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Charles Finch: Gedächtnisverlust. Thomas Riedel
Читать онлайн.Название Charles Finch: Gedächtnisverlust
Год выпуска 0
isbn 9783746756769
Автор произведения Thomas Riedel
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Bei der Frau, von der Sie sprechen, handelt es sich um Alexandra Whiteman. Sie ist die Gattin des Ermordeten.«
»Sie … Sie schien zu denken, dass ich … Aber ich sage Ihnen: Ich habe diesen Mann nie zuvor gesehen … und auch seine Frau nicht … genauso wie den Rest dieser Menschen! Alles was ich weiß ist, dass mir das hier alles völlig fremd ist … und das es einen Mord gegeben hat ... Und ja, ich kenne Ihren Namen, der, wie Sie mir vorhin sagten, James Pontypool lautet, und das Sie ein Anwalt der Krone sind ... Wenn Sie tatsächlich ein Mann sind, der sich für das Recht einsetzt, dann helfen Sie mir … Und vor Gott, ich schwöre es Ihnen: Ich weiß nichts weiter!«
Pontypools Streichholz flammte auf als er sich eine weitere Zigarette ansteckte. »Und Sie bleiben weiterhin dabei, dass Sie Miss Bridget Whiteman nicht kennen?«
»Ja … Ich kenne sie wirklich nicht!«
Der Kronanwalt erhob sich von der Stuhllehne und schritt zur Tür. Er öffnete und winkte den Beamten heran, der in der Halle gewartet hatte. »Suchen Sie Miss Whiteman auf und bitten Sie sie herzukommen.«
Während er im Türrahmen wartete, bedeckte Dustin Steel das Gesicht mit seinen Händen. Einige Minuten später hörte er eilige Schritte in der Halle. Gleich darauf erschien eine junge Frau in der Tür. Ihre dunklen Haare fielen offen über ihre Schultern. Sie trug ein dünnes, blaues Seidengewand über einem leicht verknitterten Nachtrock. Ihre Füße steckten in grauen Filzpantoffeln. Sie hatte Pontypool mit keinem Blick gewürdigt, öffnete ihren Mund, um zu sprechen, änderte aber ihre Meinung und lief schnell zu Dustin Steel hinüber. Neben seinem Sessel ging sie auf die Knie und nahm eine seiner Hände in die ihre. »Dustin! Dustin, mein Liebster!«
Steel sah sie aus nicht erkennenden leeren Augen an. »Es tut mir leid, Miss Whiteman«, murmelte er. »Es tut mir schrecklich leid, aber ich …«
»Ist schon gut, Dustin«, unterbrach sie ihn mit sanfter Stimme. »Es wird alles wieder gut werden, glaub mir.« Sie erhob sich und blickte Pontypool scharf an. »Was haben Sie mit ihm gemacht?«, fragte sie fordernd.
»Gemacht? Ich habe gar nichts mit ihm gemacht«, erwiderte Pontypool ebenso scharf. »Lassen Sie mich offen fragen, Miss Whiteman: Nehmen Sie ihm sein zur Schau getragenes Verhalten ab?«
»Zur Schau getragenes Verhalten?« Bridget Whitemans Stimme flammte wütend auf. »Ja, sind Sie denn völlig von Blindheit geschlagen, Mr. Pontypool? Können oder wollen Sie nicht sehen, dass er Ihnen nichts vorspielt? Irgendetwas ist mit ihm geschehen ... Warum lassen Sie ihn nicht einfach in Ruhe? Haben Sie sich in Ihrer Tätersuche bereits festgelegt und wollen ihm keine Chance geben?«
Pontypool blies langsam den Zigarettenrauch durch die Nase aus. »Das ist alles für den Augenblick, Miss Whiteman«, gab er gelassen zurück, ohne auf ihren Vorwurf einzugehen.
Sie wandte sich wieder an Dustin Steel. »Ich werde immer in der Nähe sein, Dustin«, lächelte sie ihm zu. »Wann immer du mich brauchst, ich bin sofort für dich da.« Mit diesen Worten verließ sie das Arbeitszimmer und zog die Tür hinter sich kräftig ins Schloss.
Pontypool durchquerte mehrmal wortlos den Raum, machte kehrt und stoppte dann unmittelbar neben Steels Sessel. »Wollen Sie mir ernsthaft weismachen«, sagte er betont langsam, »dass Sie die junge Frau nicht erkennen, die Ihnen erst vor wenigen Stunden einen Heiratsantrag gemacht hat?«
Steel sah zu ihm auf. Um seinen Mund zuckte es leicht und im grellen Licht der Leselampe zeigten sich kleine glitzernde Schweißperlen auf seiner Stirn.
***
2
Die Bewohner des Dorfes Barking, bekannt für das im Jahr 666 erbaute Doppelkloster, nordöstlich von London gelegen, waren an diesem Morgen bereits besonders früh auf den Beinen. Die Nachricht hatte sich wie ein Waldbrand in einer Trockenperiode mit rasanter Gschwindigkeit verbreitet. Es gab wohl niemanden, der noch nicht davon gehört hatte, dass Cameron Whiteman ermordet worden war – und es gab dazu inzwischen so viele Theorien wie eifrige Klatschtanten. Die einen sahen den Mörder in dem Fremden, der sich Dustin Steel nannte und den ganzen Sommer in der kleinen Hütte auf Whitemans Grund und Boden gelebt hatte. Für andere war Joseph der Mörder. Ihrer Ansicht nach hatte der Sohn seinen Vater in einen Anfall volltrunkener Wut getötet. Für einige war es Warren, der Schwiegersohn des ehemaligen Politikers und lokale Zeitungsredakteur, der den Mord begangen hatte. Schließlich wusste jeder um dessen ewigen Streit, betreffs der hohen Schulden von Warren Nicholson. Aber auch Bridget Whiteman blieb nicht verschont. Von ihr glaubten viele zu wissen, dass sie hitzköpfig und zudem leichtsinnig sei. Sogar Alexandra, Whitemans zweite Frau, wurde in den Ring um die Täterschaft geworfen – eine Frau, die in Barking jeder für völlig fehl am Platz empfand. Nicht zuletzt gab es noch Lorraine Nicholson, die ältere Tochter des Abgeordneten. Selbst über sie wurden Spekulationen angestellt. Wenn Cameron Whiteman beschlossen hätte, seine großzügige Haltung gegenüber ihrem ›ineffektiven‹ Ehemann Warren aufzugeben, flüsterte man hinter vorgehaltener Hand, war eine Frau durchaus in der Lage um ihres Mannes Willen zu töten. Am Ende gab es noch die Theorie von einem dahergelaufenen Tramp. Aber alle Annahmen wurden aus dem Nichts aufgebaut, weil niemand außer James Pontypool, dem Kronanwalt, irgendwelche Fakten oder Details kannte, und dieser um sieben Uhr morgens noch keine öffentliche Erklärung abgegeben hatte.
Pontypool selbst hatte noch keine begründeten Annahmen. Dazu benötigte er fundierte Fakten. Als er mit seinem Einspänner durch das Dorf rollte und zum anderen Ende der Stadt hinaus, sinnierte er über die Tatsachen nach, die ihm bislang bekannt waren, und er versuchte, sie zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammenzufügen – bevor er über Theorien nachdachte. Aber er musste sich eingestehen, dass eine riesige Lücke in diesem Blid klaffte, dass er zusammenzusetzen suchte – eine Lücke, die sich aus Dustin Steels scheinbaren Gedächtnisverlust ergab. Dem Mann, der nur wenige Minuten nach dem Mord von Alexandra Whiteman im Garten vorgefunden worden war und den der ehemalige Oberhausabgeordnete als zukünftigen Ehemann seiner Tochter Bridget vehement ausgeschlossen hatte – ein Mann, der ein so wesentlicher Bestandteil des Gesamtbildes und gleichzeitig so undurchschaubar war!
Pontypool scherte in die Einfahrt eines kleinen Hauses in der ›Woodbridge Road‹ am Stadtrand ein. Aus dem Schornstein des Hauses stieg ein dünner blauer Rauchstreifen. Er brachte sein Pferd zum stehen, legte die Radbremse ein und kletterte von Kutschbock. Dann lief er den schmalen gepflasterten Weg zur Vordertür hinauf. Nachdem er mehrmals den Messingtürklopfer angeschlagen hatte, hörte er fast augenblicklich Schritte im Haus, die auf ihn zukamen. Die Tür öffnete sich und ein kleiner, grauer Mann begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln: »Guten Morgen, Mr. Pontypool!«
»Ich wünschte, es wäre ein guter Morgen, werter Herr Doktor«, erwiderte der Kronanwalt. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Ich weiß, dass es eine höllisch frühe Stunde ist, um Sie aufzusuchen, aber …«
»Nicht, wenn Sie heißen, frischen Kaffee mögen«, erwiderte der unauffällige Mann mit den schlohweißen Haaren. »Kommen Sie bitte herein. Der Kaffee steht auf dem Tisch.«
»Vielen Dank, Dr. Finch. Einen Kaffee kann ich tatsächlich gut brauchen.« Pontypool folgte ihm ins Haus und zur Essecke in der kleinen Küche. Er sah Finch dabei zu, wie dieser noch schnell eine weitere Tasse auf den Tisch stellte. »Haben Sie schon die Nachricht gehört?«, erkundigte er sich.
»Ich bekomme meine Zeitung nicht vor elf«, erwiderte Finch, während er aus einer Kanne Kaffee in die beiden Tassen einschenkte und sah seinen Gast fragend an. »Um welche Neuigkeit soll es sich dabei handeln?«
»Der ehemalige Abgeordnete des Oberhauses, Cameron Whiteman, wurde in der letzten Nacht ermordet.«
»Oh«, bemerkte Finch wie abwesend und stellte die Kanne auf dem Tisch ab.
Pontypool