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Tante Ritter, diese so sehr vortreffliche Frau, genügt mir nicht. Mein Verhältnis zur Welt als Onkel genügt mir nicht. Mein Beruf, meine Leibschwaben, meine Freunde, das alles genügt mir nicht. Ich sehne mich nach einer Ergänzung, Leopold! Ich mache noch immer lyrische Gedichte, worin ich mich nach dieser Ergänzung sehne. Ich hole sogar zuweilen noch meine Flöte wieder hervor, um auf ihr auszudrücken, daß ich mich sehne. Zuweilen, im Verlauf dieses Jahres, hab' ich geglaubt, es sei die Sehnsucht nach dir; habe Briefe an dich geschrieben, wie an eine Geliebte – unterbrich mich nicht – verrückte Briefe —«

      »Die ich nicht kenne,« fiel Leopold ein.

      »Nein. Ich hab' sie nicht abgeschickt. Sie liegen noch in meinem Schreibtisch; nie wirst du sie lesen. Ich liebe dich sehr, mein Sohn; ich sonne mich in dir; – aber auch du bist mir diese Ergänzung nicht. Du bist mir zu positiv; zu klar; – sagen wir, zu männlich. ›Was von Menschen nicht gewußt, oder nicht bedacht‹ – so eine Ergänzung mein' ich.«

      »Eine weibliche Ergänzung also,« sagte Leopold lächelnd.

      »Mein lieber Sohn,« erwiderte Fridolin,

      »Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort,

      Das schwer sich handhabt wie des Messers Schneide!

      Eine weibliche —! Natürlich. Man sieht mich an, sieht meinen schönen Bart, und sagt: ›eine weibliche Ergänzung!‹ – Laß mich darauf folgendes antworten – und stell dich nicht immer von einem Bein aufs andere, steh ein wenig still. Warum heirat' ich nicht? Warum hab' ich deine schöne Schwester geliebt, und dann auf ihrer Hochzeit mit einer andern – Kotillon getanzt? Warum hat mein Bruder, der Franz, die Kinder mit meiner Schwägerin Therese erzeugt, die jetzt seine Neffen wären, wenn ich Therese ebensosehr geheiratet, wie geliebt hätte? Warum bin ich vierzig Jahre alt geworden, ohne zu heiraten? Warum werd' ich fünfzig, sechzig, siebzig Jahre alt werden und nicht geheiratet haben? Warum? – Mein teurer Leopold, weil ich – —«

      Er brach ab und versank in geheimnisvolles Schweigen.

      »Nun?« fragte Leopold.

      Fridolin verließ seinen Baum, trat auf den Jüngling zu und blieb vor ihm stehn. Nachdem er dann sein sanftes Auge hatte umherschweifen lassen, ob irgend ein dritter ihn vernehmen könnte – doch kein Mensch war in dieser nächtlichen Oede zu sehen – sagte er mit scheinbarer Gelassenheit:

      »Weil ich in einer heimlichen Ehe lebe, mein Sohn.«

      Er beobachtete die Wirkung dieser Worte auf Leopolds Gesicht. Die klugen, geistreichen Züge des Jünglings gerieten so außer Fassung, daß er einem einfältigen Menschen sehr ähnlich sah. Fridolin schlug ihm auf die Schulter, mit einem elegischen Lächeln: »Soll ich dir sagen, Leo, wie du in diesem Augenblick aussiehst? Nicht wie der weise Schweiger Oranien vor seinem Egmont – wie du mich früher nanntest. Nicht wie Goethe vor Napoleon. Sondern wie jener Leutnant, der nachts vor Dummheit nicht schlafen konnte.«

      »Eine heimliche Ehe!« sagte Leopold endlich. »Ich denke nur noch nach, ob ich dir ein Wort davon glauben soll, oder nicht.«

      »Mein teurer Leopold! ›Wer darf sagen, ich glaub' es? Wer darf sagen, ich glaub' es nicht?‹ – Fasse dich, Leo. Es handelt sich um eine jener heimlichen Ehen, die sich vor den Augen der Menschen ereignen, ohne daß sie sie sehn. Um eine Naturerscheinung. Um eine psychologische Thatsache!«

      Leopold konnte nicht umhin, seine Augen noch weiter als vorhin zu öffnen. Fridolin freute sich dieser Wirkung. Er zündete sich dann, seine Ueberlegenheit genießend, mit behaglicher Ruhe eine Zigarre an, ohne zu sprechen. Es war hier windstille Luft. Er blies den Rauch kunstvoll in untadelhaften blauen Ringen nach oben, wo sie langsam verschwebten, bis er endlich fortfuhr: »Du erwartest schweigend, wie ein Philosoph, was ich zur Erläuterung dieses Satzes sagen werde. Darin erkenn' ich dich. Darin gefällst du mir. Ich will dich zum Dank dafür mit jenem zu Tode citierten Worte Hamlets von den ›Dingen im Himmel und auf Erden‹ und von der ›sich nichts träumen lassenden Schulweisheit‹ verschonen-, obwohl es mein Vorrecht ist, dein Dasein durch klassische Citate zu schmücken. Und nachdem ich dich nun lange genug auf dem Stuhl der Erwartung habe sitzen lassen, werde ich, der Kunstprofessor, dir, dem Naturforscher, ein Geheimnis der Natur enthüllen, mein Sohn.«

      »Ich höre!«

      »Gut. Du hörst. Ich rede. Was unterscheidet die Kunst von der Natur? Daß die Kunst das in sich Abgeschlossene, ewig Fertige, die Natur das ewig Werdende und Vergehende, ewig Unfertige ist. Die Kunst duldet keine Grenzenlosigkeit, die Natur keine Grenze. Nehmen wir an, die Natur hätte – als ihr höchstes irdisches Gebilde – den Menschen hervorgebracht. Hat sie ihn als eine abgeschlossene, fertige Einheit hervorgebracht? Nein. In ebenso vielen Formen und Farben, als es Individuen gibt. Der thörichte Laie sagt: sie hat den weißen, den schwarzen, den roten Menschen geschaffen. Die höheren Intelligenzen – du und ich – wir sagen: es gibt nicht den weißen, den schwarzen und den roten Menschen, sondern es gibt alles, was es geben kann; vom weißesten Weiß durch alle Möglichkeiten der Verdunkelung bis zum schwärzesten Schwarz. Es fehlt kein Uebergang, es fehlt keine Verbindung. Könnte man alle Menschen dieser Erde in einer Reihe nebeneinander stellen, nach ihrer Hautfarbe geordnet, vom hellsten Albino bis zum verfinstertsten Neger, so würde jener thörichte Laie trotz aller Mühe nirgends eine Grenze finden, wo die eine Farbe aufhört und die andere beginnt. Er würde ganz vergebens eine Lücke suchen. Oder wenn er endlich den Triumph erlebte, zwischen zwei Menschen die sie verschmelzende kleine Schattierung zu vermissen, so würde ihm der Weltgeist auf die Schulter klopfen und sagen: ›Mein Sohn, stelle du dich zwischen diese beiden Menschen; denn diese Schattierung bist du.‹«

      Leopold mußte lachen.

      »Lachst du,« fragte Fridolin, »über meine Darstellung oder über die Sache? Gibst du die Richtigkeit meines Satzes zu?«

      »Ich bin entschlossen, sie zuzugeben, Fridolin,« antwortete Leopold.

      »Gut. Du bist entschlossen. Wie hat diese selbe Natur es mit diesem selben Menschen in Hinsicht seines Geschlechts gemacht? Fragen wir den thörichten Laien! Der thörichte Laie – der ewig thörichte – antwortet: Die Natur schuf den Mann und schuf die Frau; und weiter nichts. Fragen wir ihn weiter: Und es ist also jeder Mann einfach ein rechter Mann, jede Frau einfach eine rechte Frau? Wenn du die Menschen deiner Bekanntschaft auf ihre geistige Beschaffenheit, auf ihr Gemüt, auf ihren Charakter ansiehst, findest du, mein Lieber, daß jeder Mann durchaus männlich, jedes Weib durchaus weiblich geartet ist? Oder findest du, daß es hier sonderbare Abweichungen und Ausnahmen gibt? – Er nickt. – Wenige? Viele? – Er nickt. – Sanfte, starke, ungeheuerliche? Mannweiber? Weibmänner? – Er nickt. Es gibt alles. Er nickt, notgedrungen, zu allem! – Nun, mein thörichter Laie, so laß uns höhere Intelligenzen dir sagen, daß diese sogenannten ›Abweichungen‹ und ›Ausnahmen‹ auch hier nur die unzähligen Uebergänge, Zwischenglieder der grenzenlosen Natur sind; daß sie auch hier keine Grenze, keine Lücke kennt. Wir werden dir abermals alle Menschen der Erde nebeneinander stellen, diesmal nach den seelischen Eigenschaften des Geschlechts, vom Nordpol der Männlichkeit bis zum Südpol der Weiblichkeit geordnet; und wenn dann der Weltgeist die Gewogenheit hat, dir auf einen Augenblick seinen alles durchdringenden Weltblick zu leihen, so wirst du zur Beschämung deines blöden Geistes wahrnehmen, daß vom männlichsten Mann bis zum weiblichsten Weib keine Schattierung, keine Möglichkeit fehlt. Daß es unter anderm in der Mitte dieser langen Reihe sehr merkwürdige Wesen – sagen wir nicht ›Ausnahmen‹, sondern ›Uebergangsmenschen‹ – gibt, die, was ihre liebe Seele betrifft, ungefähr ebenso viel vom Manne wie vom Weibe haben; die männlichen Verstand haben und weibliches Empfinden – oder weiblichen Geist und männlichen Charakter – oder alles aus Männlichem und Weiblichem gemischt. Die daher ihre Ergänzung – da ja jedes Geschlecht nach seiner geistigen Ergänzung strebt – sowohl nach rechts als nach links, sowohl beim Manne als beim Weibe suchen; deren seelische Magnetnadel bald nach dem Nordpol der Männlichkeit, bald nach dem Südpol des Weiblichen zeigt. Die man« (Fridolin seufzte) – »die man leider tragische Erscheinungen nennen muß: denn sie suchen ihre Ergänzung, aber sie finden sie nicht. Suchen sie den Mann? Nur die weibliche Hälfte ihrer Seele sticht den Mann. Die andere Hälfte nicht; sie hat den Mann in sich selbst. Suchen sie die Frau? Nur diese andere

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