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Besteuerung. Man kann dies als Selbstermächtigung eines in seiner Eigenlogik wuchernden Staates sehen; man kann es aber auch verstehen als die Ermöglichung der Erfüllung von Aufgaben, die von ihm erwartet werden und die sich seit dem 19. Jahrhundert explosionsartig ausgeweitet haben.

      Darüber hinaus erzieht der Staat seine Bürger. Er sorgt dafür (und erzwingt es), dass sie eine basale Bildung erhalten, auch, damit die Gesellschaft (etwa die Industriewirtschaft) fachkundiges Personal hat, mit dem sie die Mittel erwirtschaften kann, die der Staat wiederum brauchen kann. Auch für diese Aufgaben muss er Ressourcen bereitstellen, z. B. kompetente Lehrer und Schulgebäude. Während die schulische Bildung im 19. Jahrhundert von vielen eher als Zwang verstanden wurde, werden schulische und Berufsausbildung heute weithin als ein elementares Menschenrecht verstanden, das man vom Staat einfordern kann. Der Staat erzieht seine Bürger darüber hinaus zu Staats-Bürgern, die ein Bewusstsein ihrer Rechte und Pflichten haben und die ein Staatsbewusstsein besitzen, das sie freiwillig mittun lässt, so dass der Staat nicht für alles Zwang ausüben muss. Der französische Philosoph Michel Foucault hat diese Art des Regierens, die auch durch die Untertanen selbst geschieht, „Gouvermentalité“ genannt.

      In den meisten von diesen Bereichen wurde der Staat seit dem 18. Jahrhundert zum Monopolisten, auch dann, wenn er diese Aufgaben von anderen bearbeiten ließ und sie nur regulierte und kontrollierte (wie etwa bei Privatschulen und -universitäten). Das macht eine weitere europäische Spezialität aus. In den meisten anderen Gesellschaften stand dem Staat, wie auch immer er sich präsentierte, ein mächtiges „Anderes“ entgegen, das solche Funktionen ebenfalls übernahm oder beanspruchte: das islamische Recht, das buddhistische Mönchtum oder auch regionale Kriegsherren, die sich auf Clans und Stammesloyalitäten stützten.28 Dass der Staat zur alleinigen Institution wurde, die Aufgaben und Wohltaten verteilte, Probleme erkannte und bearbeitete – oder von Institutionen bearbeiten ließ, die er kontrollierte – und legitimen Zwang ausübte: Das war europäisch.

      Das gilt auch für einen ganz neuen Aufgabenbereich, der seit dem späten 19. Jahrhundert dazukam: den Wohlfahrtsstaat. Er basierte überall auf kommunalen oder selbstorganisierten Instrumenten, die für die jeweiligen Gruppen spezifische Risiken abfedern sollten. Das meist kommunale Armenrecht hat überall in Europa für diejenigen, die nicht für sich selbst sorgen konnten, Sicherungsmaßnahmen vorgesehen – einigermaßen kümmerliche, und meist auf rigider Disziplinierung und Ausschluss beruhend. Oder die Angehörigen einzelner Berufsgruppen schlossen sich zusammen, um miteinander eine Versicherung gegen ihre spezifischen Berufsrisiken zu entwickeln – das waren die ersten Unfall- oder Invalidenkrankenkassen. Der Staat ist also nicht der Erfinder der Sozialpolitik. Von einer subsidiären, unterstützenden Rolle aus hat er die Aufgabe aber weithin an sich gezogen, auch wenn andere Akteure in seinem Auftrag agieren. Dieser Prozess erfolgte in den einzelnen Ländern sehr ungleichzeitig und ungleichgewichtig. Vor allem die Kriege des 20. Jahrhunderts, die auf Massenloyalität basierten, waren der Ausgangspunkt für eine zunehmende Verantwortungsübernahme im Bereich der sozialen Daseinsvorsorge: Krankheit, Invalidität, Alter, Arbeitslosigkeit, Bildung, Erholung – all diese staatlichen Aufgaben sind historisch neu und kennzeichnen den Staat im 20. Jahrhundert. Am Anfang des 21. Jahrhunderts werden andere mögliche Aufgaben des Staates diskutiert, etwa, in Bezug auf Rassismus, Gendergerechtigkeit oder sexuelle Orientierung Gerechtigkeit herzustellen und dafür auch Zwang auf Unternehmen und öffentliche Institutionen auszuüben.

      Was staatliche Aufgaben sein sollen, ist mithin nicht von vornherein umrissen. Staaten haben sich zu unterschiedlichen Zeiten um sehr unterschiedliche Dinge gekümmert und die Streubreite war und ist hoch. Infrastrukturaufgaben haben den Staat von Anfang an begleitet und sind im 20. Jahrhundert noch ausgeweitet worden – aber gerade kommunikative Infrastrukturen sind häufig in Privatinitiative aufgebaut worden.29 Nicht nur sozialistische Staaten rühmen sich einer umfassenden staatlichen Fürsorge; so ist etwa das berühmte Gesundheitssystem in Großbritannien, der National Health Service, seit seiner Gründung 1948 staatlich und durch Steuern finanziert. In den USA sind dagegen die meisten Versicherungsleistungen privat organisiert und der Staat leistet nur ein Minimum. Es gab und gibt Staaten mit einer hohen und solche mit einer niedrigen Steuerquote, in manchen Ländern liegt die Staatsquote (also der Anteil des Bruttoinlandsprodukts, der staatlich erwirtschaftet wird) bei weit über 50 Prozent, in manchen unter 20 (so ausgerechnet im kommunistischen China). Das Verhältnis ist aber immer ähnlich: Der Staat sah sich gesellschaftlichen Forderungen gegenüber, die in irgendeiner Weise mit staatlichen Forderungen an die Gesellschaft korrespondierten. Und wenn nicht alles täuscht, dann ist der historische Trend einer der Ausweitung: mehr Erwartungen an den Staat, aber auch mehr staatliche Organisierung der Gesellschaft.

      Lange Zeit galt diese Logik zunehmender staatlicher Zuständigkeit geradezu als historisch unabweisbar. Max Weber hat im Umfeld des Ersten Weltkriegs eine umfassende Verstaatlichung der Gesellschaft als unausweichlich gesehen, durchaus skeptisch; er sah, vor allem mit Blick auf die Bürokratie, ein „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“ am Horizont.30 Er tat das aus der Erfahrung mit den europäischen Revolutionen seit 1917 und in der Erwartung eines sozialistischen Zeitalters. Damit traf er die Funktionsweise des sozialistischen Staates sehr viel genauer als die Prognosen von Marx, Engels und Lenin, die ein Absterben des Staates in der sozialistischen Gesellschaft vorhersagten (diese Prognosen sind übrigens ein frühes Beispiel für das Bewusstsein von der Historizität des Staates). Da war in der Realität des Sozialismus aber sehr viel mehr Staat, in jeder Hinsicht.

      Auch jenseits der sozialistischen Welt hat im 20. Jahrhundert die Verstaatlichung der Gesellschaft zugenommen. In der ersten Hälfte geschah das vor allem unter dem Vorzeichen des Kriegsstaates, der die gesamte Bevölkerung mobilisieren wollte. Andererseits haben schon vor 1945, erst recht aber danach, der Ausbau des Wohlfahrtsstaates und der staatlichen Steuerungskapazitäten enorme Zuwächse an Staatlichkeit mit sich gebracht. Das war aber womöglich keine Einbahnstraße, wie von Max Weber prognostiziert. Denn seit den 1970er Jahren hat der Staat sich in ganz (West-)Europa, ausgehend von den USA, aus vielen Feldern wieder zurückgezogen. Die Bahn, die Telekommunikation, die Post, viele Banken, die bis dahin staatlich waren, wurden privatisiert. In manchen Staaten werden auch Aufgaben, die man seit jeher zu den Kerngebieten staatlichen Handelns zählte, privatisiert, wie Gefängnisse oder Kriegführung. Jedoch ist neuerdings wieder deutlicher sichtbar, dass in großen Krisen – seien dies Bankenkrisen, Flüchtlingskrisen, Wohnungsnot, die Klimakrise oder Corona – dem Staat wieder eine besondere Kompetenz für die Problemlösung attestiert wird und massive Eingriffe in Wirtschaft und gesellschaftliche Prozesse akzeptiert werden. Manche befürchten umgekehrt, dass der Staat nach einer solchen Krise das Heft nicht wieder ohne Weiteres aus der Hand geben will und eine neuerliche Verstaatlichung der Gesellschaft droht. Auch die derzeit weltweit sehr erfolgreichen autoritären Regierungsmodelle operieren mit einem Staatsmodell, das – häufig sehr personalistisch – direkt in alle möglichen Bereiche, sei es Finanz-, Rechts- oder Bildungswesen, interveniert und dadurch die Frage nach der Achtung von Grund- und Freiheitsrechten aufwirft.

      Gleichzeitig mehren sich die Hinweise, dass die Staatlichkeit, wie wir sie in den letzten Jahrhunderten kannten, womöglich an ein Ende kommt: Zum einen stößt die (national-) staatliche Autorität immer mehr an ihre Grenzen durch die Verschiebung von Macht auf transnationale Wirtschaftsakteure, die sich weder um Staatsgebiet noch um Staatsvolk groß bekümmern und denen mit herkömmlichen Mitteln kaum mehr beizukommen ist. Das prominenteste Beispiel sind die Internetunternehmen, die durch ihre Ansiedlungspolitik trickreich jedwede Steuern zu vermeiden suchen. Und zum anderen konstatiert man eine Krise der Staatlichkeit außerhalb Europas, die mit „kleinen Kriegen“ und parastaatlichen Funktionen bei Drogenkartellen, fundamentalistischen Bewegungen und Warlords einhergeht. Die Failed States sind ein Thema der Politikwissenschaft und es bleibt zu diskutieren, ob das nur ein Phänomen von (aus europäischer Perspektive) peripheren Räumen ist oder ob das Scheitern von Staatlichkeit auch in der westlichen Welt bevorsteht.

      Quer dazu steht aber eine neue Form der Staatlichkeit, die sich im 20. Jahrhundert entwickelte und die Max Weber noch kaum absehen konnte: das Regieren „jenseits des Nationalstaats“ (Michael Zürn): Supranationale Organisationen oder suprastaatliche Zusammenschlüsse entwickeln staatsförmige Dynamiken, schließen Verträge ab und setzen Recht. Grenzüberschreitende Aktivitäten in der Wirtschaft, der Kommunikation,

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