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wandte ihm mein Gesicht zu.

      »Überzeugen Sie sich selbst von meiner Kraft. Ich, die ich mich vorhin rühmte, alles hören zu können, habe gleich im Anfang geweint!«

      »Das tut auch im vierten Akt die Heldin, die im fünften mit erschreckender Großartigkeit stirbt. Und nun sind wir tapfer!«

      Er reichte mir seine Hand.

      »Das sind wir,« bestätigte ich. »Seien Sie also ganz strenger, rücksichtsloser Arzt.«

      Er stand auf und ging im Zimmer umher. Als er wieder zu mir trat, erschien er mir noch bleicher als sonst.

      »Wie vermag ich mich zu einer tüchtigen Künstlerin auszubilden?«

      »Einfach dadurch, daß Sie in Ihrer Kunst dasselbe werden, was Sie als Mensch sind: eine Natur.«

      »Das klingt mir so geheimnisvoll. Sie müssen es mir in meiner Sprache sagen.«

      »Ohne auf Goethes Definition dieses mystischen Ausdruckes zurückzugreifen, möchte ich bei einem Menschen dasjenige seine Natur nennen, was sich in ihm entwickelt und gedeiht in derselben notwendigen naturgemäßen Einfachheit, mit derselben rücksichtslosen Vollkraft, mit der die Natur selbst wirkt und ihre eigenen Gesetze erfüllt. Auf den Menschen angewandt, scheint man mir damit nichts anderes bezeichnen zu wollen, als einen ganzen, vollen urkräftigen Menschen. Gebraucht nun solch eine kräftig ausgestattete Menschennatur zu ihrer Veredlung künstliche Mittel, so pflegt sich das gewöhnlich schwer zu rächen. Sie trägt so viel Krankes in sich, entwickelt so vielen Krankheitsstoff! Ein ehrlicher Arzt muß seinen Kopf dazu schütteln und besorgt der modernen Menschheit den Puls fühlen. Sie fiebert!

      Da sind vor allem unsere modernen Frauen. Wollte man heutzutage mit unseren kranken, schönen Unnaturen ein Spital füllen – es müßte ein Riesengebäude sein!

      Und denken Sie sich: wenn ich auch Sie als Patientin aufnehmen müßte.«

      Neuntes Kapitel

       Mein lieber Arzt fängt seine Kur an

       Inhaltsverzeichnis

      Es war dunkel geworden. Luise brachte die Lampe und schielte mißtrauisch zu uns herüber. Heftig den Kopf schüttelnd, ging sie wieder hinaus.

      »Aber das wäre ja ein Stümper von Arzt, der nur sagt: Du bist krank und nicht auch: Ich mache dich wieder gesund!«

      Und mein lieber Arzt fing sogleich seine Kur an,

      »Als Radikalmittel muß ich sofortiges Verlassen der Akademie anordnen, dieser Brütanstalt künstlerischer Unnatur, über die wir hier kein Wort weiter verlieren wollen.

      Das ist Gewaltmittel Nummer eins. Mittel Nummer zwei, ebenso gewaltsam, ebenso heilsam: Sofortige Treulosigkeit gegen Ihren großen Mann.

      Mein liebes Fräulein Rolla, beste Freundin – seien Sie ehrlich, seien Sie tapfer! Was haben Sie bei ihm gelernt? Etwas allerdings: Wie Sie es anfangen müssen, um – keine Künstlerin zu werden. Überlegen Sie es doch einmal selbst. – – Dieser Mann hat einen großen Ruf: Aus allen Gegenden Deutschlands läuft man ihm das Haus ein: ›Verehrter Herr, hier bin ich und ich will ein großer Künstler werden.‹ Die erste gewichtige Frage, die dem eifrigen Kunstjünger höchst kaltblütig gestellt wird, ist: Haben Sie Mittel? Erst die zweite lautet: Haben Sie Talent? Frage Nummer eins kann durch klangvolle Beantwortung erledigt werden; Nummer zwei nur durch Prüfung.

      ›Sprechen Sie etwas!‹ – – Sie sprechen etwas; vielmehr Sie deklamieren etwas. Es tönt prächtig, pathetisch, wundervoll.

      Sehr bald unterbricht man Sie: ›Es ist gut, Sie haben Talent!‹ Sie haben vielleicht kein Talent; aber, Sie haben etwas, das besser ist als Talent; Mittel.

      Oder Ihr großer Mann kann auch sagen: ›Es ist schlecht, Sie sind talentlos.‹ Das sind Sie vielleicht nicht, aber – – Doch bleiben wir bei dem ersten Fall. Seine unausbleibliche Folge ist: Beginnender Künstlerwahnsinn: Der große Mann hat Sie geprüft, der große Mann hat Sie talentvoll gefunden; ergo – Sie fühlen sich bereits, als die Künstlerin, die Sie nie sein werden.

      Sie, nun – Sie haben Talent und zwar ein so tüchtiges, daß jener große Mann Sie unfehlbar zu seiner Schülerin genommen haben würde, selbst wenn Sie in einem Kattunkleide zu ihm gekommen wären.

      Er unterrichtet Sie, lehrt Sie, ›bildet Sie aus‹.

      Lassen Sie uns doch ein wenig näher ansehen, was er Sie lehrt.

      Er studiert mit Ihnen; das heißt: er nimmt eine gewisse Anzahl von Rollen mit Ihnen durch, je nach Ihrem Talent tragisch oder naiv. In einer merkwürdig meisterhaften Weise werden Sie angeleitet, gewissen Gefühlen gewissen Ausdruck zu geben – – Da stoßen wir bereits auf den bedenklichen Punkt. Wie können Sie in etwas so Innerlichem und Individuellem, wie die Empfindung es ist, ›unterrichtet‹ werden.

      Sie werden mir antworten: ›Aber ich fühle es ja!‹ Liebes, gutes, harmloses Kind! Mit sechzehn Jahren bildet man sich allerdings ein, und das, wie mächtig! alles Irdische und Unirdische fühlen zu können. Sie sind ergriffen, tief und schmerzlich; Sie sind begeistert, gut und heilig. Aber damit ist es nicht getan.

      Bedenken Sie doch nur: Sechzehn Jahre! Zitieren Sie sich selbst Lady Milford! Sechzehn Jahre! Der erste Pulsschlag, und so weiter – – Mit diesen wunderschönen, jungen, sechzehn Jahren – Gott erhalte Ihnen Ihre Unschuld! studiert jener große Mann mit Ihnen ein: Maria Stuart, Jungfrau von Orleans, die Eboli und – – Das ist ja Wahnsinn! Einstudieren, tragische Leidenschaften einstudieren! Gefühle, die Sie nicht fühlen – nicht fühlen können, sollen Sie einstudieren, sollen Sie zu einem überzeugenden, erschütternden Eindruck bringen?!

      Lassen wir jedoch das Problematische jenes Unterrichts völlig fallen und sehen wir nur zu: wie der Mann es macht.

      Er hat ein Dutzend, zwei Dutzend Schülerinnen. Sind es so viele? Gut! Von diesen vierundzwanzig jungen Damen bereitet der Mann (fürchterlicher Gedanke) etwa zwei Drittel für das tragische Fach vor. Sind es so viele? Gut! Bei diesen sechzehn zukünftigen Bühnengrößen ist von einer künstlerischen und menschlichen Individualität natürlich nicht die Rede – kann nicht die Rede sein. Natur, Individualität! – Sie würden den Herrn Direktor jedenfalls in nicht geringe Verlegenheit setzen. Was sollte der Mann auch damit anfangen?! Ihm ist die Individualitätslosigkeit, die Unnatur seiner Schülerinnen ganz recht; denn die Unfähigkeit, eine Persönlichkeit zu sein, ist ja die erste, notwendige Voraussetzung, unter welcher er jeder, hören Sie wohl, jeder der sechzehn zukünftigen Bühnengrößen seine dramatischen Charaktere einstudieren kann; für alle, hören Sie wohl: für alle immer dieselben!

      Er, Ihr großer Mann, kennt nur eine Maria Stuart, nur ein Gretchen; er hat einen einzigen Schuh, in den hinein er alle Füße zwängt. Und man kann es dem Mann nicht einmal verdenken. Nun stellen Sie sich diese Versammlung von Gretchen, Luisen und Marien vor. Hundert reichen nicht, die aus der Fabrik des großen Mannes auf alle Bühnen versendet werden: alle ein und dieselben, alle Exemplare einer Gattung, alle mit dem Stempel ihres Fabrikanten.

      Man braucht den Mann deswegen nicht zu verachten. Er hat ein großes Talent zum Reproduzieren. Die geniale Produktion mußte er anderen überlassen: eben den großen Urbildern seiner Gretchen, Luisen und Marien!

      Damit ist wohl zur Genüge erklärt, wie fürchterlich typisch so vieles ist, was wir auf den Bühnen an klassischen Figuren zu sehen bekommen. Hat doch dieser große Mann eine ganze Legion anderer Kleinerer hinter sich, die ihm sämtlich mühsam ablauschen, wie er sich räuspert und wie er spuckt.

      Es ist trostlos!

      Wie das arme Gretchen immer in blonden Zöpfen und im blauen Kleid gespielt wird – gespielt werden muß! so ist es auch mit der Seele des guten Kindes beschaffen: von jedem Wort ist bestimmt, wie es zu sprechen sei: so und nicht anders! Jede Bewegung, jede Gebärde ist festgesetzt. Sogar jede Spielerei im Spiel – man bezeichnet

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