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ist jetzt wieder gut!“

      Das Gebrüll schwoll an und ließ sie zögern. Irritiert betrachtete sie das Babygesicht. Das war kein Angst- oder Schmerzgeschrei mehr. Das war blanker Zorn. Die Babyaugen funkelten sie wütend an.

      „Selina“, flüsterte sie erschrocken. „Was ist denn, Liebes? Diese kleinen Monster sind doch alle weg. Sie können dir nichts mehr tun!“

      Doch Selina Serra brüllte weiter und ließ sich nicht beruhigen.

      Erst Stunden später schlief sie aus lauter Erschöpfung ein.

      Corinna Serra sah ihre Tochter nie wieder lächeln.

      Montag, 16. Juni 1997

       Stylianos-Stift, Stuttgart

      „Soso, du bist also Selina Serra.“

      Mathilde Löw, Heimleiterin des Stylianos-Stifts, betrachtete das kleine Mädchen, welches mit niedergeschlagenen Augen vor ihrem Tisch stand. Die schwarzen Haare hingen in dichten Locken bis zu den Hüften hinunter. Die Haut wies einen zarten Braunton auf, der auf eine südliche Abstammung hindeutete.

      Selina war für eine Siebenjährige eher klein und zartgliedrig. Sie wirkte auf die Heimleiterin wie ein Püppchen, das beim nächsten Windhauch fortgeweht werden würde.

      Mathilde Löw seufzte innerlich. Dieses Kind war dafür prädestiniert, ein beliebtes Opfer für so manchen Heimbewohner zu sein, da war sie sich bereits sicher.

      „Selina“, fuhr sie mit sanfter Stimme fort. „Ich weiß, dass es schwer für dich ist. Die Mutter zu verlieren ist furchtbar und in einem Waisenheim zu landen macht es sicherlich nicht besser. Doch glaube mir, dass wir uns nach allen Kräften bemühen werden, dass es dir bald wieder besser geht. Zumindest wirst du nicht alleine sein und wir werden sehr gut für dich sorgen. Ich bin mir sicher, dass du hier schon bald nette Freundinnen finden wirst. Vorerst wirst du mit Lisa und Janina das Zimmer teilen. Sie werden dir alles zeigen und die Regeln unseres Hauses erklären. Hast du noch Fragen?“

      Das Mädchen hob den Kopf und seine schwarzen Augen blickten die Heimleiterin ruhig an.

      „Wann kann ich wieder gehen?“

      Mathilde Löw holte tief Luft. Mit dieser direkten Frage hatte sie nicht gerechnet.

      „Also – das wird wohl noch einige Zeit dauern, Selina. Zunächst wirst du die Schule hinter dich bringen müssen. Du gehst doch gerne zur Schule, oder?“

      „Nein. Schule ist langweilig.“

      Wieder war die Heimleiterin überrascht. So viel Ehrlichkeit bekam sie selten zu hören.

      „Nun, ab morgen wirst du auf eine andere Schule kommen. Vielleicht ist diese ja nicht so langweilig, wie deine alte“, lächelte sie. Das Lächeln wurde nicht erwidert. Selina Serras Gesicht zeigte weder Zweifel noch Zustimmung oder sonst irgendeine Regung. Sie schien einfach nur abzuwarten.

      „Also gut, dann solltest du dir jetzt dein neues Zimmer ansehen.“

      Mathilde Löw erhob sich. Bislang konnte sie dieses Kind überhaupt nicht einschätzen.

       *

      Selina sah sich stumm in ihrem zukünftigen Zimmer um. Es war klein und beinhaltete drei Betten, einen Tisch mit drei Stühlen und einen dreiteiligen Kleiderschrank. Zu jedem Bett gehörte ein kleines Schränkchen. Über zweien der Betten hingen Poster aus billigen Zeitschriften und die Bettwäsche wirkte benutzt. Das Dritte war frischbezogen und kalt.

      Ihr Blick fiel auf die zwei Mädchen, die stumm auf den Stühlen hockten und sie anstarrten. Eines war etwa so alt wie sie und lächelte ihr zaghaft zu, die Heimleiterin nannte es Lisa. Das andere war etwa zwei Jahre älter und sein Blick wirkte ablehnend. Janina würde versuchen, ihr das Leben schwer zu machen, das erkannte Selina mit sicherem Gespür.

      Kaum hatte die Heimleiterin das Zimmer verlassen, da ging es auch schon los.

      Janina baute sich mit verschränkten Armen vor ihr auf.

      „Selina ist ein dämlicher Name. Ich werde dich Nana nennen.“

      „Ist gut, Jaja.“

      Janinas Gesicht verfinsterte sich sofort und ihre Arme sanken mit geballten Fäusten nach unten.

      „Wie war das?“

      „Du kannst mich gerne Nana nennen. Dafür werde ich dich Jaja rufen. Das ist nur fair.“

      Janinas Faust schoss vor. Aber Selina glitt zur Seite, so dass der Schlag ins Leere ging und das Mädchen nach vorne taumelte. Selina trat einfach einen weiteren Schritt von ihr weg und wartete ab. Eines hatte sie in ihrem kurzen Schulleben bereits gelernt. Konfrontationen klärte man am besten sofort. Lieber ein blaues Auge, als ständige Pöbeleien.

      Lisa hatte sich in den hinteren Teil des Zimmers zurückgezogen. Mit großen Augen verfolgte sie die Auseinandersetzung.

      Wütend ging Janina auf das schwarzhaarige Mädchen los. Diesmal wich Selina nicht aus. Sie war kleiner und offensichtlich schwächer, doch ihre Flinkheit war ein Vorteil.

      Der Kampf war kurz, aber heftig. Selina verlor ein paar Haare und erhielt einige Kratzer im Gesicht, während Janina ein blaues Auge davontrug. Zum Schluss standen die beiden sich geduckt und wachsam gegenüber.

      „Miststück“, fauchte Janina. Selina hob die Schultern.

      „Lass mich einfach in Ruhe. Dann lass ich dich auch.“

      Das blonde Mädchen presste wütend die Lippen zusammen und sah dann zu Lisa.

      „Los, räum hier auf!“

      Die Kleine zuckte zusammen und kam hastig angelaufen. Selina trat zu ihrem neuen Bett und warf den Rucksack darauf. Dann beobachtete sie, wie Lisa das Zimmer picobello aufräumte.

      Janina zog sich ebenfalls zurück und schoss nur ab und zu finstere Blicke zu ihr hinüber. Der Kampf war nur unterbrochen, Waffenstillstand nicht in Sicht.

      Sonntag, 21. Juni 1997

       Stylianos-Stift, Stuttgart

      Die schrillen Schreie gellten durchs Haus und ließen alle hochfahren.

      Heimleiterin Löw rannte mit einem höchst ärgerlichen Gesichtsausdruck im Bademantel über den Gang und riss die Tür auf.

      Janina sass auf ihrem Bett und schrie wie am Spieß.

      Die Heimleiterin trat auf sie zu und umfasste ihre Schultern.

      „Janina! Hör auf, was ist denn nun schon wieder?“

      „Die Spinnen!“ In den blauen Kinderaugen las sie die nackte Panik. „Da waren überall Spinnen!“

      Mathilde Löw sah unwillkürlich aufs Bett, doch nichts war zu sehen. Nur das geblümte Muster der Bettdecke.

      „Jetzt beruhige dich, Janina.“ Sie schüttelte das Mädchen sanft. „Hier ist keine Spinne. Nicht eine einzige. Du hast wieder geträumt.“

      „Hab ich nicht“, schluchzte das Mädchen. „Sie waren hier auf meinem Bett. Ganz viele. Bitte, Frau Löw, ich möchte hier nicht mehr schlafen. Nie wieder!“

      Die Heimleiterin seufzte und sah zu den anderen beiden Mädchen. Lisa hatte sich ängstlich die Decke bis unter das Kinn gezogen. Selina lag völlig ruhig in ihrem Bett und zeigte überhaupt keine Regung. Wie immer.

      Wieder sah sie zu Janina. Dies war schon die fünfte Nacht, in der das Mädchen mit ihren Schreien das gesamte Haus aufgeweckt hatte.

      „Also gut“, meinte sie. „Morgen wechselst du das Zimmer. In Nummer Vier ist noch ein Bett frei.“

      „Ich will hier nicht bleiben“, heulte Janina. „Ich will hier sofort raus!“

      Es

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