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Monat bezahlt. Jule träumt immer noch davon, eines Tages einen festen Job zu haben. Einen, der ihr kleines Leben finanziert. Und dieses Interview wird Jule wieder einen kleinen Schritt weiter in Richtung Redaktionsjob bringen.

      Fast sechs Wochen lang hat sie Briefe in die Haftanstalt geschrieben.

      Briefe!

      Echt mal!

      Den letzten Brief hat Jule in der sechsten Klasse geschrieben. Wo der Lehrer eine Stunde lang Zeit hatte, den Kindern das praktische Leben beizubringen. Brief schreiben. Überweisung ausfüllen. Pausenklingeln.

      Herzlichen Glückwunsch, jetzt seid ihr reif für die böse Welt da draußen.

      Schon damals hat niemand mehr wirklich Briefe geschrieben. Und Überweisungszettel ausgefüllt schon mal gar nicht. Alles online. Aber Lehrer gewöhnen sich nicht gerne ans digitale Leben. Lehrer sind im Grunde ihres Herzens analog.

      Immerhin ist es Jule gelungen, mit ihren Briefen Käthe Heuers Vertrauen zu gewinnen. Das Interview zu bekommen.

      Komische Tante, hat Jule mehr als einmal gedacht. Wie die sich angestellt hat. Und dauernd kamen Fragen über Jules Privatleben. Wo kommen Sie her? Wie geht’s Ihren Eltern? Was haben Sie für Hobbys?

      Gibt’s im Knast keinen Fernseher? Müssen Mörderinnen ihren Besuch ausfragen?

      Jule ist das wurscht. Sie hat der alten Eule brav geantwortet. Und sie hat den Termin. Und das Interview wird ziemlich gut bezahlt.

      Mehr ist nicht wichtig.

      Käthe erwartet ihren Besuch im Gewächshaus.

      Das ist eigentlich nicht erlaubt. Dafür gibt es den Besucherraum. Aber inzwischen ist Käthe so eine Art „Attraktion“ im Gefängnis. Die, die sich besser um das Grünzeug kümmert, als jede andere zuvor. Die, die diese Bücher schreibt. Und zwar nicht darüber, wie der Knast sie von einer Bestie zu einem besseren Menschen verwandelt hat. Oder wie sie zu Gott gefunden hat oder den üblichen Scheiß.

      Käthe schreibt übers Gärtnern. Das ist nett. Das ist friedlich. Das mögen die Leute. Und die JVA-Direktion mag es, wenn die Öffentlichkeit denkt, Resozialisierung würde funktionieren.

      Eine aus Tausend.

      Yeah.

      Käthe genießt also jede Menge Vergünstigungen. Das Interview im Gewächshaus gehört dazu.

      Jule betritt den Flachbau im hinteren Hof. Eine – teilweise ziemlich rostige – Konstruktion aus Metall. Die Wände gläsern. Sie sind ziemlich blind inzwischen, und teilweise ist eine fehlende Scheibe durch Plastikfolie ersetzt worden. Aber das ist egal. Es geht ja nur darum, dass das Sonnenlicht reinkommt und drin bleibt. Dass es sich aufheizt. Dass die kleinen Setzlinge auch in den kalten Monaten wachsen können. Die Grundlage fürs Gärtnern in Gewächshäusern.

      Jule atmet die feuchte, stickige Luft ein. So, wie man nach dem Duschen im Bad atmet. Sofort hat man einen dünnen Film aus Feuchtigkeit auf der Haut. Tropisch, schon fast.

      Nur leider eben kein warmes Duschwasser, sondern Schweiß. Wie kann man hier drin sein halbes Leben verbringen?

      Andererseits befindet sich ohnehin ständig die „wie kann man nur“-Frage im Raum.

      Wie kann man nur in diesem Dreckloch Salat und Gurken ziehen?

      Wie kann man nur weiterleben, nachdem man vier Kinder getötet hat?

      Wie kann man nur? Jule schiebt das weg.

      Sie ist Profi.

      „Hallo, Frau Heuer.“

      „Sie können ruhig ‚Käthe‘ sagen. Und ‚Jule‘ ist für Sie auch in Ordnung?“

      „Ja. Frau … ja, Käthe.“

      „Du ist noch praktischer.“

      „Also ich … äh …“

      „Ich darf dir das Du anbieten. Ich bin die Ältere. Ich könnte deine Mutter sein.“

      Und dann bekommt Jule ihre erste Gänsehaut. Denn Käthe lacht. Da muss man unwillkürlich mit dem Atmen eine Pause machen. Und das fühlt sich dann an, als ob man erstickt. Jule neigt eher weniger zu Panikattacken. Aber irgendwas macht dieses weiche, gluckernde Lachen, dass man sich vorkommt, als würde man an den Busen einer dicken Tante gedrückt – die brachiale Liebe drückt einem die Luft ab.

      Notiz an mich selbst, denkt Jule: Bring diese Frau nicht zum Lachen.

      Dann läuft es ganz gut. Jule und Käthe sind per du. Käthe berichtet begeistert, wie sie zu ihrem Buch gekommen ist. Wie wichtig die Briefe der Leser sind. Wie unendlich groß die Vielfalt von überdachten Beeten ist.

      Bla, bla, bla.

      Jules kleiner Rekorder läuft. Die Speicherkarte füllt sich. Was wird das wieder für ein Horror, das ganze Zeug abzuhören, um die zwei oder drei prägnanten Sätze rauszufischen, die zitat-tauglich sind. Na, schön.

      „Tut mir leid, dass du so eine schwierige Kindheit hattest.“

      Wie bitte?

      „Ich werde nie verstehen, wie Leute ihre Kinder einfach wegwerfen können. Und andere bemühen sich ihr Leben lang, Kinder zu haben und bekommen keine.“

      Jule muss schlucken. Ihr ist klar, dass sie zwei Fehler gemacht hat.

      Erstens hat sie in dem endlosen Briefwechsel zu viele private Fragen beantwortet.

      Zweitens hat Jule keinen anständigen Beruf gelernt. Man muss doch sein Geld auch anders verdienen können, als sich mit gestörten Gärtnerinnen zu unterhalten.

      Jule denkt kurz nach. Will sie jetzt wirklich über ihre Kindheit sprechen? Und dann auch noch auf diese blöde Art? Oder kann Jule jetzt mal aufhören, nett und verbindlich zu sein?

      Jule nimmt die zweite Möglichkeit:

      „ … andere bemühen sich ein Leben lang …?

      „Ja.“

      „Warum sagst du sowas?“

      „Weil Kinder ein Geschenk sind … das Größte …“

      Jule wird jetzt echt unprofessionell. Und wütend. Und sie riskiert, dass die alte Hexe ihre Zustimmung nachträglich zurückzieht. Dass dieses ganze Interview jetzt gelaufen ist. Aber Jule muss es einfach sagen. Sie muss Käthe unterbrechen und ihre Frage nochmal stellen. Diesmal mit der richtigen Betonung:

      „Warum sagst DU sowas?!“

      Käthe zuckt zusammen. Lächelt kurz dieses komische Flacker-Lächeln, das Jule schon am Anfang nervös gemacht hat. Es fühlt sich an, wie das Zischen einer Zündschnur vor der Explosion. Wie das Knacken, bevor die Leitersprosse bricht.

      Das Lächeln, das den Irrsinn ankündigt.

      Zum Kotzen eklig.

      Käthe weicht Jules Blick aus. Zupft an ihren erdigen, grünen Gärtnerhandschuhen rum, die sie nie auszieht.

      „Ich war eine gute Mutter. Wenn du das meinst.“

      Jule dreht sich weg. Steckt den Rekorder ein und Schluss. Das muss sie sich echt nicht geben. Der Tante auch noch zuhören, wie sie sich jetzt irgendwie rechtfertigt. Und das machen sie alle. Dazu haben sie im Knast die Zeit. Sich auszudenken, dass alles in Wirklichkeit ganz anders war.

      In jedem Gefängnis lauter Unschuldige und Opfer.

      „Ich muss los.“

      Käthe hält sie fest. Am Ärmel. Käthe kommt ganz nah an Jules Gesicht.

      Es riecht nach Feuchtigkeit

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