Bergen, und eine weitere, um uns in Neuschottland zu besaufen.«

      Meine Neugier blieb bestehen. »Ich meinte eigentlich, woher du …«

      Immer noch grinsend, antwortete er: »Ich habe dich in der Tram deinen Sitznachbarn fragen hören, ob er etwas über die Schlucht der Seelen wüsste.« Mit seiner zu groß geratenen Hand kratzte er sich hinter dem von der Sonne gebräunten Ohr. »Es kommen nicht gerade viele Menschen her, um die Schlucht der Seelen zu suchen. Die meisten haben nie etwas darüber gehört.«

      »Ich selbst weiß auch nichts darüber.«

      »Sieh mal, für Bergsteiger, Wanderer und dergleichen ist dieser Ort hier so was wie Disneyworld. Selbst die Amateure wagen sich in geführten Truppen an den Everest, nur um später behaupten zu können, hier gewesen zu sein, oder sie pissen auf die gefrorenen Massen des Khumbu-Eisfalles, um ihren Urin zu Eis erstarren zu sehen. Ich weiß, worüber ich rede, denn für gewöhnlich führe ich solche Trupps. Denen ist es egal, ob sie es überhaupt bis an die Spitze irgendeines Berges schaffen. Die meisten von ihnen können ein Steigeisen nicht von einem Tampon unterscheiden.« Er zeigte auf das Buch in meinem Schoß. »Heutzutage gibt es kaum noch Menschen vom Schlage eines George Mallory. Den Leuten ist es inzwischen viel wichtiger, dass sie in der Verfassung sind, darüber berichten zu können. Das Unternehmen, welches eigentlich der Erzählung vorausgeht, ist nicht von Bedeutung. Hauptsache, man hat etwas, womit man prahlen kann. Diesen Menschen fehlen das Herz und der Geist für das Wesentliche. Und solche Typen reisen garantiert nicht her, um nach der Schlucht der Seelen zu suchen.«

      »Und aus welchem Grund bist du hier? Was macht diese Schlucht so besonders für dich? Oder bist du nur hier, weil Andy dir das Ticket bezahlt hat?«

      Petras schwenkte seinen Blick auf das Feuer im Kamin. Nach einem kurzen Zögern antwortete er: »Ich schätze, weil es bisher niemand gewagt hat, danach zu suchen. Niemandem ist es gelungen, die Schlucht zu passieren. Von einigen erfolglosen Unternehmungen habe ich gehört. Es scheint nicht von Interesse zu sein. Abgesehen davon ist der Ort auch in keiner der Landkarten verzeichnet. Vergib mir, wenn ich Sir Edmund Hillary nachahme, aber hauptsächlich mache ich es, weil es verdammt noch mal gemacht werden muss.«

      »Das ist eine gute Antwort«, bekannte ich freimütig.

      »Und was ist mit dir? Warum hast du alles liegen und stehen lassen und bist hier aufgekreuzt?«

      »Bedauerlicherweise sind meine Beweggründe etwas komplexerer Natur.«

      »Ich hoffe, dass ich keinen dämlichen Eindruck auf dich mache.«

      Er sagte das ohne Nachdruck oder sonstigem unterschwelligen Ton in der Stimme. Ich schätzte, dass es seine Art war, mir zu sagen, ich könne mich ihm öffnen.

      »So habe ich das nicht gemeint.«

      »Ich weiß. Aber du bist dir doch darüber im Klaren, dass wir uns auf der bevorstehenden Reise vertrauen müssen? Wenn die Situation es erfordert, müssen wir das eigene Leben in die Hände des anderen überantworten. Diese Reise wird kein Spaziergang durch den Park. Und wenn ich schon gezwungen bin, meine Leben jemandem anzuvertrauen, würde ich gern wissen, wie dieser jemand so tickt und warum er sich dazu entschieden hat, an so einem Wahnsinn teilzunehmen.« Er lächelte sanft und blinzelte mit den Augen. Er konnte nicht älter als 35 sein, aber sein Lächeln hatte etwas Väterliches. »Ich will einfach sicher sein, dass du nicht suizidgefährdet bist und aus einem Todeswunsch heraus an dieser ganzen Aktion teilnimmst und dabei unser aller Leben aufs Spiel setzen könntest.«

      Ich strich mit dem Daumen über den Rand meines Bechers und stellte ihn dann auf einen kleinen Tisch neben dem Stuhl, in dem ich saß. »Früher war ich ein Künstler. Ich bestritt meinen Lebensunterhalt mit Bildhauerei. Doch als meine Frau starb, starb auch mein Talent mit ihr. Ich bin hier in der Hoffnung, etwas zu erleben oder zu finden, das mir dabei helfen könnte, wieder auf die richtige Spur zu wechseln. Du siehst also, keine suizidalen Fantasien, die mich antreiben. Im Suizid hätte es wohl geendet, wenn ich weiterhin untätig daheim geblieben wäre.«

      Petras nickte. »Klingt vernünftig und genauso plausibel wie jeder andere Grund, den ich bisher gehört habe. Vielleicht sogar einen Tick besser als die übrigen.« Mit zusammengekniffenen Augen fuhr er fort: »Du kommst mir bekannt vor. Sind wir uns schon mal begegnet?«

      »Das bezweifle ich, denn ich bin ziemlich gut darin, mich an Gesichter zu erinnern. Aber ich war vor einigen Jahren auf den Covers verschiedener Magazine zu sehen. Stellte

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