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ihr lagen, und holte tief Luft. Etwa zwanzig Aufnahmen hatten die Sucherinnen im Internet gefunden. Die Zeitstempel verrieten, dass die Spinnen-Show innerhalb von zehn Sekunden abgelaufen war. Zehn Sekunden, in denen etwa vierzig Vogelspinnen nahezu synchron an die Scheiben sprangen und dann wie auf Kommando verschwanden. Das war keineswegs natürlich.

      Spinnen! Ausgerechnet!

      In ihrem Bauch bildete sich ein unangenehmer Knoten. Sicher, es konnte sich um einfache Tierbeherrschung handeln. Doch um so viele Spinnen gleichzeitig zu kontrollieren, gehörte einiges mehr als das. Sie waren Einzelwesen und zeigten kein Schwarm- oder Kollektivverhalten. Amalie Ahrendt kannte niemanden, der dazu in der Lage gewesen wäre. Aber, korrigierte sie sich, sie hatte zumindest schon einmal davon gehört. Doch diese Geschichte wurde von vielen in den Bereich der Legenden geschoben. Eine Gruselgeschichte, um kleine Hexenmädchen zu unterhalten.

      Wie auch immer, sie würden dem Vorfall nachgehen müssen. Wer diese Spinnen kontrollierte, konnte gefährlich sein.

      Entschlossen griff sie zum Telefon. Sie durfte keine Zeit verschwenden.

      Sonntag, 26. Mai 2002

       Hexenzentrale, München

      Die Suche begann. Gezielt wurde nach allen Personen gefahndet, die sich zum Zeitpunkt der Spinnenattacke im Insektarium aufgehalten hatten.

      Die Liste war lang, doch sie konnte schnell verkürzt werden. Nur eine begrenzte Zahl von Personen hatte sich in der Nähe der Spinnen aufgehalten, und männliche Besucher konnten von vorneherein ausgeschlossen werden. Nur Frauen verfügten über Hexenmagie. Das war schon immer so gewesen, und es gab keinen Grund anzunehmen, dass es diesmal anders war.

      Übrig blieben etwa vierzig weibliche Personen unterschiedlichen Alters.

      Die Hexen nutzen jedes Bild, das sie aus dem Netz laden konnten, und besorgten sich ebenfalls die Aufnahmen der Überwachungskameras, die im gesamten Insektarium verteilt waren, um die Besucher zu kontrollieren.

      Geduldig selektierten fleißige Augen und Hände die Hinweise. Schließlich landeten die Ergebnisse wieder bei Amalie Ahrendt. Ihre Assistentin Nadin Hofstetter hatte das wichtigste Material auf einem großen Tisch ausgebreitet.

      „Also folgendes wissen wir. An diesem Tag waren einundvierzig weibliche Personen in der Nähe der Spinnen, als das Phänomen auftrat. Fünfundzwanzig Personen konnten wir schon ausschließen. Allein ihr Gesichtsausdruck auf den Bildern zeigt deutlich Schrecken, Angst oder Überraschung. Bleiben also noch sechzehn Verdächtige. Wir haben ihre Namen, und auch schon Sucherinnen ausgeschickt, um sie zu überprüfen. Allerdings gibt es zwei Auffälligkeiten, die mich vermuten lassen, dass wir zumindest die erwachsenen Frauen ausschließen können. Zum einen haben wir die Aussage eines Angestellten. Er berichtete von einem Mädchen, welches kurz zuvor bei einer Spinnen-Demonstration aufgefallen ist.“

      Sie legte ein Aufnahmegerät auf den Tisch und startete es. Eine Männerstimme schallte durch den Raum.

      „Wissen Sie, ich mache ja schon länger solche Demonstrationen, aber so etwas habe ich noch nie erlebt. Meine alte Dame, also die Spinne, ist schon einiges gewöhnt und bewegt sich normalerweise nie, wenn ich sie auf eine Hand setze. Doch bei diesem Mädchen war sie so schnell, wie schon lange nicht mehr. Sie sprang ihr zack auf die Hand und rannte ihren Arm hoch bis zur Schulter. Es sah beinahe so aus, als würde sie die Kleine begrüßen.“

      „Und wie hat das Mädchen reagiert?“

      Amalie erkannte die fragende Frauenstimme nicht, aber das war auch nicht wichtig. Interessanter war die Antwort.

      „Total cool. Sie hat sogar gelächelt. Kein Zucken, keine Angst, – absolut cool. Und dann hat sie sich lässig meine Dame gegriffen und mir zurückgegeben. Ehrlich, sowas habe ich noch nie gesehen.“

      „Können Sie das Mädchen beschreiben?“

      „Hm, na ja, sie war vielleicht zehn oder elf. Vielleicht auch etwas älter. So genau kann man das heute ja nicht mehr sagen. Lange dunkle Haare – glaub ich jedenfalls. Ehrlich gesagt habe ich mehr auf meine Dame geachtet. Und dann war sie auch schon verschwunden. – Ach ja, bedankt hat sie sich. Sehr höflich. Das kennt man von den Kindern heutzutage auch nicht mehr.“

      Nadin stoppte die Aufnahme.

      „Mehr war über das Mädchen nicht zu erfahren. Wir haben daraufhin alle Aufnahmen gecheckt. Aber man könnte ja sagen – es ist wie verhext.“ Sie verzog das Gesicht. „Wir haben keine Aufnahme gefunden, von der wir mit Sicherheit sagen können, dass sie von ihr ist. Lange dunkle Haare laufen viele herum und ausgerechnet im Spinnenbereich waren keine direkt zu sehen.“

      „Was meinst du mit direkt?“

      „Das hier.“

      Sie schob ein Bild zu ihrer Chefin.

      Amalie betrachtete es mit gerunzelter Stirn. Es waren einige Personen zu sehen, aber kein Kind. Doch dann sah sie, was Nadin meinte. Neben einer großen Palme stand halbverdeckt eine verschwommene Gestalt. Sie schien nicht groß zu sein, und die Silhouette deutete auf lange Haare hin.

      „Wir haben mehrere solcher Bilder, aber auf keinem ist die Kleine zu erkennen. Sie ist entweder nur verschwommen oder mit abgewendetem Gesicht zu sehen.“

      Amalie blickte nachdenklich auf das Foto. Der Knoten in ihrem Bauch wurde dichter.

      „Ein Schattenkind“, murmelte sie. Nadin blinzelte irritiert.

      „Was meinen Sie damit, Vollstreckerin?“

      „Etwas, von dem ich hoffe, dass es nicht so ist.“

      Amalie Ahrendt sah wieder auf.

      „Also suchen wir ein Kind im Alter von zehn bis zwölf. Ihr habt eine Liste der anwesenden Mädchen?“

      „Ja, und leider sind etwa hundertsechsundvierzig davon dunkelhaarig. Von denen haben dreiundneunzig lange Haare. Wir haben schon angefangen, sie zu überprüfen.“

      „Zeig mir die Liste“, forderte Amalie und blickte kurz darauf über die Namen. Konzentriert las sie alle Angaben. Irgendwann stutzte sie und tippte mit dem Finger auf eine Adresse.

      „Dort will ich sofort jemanden haben. Wir beide gehen auch hin.“

      Nadin sah neugierig auf die Liste.

      „Ein Waisenhaus?“ Sie nickte langsam. „Ich glaube, ich verstehe. Eine solch starke Magie bleibt in Familien nicht lange unentdeckt. In einem Haus mit vielen Kindern schon eher. Wie viele Sucherinnen soll ich anfordern?“

      Amalie schürzte unbewusst die Lippen.

      „Vier“, meinte sie schließlich. „Und sechs Kriegerinnen.“

      Nadin Hofstetter blinzelte überrascht.

      So viele Frauen für ein kleines Mädchen?

      Aber die Vollstreckerin wirkte ungewohnt besorgt. Also sagte sie nichts und verließ eilig den Raum. Sie war ehrlich gespannt, was diese Suche ergeben würde. Eine Cogniti zu jagen, war immer eine ungewisse Sache. Niemand wusste, wie die Fähigkeiten einer wilden Hexe aussahen und wie stark sie war. Kinder waren normalerweise harmlos und unwissend. Sie verrieten sich nur durch Kleinigkeiten. Erwachsene Hexen konnten ihre Fähigkeiten aber durchaus gesteigert haben. Manche waren überaus gefährlich und nur schwer zu finden. Doch ein zehnjähriges Mädchen?

      Nadin Hofstetter konnte sich nicht erinnern, dass jemals zehn Hexen ausgesendet worden waren, um ein Hexenmädchen zu finden.

      Montag, 27. Mai 2002

       Stylianos-Stift, Stuttgart

      Selina hockte konzentriert am Tisch und arbeitete sich durch den Stapel an Übungsaufgaben. Mathematik gehörte nicht unbedingt zu ihrem Lieblingsfach, doch zumindest hatte sie den Eindruck, dass man es mit Logik und Fleiß bewältigen konnte. Also war sie bereit, Zeit dafür zu

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