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Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß
Читать онлайн.Название Die wichtigsten Werke von Richard Voß
Год выпуска 0
isbn 9788027223008
Автор произведения Richard Voß
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Prisca erlebte, was wohl jeder erlebt, der zum erstenmal die Wanderschaft nach dem Süden antritt, die selbst in unsrer Zeit noch für manchen eine Wallfahrt bedeutet. Mit welcher Wonne studierte sie Landkarte, Fahrplan und Reisebuch immer und immer wieder. Stieß sie dabei auf den Namen Rom, so klang und rauschte es ihr durch das Gemüt wie das Wort der Verheißung, wie eine Verkündigung des Heils. Das Einpacken ward zum Fest. Als sie im Reisebureau an dem Promenadeplatz das Billett löste – auf Glöckleins flehentliche Bitte hin zweiter Klasse und für den Schnellzug – da klopfte ihr das Herz, als ob sie postlagernd unter Chiffer »Hoffnung« ihren ersten Liebesbrief abholte.
Dann machte sie ihrem lieben Rottmann unter den Arkaden einen Abschiedsbesuch.
»Trient, Verona. Wenn ich morgen an euch vorbeikomme, ist es leider schon Nacht. Wenn ich übermorgen aufwache, bin ich da!... Es war zu dumm von mir, dem guten Glöcklein nachzugeben und zweite Klasse zu fahren. Für das viele Geld hätte ich eine halbe Woche in Florenz bleiben können. Aber meine treue Hofdame lamentierte gar zu erbärmlich. Ich will es also in Gottes Namen machen wie Goethe, der auch nirgends Ruhe hatte, als bis er durch die Porta del Popolo einziehen konnte: jetzt hast du dein Rom sicher! ... Roma! Da ist es! So leuchtend, so herrlich, so unfaßlich groß. Roma antica! O ihr Säulen auf dem Forum! ... Übermorgen mittag komme ich an. Dann gehe ich sogleich über Kapitol und Forum nach dem Palatin. Übermorgen – Prisca Auzinger! Ja, ist es denn nur möglich?«
Und sie dachte an ihren armen Vater, und daß sie jetzt wirklich dahin, dahin zog – ohne ihn.
*
Glöckleins helles Stimmchen war schon seit einer Woche vor Wehmut ganz matt, und an diesem allerletzten Tage erfüllte es die Gemächer der Solitude mit leisem Klageton. Gismonda hatte für den letzten afternoon tea, ihr herrlichstes herzogliches Service aufgestellt und zum Souper ein eingemachtes Huhn mit Nudeln bestimmt. Statt der vulgären Petroleumlampe brannten an diesem Abend auf einem Armleuchter aus versilbertem Zinn fünf Kerzen, deren festlicher Glanz in Glöckleins Gemüt die Finsternis des Trennungsschmerzes ein wenig erhellte.
»Schicke mir ums Himmels willen ein Tagebuch. Ich beschwöre dich! Und wenn du das Fieber bekommst, daran in Rom die Menschen wie die Fliegen sterben sollen, dann zerkoche gleich in einem Glase Rotwein eine Limone. (Die wachsen dort ja an den Bäumen wie bei uns Äpfel und Pflaumen.) Davon mußt du jede Stunde einen Eßlöffel voll nehmen ... Ach Gott, und die Modelle! Da drüben nimmst du gewiß sofort ein Modell ins Haus, und einer davon sticht dich tot. Übrigens ist es auch ganz unschicklich für eine junge Dame, nach lebendigen Modellen zu malen. Wozu auch? Bis jetzt war ich so stolz auf dich ...«
Ein Klang der Hausglocke unterbrach des Glöckleins Jeremiade, der Prisca mit einem träumerischen Lächeln zuhörte. Da die Aufwärterin, welche an diesem Abend ausnahmsweise in der Solitude anwesend war, hinreichend mit dem eingemachten Huhn und den Nudeln zu tun hatte, ging Gismonda selbst, um zu öffnen. Sie kam mit einer bürgerlich aussehenden Frau zurück, die ein gedrücktes Wesen und ein vergrämtes Gesicht hatte.
»Besuch für dich, Prisca. Frau Pirngruber hat gehört, du reisest nach Rom, wo sie eine Tochter hat. Sie sagt, ihre Tochter sei mit dir zusammen in die Schule gegangen.«
Prisca erinnerte sich sofort der hübschen, lustigen Fanni Pirngruber. Auch daß sie schon seit vier Jahren in Rom sei, fiel ihr jetzt ein. Sie freute sich sehr, dort eine Schulkameradin wiederzufinden, und fragte nach ihrer Adresse.
»Ich habe sie Ihnen aufgeschrieben mitgebracht, denn ich wollte Sie recht sehr bitten, sich einmal nach unsrer Fanni umzusehen. Wir hören gar nichts mehr von dem Kinde; es ist gewiß etwas mit ihr geschehen. Aber was? Als sie damals vor vier Jahren nach Rom ging, meinten wir, sie käme direkt in den Himmel, da doch in Rom der Heilige Vater ist und Sankt Peter, der den Himmelsschlüssel hat. Und ihre Stelle als Bonne für die beiden kleinen Mädchen des Herrn Cavaliere – den Namen kann unsereins nicht aussprechen; er steht hier aber aufgeschrieben ... Sehen Sie, liebes Fräulein Auzinger, fünfzig Mark monatlich und freie Station, und dann in Rom, wohin doch immer gewallfahrtet wird, und wo mehr Kirchen sein sollen als bei uns Häuser – unsre Fanni konnte sich ja gar nichts Besseres wünschen. Alle Monat schrieb sie, schickte Geld und tat, als wäre sie im gelobten Lande. Denken Sie sich, alle Tage Wein! Die Kinder waren nett, die Frau Cavaliere kümmerte sich im Hause rein um gar nichts, und der Herr – na, der muß so ein rechter Welscher sein; die Fanni mochte ihn nicht ausstehen, was mir ganz lieb war. Denn bei solchen Italienern weiß man ja gar nicht, wie sie eigentlich sind. Aber dann weniger, immer weniger Briefe.
»›Was denn wäre?‹ fragten wir. – ›Nichts wäre‹, antwortete sie. ›In Rom gäbe es jetzt schlechte Luft, die könnte sie nicht vertragen, und einmal hätte sie auch schon das römische Fieber gehabt.‹ ›Da sollte sie doch nach Hause kommen,‹ schrieben wir. ›Das könne sie nicht, der Kinder wegen. Die Frau Cavaliere bekümmere sich eben um rein gar nichts, und sie müsse der Kinder wegen dableiben.‹ Das war ja nun brav von der Fanni. Und von ihm, dem Herrn Caoaliere, keine Silbe.
»Jetzt schreibt sie fast nie mehr, schickt auch kein Geld, so not es uns tut bei den schweren Zeiten. Und älter wird man auch. Und alles ist hier so teuer. Bitten möchten wir die Fanni nicht. Wozu erst bitten? Sie weiß es ja.
»Und wenn sie uns einmal schreibt, merkt man, daß es sehr vergnügt klingen soll. Es klingt aber sehr traurig. Von der schlechten Luft und dem römischen Fieber kein Wort mehr. Auch von der Frau und dem Herrn Cavaliere kein Wort. Nur immer von den Kindern: sie müsse und müsse bei den Kindern bleiben.
»Was sollen wir tun? Liebes Fräulein, nicht wahr, Sie besuchen unsre Fanni und schreiben uns, wie es ihr geht?«
Prisca tröstete die bekümmerte Frau und versprach der Dankbaren, ihre Tochter sofort aufzusuchen. Nach ihrem Weggang blieb sie in nachdenklicher Stimmung zurück.
Aber nun trat Gismonda ihr Herrscheramt an. Mit hundert kleinen, listigen Künsten verstand sie es, ihrer lieben Langen über die tiefe Wehmut der letzten Stunden des Beisammenseins hinwegzuhelfen.
*
Priscas Reisetag fiel in die letzte Novemberwoche und war so dunkel wie des Glöckleins Gemüt. Die kleine Dame hielt sich jedoch tapfer. Sie schwärmte von dem blauen Himmel Roms, beschwor ihre liebe Lange, für die Bilder Ihrer Hoheiten dann und wann in einem Schächtelchen frische Blumen zu schicken – so recht mitten im Winter! und unterdrückte, Prisca zuliebe, jeden Ausbruch von Mißtrauen gegen die Italiener, die ihr nun einmal in tiefster Seele verhaßt waren.
Natürlich fuhr sie mit zur Bahn, dermaßen in herzogliche Tücher eingewickelt, daß sie sich unter Priscas Siebensachen wie ein Stück Handgepäck ausnahm. Auf dem Perron trippelte sie eilfertig neben ihrer letzten und liebsten Freundin auf der Welt her und rief in hellstem Glockenton:
»Rom, zweite Klasse!«
Dann stellte sie sich vor der offenen Coupétür auf das Trittbrett und schien Lust zu haben, dem Schaffner, als er die Tür schließen wollte, mit ihrem gewaltigen Regenschirm zu Leibe zu gehen. Jedenfalls wich sie nicht eher, als bis sie ein in weißes Seidenpapier gewickeltes, mit rosa Seidenband gebundenes Paket Schokolade aus der Tasche gezerrt hatte. Das schleuderte sie in den Wagen, der sich bereits in Bewegung setzte, schluchzte laut, sprang vom Trittbrett herab und stürzte davon.
Ohne sich an das Lachen der Leute zu kehren, lief sie zum Bahnhof hinaus. Bitterlich weinend stieg sie in ihren Schwabinger Tram, kehrte sie in ihre einsame Solitude zurück. Zu Mittag gab es ein winziges Stückchen Rindfleisch, das in einer wässerigen Brühe schwamm, und zum erstenmal lag dazu kein Menü der Hoftafel auf.
6. Die Fahrt ins gelobte Land
An diesem Tage fiel Priscas letzter Blick aus dem Wagenfenster unmittelbar hinter Ala auf lange Strecken öder Schneefelder.