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nicht schnell genug gehen. Endlich kann ich mit jemandem über alles sprechen. Ich möchte gesund werden und bemühe mich auch um die Erlaubnis, schwimmen gehen oder mich anderweitig sportlich betätigen zu dürfen. So groß ist meine Angst, dass ich unkontrolliert zunehme. Auf der einen Seite möchte ich ja gesund werden und diese ganze Essproblematik endlich hinter mir lassen, andererseits will ich dabei schlank bleiben. Also warum fange ich nicht gleich damit an und stähle meinen Körper! Hihi, da muss ich wirklich selbst lachen! Ich bekomme die Erlaubnis, zunächst zweimal wöchentlich 15 Minuten schwimmen zu gehen – wegen meines noch zu niedrigen Body-Mass-Index´. Aber der Anfang ist gemacht und ich bin wirklich motiviert.

      Doch meine gute Stimmung hält nicht lange an. Mit der Einnahme der Antidepressiva habe ich erst begonnen, da dauert es noch mindestens zwei Wochen, bis die Wirkung einsetzt. Außerdem steht Weihnachten vor der Tür. Den heiligen Abend verbringe ich allein in meinem Zimmer und mit einem kurzen Spaziergang am See. Abends sitzen die letzten verbliebenen Mädchen bei entspannter Stimmung in der Kanzel. Ich bin froh, dass ich hier sein kann und mich nicht verstellen muss. Hier kann ich so sein, wie ich bin, ich muss nicht funktionieren. Weihnachten zu Hause bedeutet vor allem viel Stress. Wer verhält sich nicht richtig, wer sagt das Verkehrte, habe ich in der Kirche vielleicht einmal mit den Augen gerollt? So viel Druck und Äußerlichkeiten. Andererseits werde ich auch etwas wehmütig, weil ich die Rituale trotz allem vermisse.

      Rückblick

      Seit frühster Kindheit an verlief bei uns der Heilige Abend nach dem gleichen Muster. Am Nachmittag wurde der Baum geschmückt und dann fuhren wir gemeinsam in die Kirche. Früher habe ich im Kinderchor und dann in der Jugendkantorei gesungen, genau wie meine Mutter auch schon in ihrer Jugend. Danach warteten wir in unseren Kinderzimmern gemeinsam mit Oma und Tante Lina. auf die Bescherung. Diese wurde dann durch das Klingeln der Glocke verkündet. Voller Vorfreude auf die Geschenke gingen mein Bruder und ich die Treppe ins Wohnzimmer hinunter, welches im Glanz des Kerzenlichtes erstrahlte. Wir sangen gemeinsam einige Weihnachtslieder und packten dann die Geschenke aus. Nach dem Essen widmeten wir uns unseren neuen Spielzeugen, Computerspielen usw., während die Erwachsenen noch einige Gläschen alkoholische Kaltgetränke zu sich nahmen, bis mein Vater schließlich auf der Couch einschlief und meine Mutter unsere Gäste nach Hause fuhr.

      Heute

      Ich bin sehr erleichtert, dass das alles dieses Jahr ohne mich stattfindet und ich hier in der Klinik am Chiemsee in Sicherheit vor dieser anstrengenden Außenwelt bin. Doch schon am 1. Weihnachtsfeiertag werde ich frühmorgens auf der Waage aus meiner schönen heilen Welt gerissen. Die Waage zeigt 44 Kilo, das sind 2,1 Kilo mehr als beim letzten Mal und bedeutet natürlich den absoluten Weltuntergang für mich. Ich male mir aus, wie dick ich wohl werde, wenn ich in diesem Tempo weiter mache. Absolute Panik und das an einem Feiertag. Kein Therapeut anwesend, keine Gespräche möglich. Ich kann in meinem Zimmer sitzen oder am See spazieren gehen. Bis auf meine Mitpatientinnen bin ich völlig auf mich allein gestellt und die haben natürlich auch mit sich zu kämpfen. So ist das hier: jeder hat sein Päckchen zu tragen.

      Am Nachmittag kommt mich dann Andi besuchen. Wir verstehen uns gut, tauschen Weihnachtsgeschenke aus und unterhalten uns einige Stunden, bis er schließlich wieder nach Hause fährt. Den restlichen Abend verbringe ich mit den wenigen Mädels, die wie ich über die Feiertage in der Klinik bleiben, und ich merke, dass ich deren Gesellschaft mehr genießen kann als die von Andi. Ich fühle mich frei und ungezwungen, das erste Mal seit Jahren!

      Die Tage zwischen Weihnachten und Silvester vergehen eher schleppend, es passiert nichts und ich bin gefrustet, weil es mir viel zu langsam geht, abgesehen von der Gewichtszunahme. Zwischen den Jahren finden keine Therapien statt. So gerne würde ich endlich alles anpacken und vorankommen. Ein weiteres Ereignis ist der Silvesterabend. Diesen möchte ich gerne zu Hause verbringen. Die Vorbereitungen für die erste Heimfahrt seit meinem Klinikaufenthalt wühlen mich auf und ich stehe dem Ganzen zwiespältig gegenüber. Letztendlich organisiere ich die Zugfahrt und versuche dann in der kurzen Zeit meines Aufenthalts, möglichst viele Menschen zu sehen. Andi holt mich vom Zug ab und wir treffen uns in Amberg in einer Kneipe mit guten Freunden (Caro und Leif), schauen im Anschluss kurz im Jugendtreff der Stadt vorbei und fahren dann nach Hause. Wie jedes Jahr zu Silvester gibt es Raclette und ich komme erstaunlich gut zurecht mit dem Essen. Kurz vor Mitternacht besuchen wir dann die Geschwister von Andi und feiern dort das neue Jahr. Am Neujahrstag machen wir zunächst einen Abstecher zu seinen und dann zu meinen Eltern und endlich geht es für mich wieder zurück in meine wohlbehütete Käseglocke. Ich bin unendlich froh, wieder zurück in meinem Zimmer zu sein und merke, dass mir der ganze Stress da draußen in der „echten“ Welt viel zu viel ist und es noch dauern wird, bis ich bereit bin, mich dem zu stellen.

      Kapitel 4

      „I hear glasses breaking as I sit up in my bed.“ - Pink

      Nach den Feiertagen geht es weiter mit der Auseinander-setzung mit meiner Vergangenheit. Unterstützt werde ich dabei von meiner Therapeutin in der Einzeltherapie.

      Eine wichtige Ursache für meine Erkrankung sehe ich definitiv in meiner Kindheit; konkret bei meinen Eltern. Das hört sich immer so grausam und unfair an: den Eltern die Schuld geben und dann ist man aus dem Schneider. So ist das aber definitiv nicht! Ich bin sehr wohl der Meinung, dass sie zur Entstehung meiner Essstörung und anderen Problematiken beigetragen haben. Sie haben mir praktisch vorgelebt, dass man ohne Leistung nichts wert ist und außerdem die Frau unter dem Mann steht. Mein Vater hat meine Mutter ständig heruntergemacht und gedemütigt. Innerhalb der Familie und auch in der Öffentlichkeit. Dabei ging es wahrscheinlich nicht unbedingt darum, sie schlecht zu machen, sondern – wie ich inzwischen begriffen habe – darum, sich selbst besser aussehen zu lassen. Anerkennung kann man nur durch besondere Leistung in der Schule oder in der Musik (vermutlich auch im Sport, aber da war ich ja sowieso ein Totalversager) erlangen und selbst dann reicht es auch nie. Das war mein ständiger Begleiter in Kindheit und vor allem Jugend: egal was ich tue und erreiche, es ist nie genug! Vielleicht schon mal ein Hinweis auf eine Essstörung. Ich muss immer mehr und mehr essen, weil ich nie satt werde. Es muss immer noch besser, noch mehr sein, ein unendlicher Hunger nach mehr Anerkennung. Diese musste ich mir dann selbst geben und das ging sehr gut in Form von Bergen an fettigem Essen. Das war dann aber der Beginn eines Teufelskreises: um etwas wert zu sein, wollte ich auch gut aussehen, was in unserer Gesellschaft eng verknüpft ist mit schlank sein. Früher hatte ich Glück und war das von selbst. Mit der Pubertät kamen dann die Probleme und auch die Kilos auf den Hüften. Ich musste mir von meinem Vater anhören, dass ich nun auch so „Elefantenstampfer“ wie meine Mutter bekäme. Nicht gerade der beste Umgang mit seiner pubertierenden, verunsicherten Tochter und auch nicht respektvoll gegenüber seiner Ehefrau. Aber dieser Ton gehörte leider zur Normalität. Neben verbalen Sticheleien kam es hin und wieder leider auch zu körperlicher Gewalt, deren Zeuge ich bereits als 12-jähriges Mädchen sein musste. Besonders eingeprägt hat sich eine Szene aus den Osterferien, als wir im Skiurlaub in den französischen Alpen waren. Ich weiß nicht mehr, worum es ging, aber plötzlich hatte mein Vater seine Hände um den Hals meiner Mutter geschlungen und drückte zu. Ich entwickelte Bärenkräfte und stürzte mich auf meinen Vater, riss ihm die Hände auseinander, sodass er locker ließ und sich schließlich abwandte. Die Erinnerungen sind nur bruchstückhaft vorhanden. Allerdings weiß ich noch, dass meine Mutter am Ende dieses Urlaubs ein blaues Auge hatte und wir auf der Heimfahrt einen Abdeckstift kaufen mussten, damit nur ja niemand aus der Verwandtschaft oder sonst jemand etwas mitbekam. Puh, bei diesen Erinnerungen wird es mir ganz komisch. Es erscheint alles so unwirklich und doch weiß ich, dass das wirklich passiert ist und einen Einfluss auf meine Entwicklung hatte. Ich will auf keinen Fall so werden wie meine Eltern. Weder so gewalttätig und eiskalt, noch will ich mich in einer Partnerschaft so behandeln lassen.

      Viele dieser Erinnerungen an meine Kindheit kann ich in der Einzeltherapie abgeklärt und emotionslos erzählen. Meine Therapeutin sagt, dass dies mein Weg sei, damit klarzukommen. Die Essstörung bedeutet für mich eine Möglichkeit der Verarbeitung. In der weiteren Therapie soll es vor allem darum gehen, den Zugang zu meinen Gefühlen wieder zu finden und auch herauszufinden, was hinter der Angst vor dem Zunehmen steckt. Was bedeutet die Gewichtszunahme denn für mich? Ist es die Angst davor, die Kontrolle zu

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