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gar nicht oder nicht voll und ganz beantwortet: Wie kam sie zur Wiener Werkstätte und was machte sie dort? Wie kam Bertha an Zeichnungen von Dagobert Peche? Wie war sie überhaupt? Wie lebte sie, was erlebte sie — die junge Frau aus einer gebildeten und fortschrittlichen Familie, in ihrem „ersten Leben“ — vor der Emigration? Was waren ihre Träume, was die Realitäten? War sie glücklich? Wie verlief ihr „zweites Leben“? Wie verbrachte sie die mehr als fünf Jahrzehnte im Exil? Und wie blickte sie zurück?

      Bertha Sander hat kein Tagebuch geführt. Sie hat keine Lebenserinnerungen zu Papier gebracht. Was heute über sie berichtet, ist ihr umfangreicher und hochinteressanter Nachlass. Einige mündliche Überlieferungen sind festgehalten, einige Mitmenschen kann man noch befragen. Nur Icki Franziska Haag, die geschätzte Nachbarin, die mich in den 1980ern so nachhaltig auf Berthas Spuren setzte, lebt seit 2009 nicht mehr. Trotzdem lässt sich jetzt manch unklarer Sachverhalt überraschend schnell klären und die meisten Orte, an denen Bertha sich aufhielt, haben nicht aufgehört zu existieren. Einiges aus Berthas Vergangenheit wird so in der Gegenwart wieder lebendig. Und so beginnen heute einige Menschen sich für diese unbekannte und unspektakuläre Frau zu interessieren, deren Leben vor über 110 Jahren in Köln so hoffnungsvoll begann und das 1990 so deprimierend in England endete.

      Ein Leben in kleinen Geschichten

      Im Folgenden wird Berthas Leben in einzelnen Geschichten erzählt. Sie beginnen fast immer — um ganz nah bei Bertha zu bleiben — mit einem oder mehreren Relikten aus ihrem Nachlass. Eine Geschichte erzählt, von einem solchen Relikt ausgehend, manchmal von einer bestimmten Zeit oder einem besonderen Aspekt ihres Lebens oder von Menschen und Dingen, die Bertha wichtig waren, ihr besonders am Herzen lagen. Oder eine Geschichte zeigt anhand von Notizen und Überlieferungen — sozusagen „im Originalton“ — Berthas Einstellungen auf, beispielsweise die zum Judentum, das sie für sich kurz und knapp ablehnt.

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      Die Familie Gustav Sander

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      Großeltern Gabriel und Bertha Loeser, Eltern Gustav und Clara Sander geborene Loeser, die Kinder Otto, Bertha und Gabriele

      Am 7. März 1901 um fünf Uhr kommt Bertha Regina Sander in Köln in der Mohrenstrasse 3 zur Welt, in der Wohnung ihrer Eltern. Der Vater, Rechtsanwalt Gustav Sander, von isrealitischer Religion ebenso wie seine Ehefrau Clara Sander geborene Loeser, unterschreibt die Geburtsurkunde schwungvoll und klar leserlich. Bertha ist das dritte Kind der Familie, Schwester Gabriele ist drei Jahre alt, Bruder Otto zwei. Mutter Clara ist bei dieser, ihrer letzten Geburt dreißig Jahre alt, Vater Gustav siebenunddreißig. Das gebildete, junge Elternpaar lebt wohlsituiert in der Kölner Innenstadt und wird später in ein eigenes Haus in Köln-Lindenthal umziehen.

      Die Eltern

      Vier Jahre zuvor haben Berthas Eltern in Lüttich geheiratet, wo Clara mit ihrer Familie wohnte. Die Trauung findet in der alten Lütticher Synagoge statt, der ihr Vater vorsteht. Die Braut, geboren in Frankfurt am Main, ist fünfundzwanzig, der Bräutigam dreiunddreißig Jahre alt. Die beiden sind verwandt und kennen sich seit Kindertagen.

      Die Großeltern I

      Über Berthas Großeltern mütterlicherseits ist viel bekannt und überliefert, nicht zuletzt durch die Memoiren von Berthas Mutter Clara. Das Leben der Großeltern verläuft interessant und kosmopolitisch. Großvater Gabriel Loeser stammt von der Mosel, aus Dusemond bei Trier. Als er heiraten möchte, arbeitet er in Algerien und reist auf Brautschau nach Koblenz. Dort lernt er die Kaufmannstochter Bertha Mayer kennen. Vor der Eheschließung muss die 19-Jährige erst in einem Pensionat Französisch lernen. Ihre erste Tochter kommt in Algerien auf die Welt. Die zweite, Berthas Mutter Clara, wird nach der Flucht aus Frankreich in Frankfurt am Main geboren. 1882 zieht das Paar mit den beiden Töchter nach Belgien. Die Familie ist wohlhabend und gebildet, man reist viel und pflegt internationale Kontakte.

      Großeltern II

      Bei Berthas Großeltern von Vaters Seite sieht die Informationslage ganz anders aus. In Berthas Nachlass findet sich kein Hinweis auf dieses Großelternpaar. Berthas Mutter Clara erwähnt in ihren Memoiren lediglich kurz einen Onkel Alexander Sander (= Berthas Großonkel), der mit einer Caroline geborene Loeser verheiratet ist. Sie könnten eventuell Berthas Großeltern sein, wenn ihr Sohn Gustav hieße.

      Schwester Gabriele

      Gabriele, familiär Ela genannt, Berthas ältere Schwester, wird später Sängerin und Klavierlehrerin. Am 14. Dezember 1897 wird sie in Köln geboren und heiratet 1927 den Juristen Dr. Walter Speyer, mit dem sie später nach London emigriert. Die Familienkontakte brechen ab. Sie stirbt am 4. November 1969 in London.

      Bruder Otto

      Otto Sander kommt am 6. November 1898 auf die Welt, er ist zwei Jahre älter als Bertha. Auf Kinder- und Jugendfotos sieht man die drei Geschwister oft zusammen herumtollen. Otto erkrankt 1917, seine Krankheit wird von der Mutter nicht beim Namen genannt. Otto verbringt viel Zeit in Kliniken und Heilstätten. Er stirbt am 10. August 1924 als 25-Jähriger im Schwarzwald, offiziell an einer Lungenentzündung. In Berthas Nachlass befinden sich viele Dokumente ihres Bruders, auch seine Todesanzeige.

      2

      Die Familiengrabstätte

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      Briefe vom Friedhofsamt in Liège und das Grabmal

      Warum liegen in Berthas neuerem Schriftverkehr immer wieder Briefe vom Lütticher Friedhofsamt? Die belgischen Beamten beantworten offensichtlich immer wieder die gleiche Frage: Ob der Erhalt von Berthas Familiengruft gesichert sei. Als im Juni 1988 nur ein paar Monate zwischen ihren Schreiben liegen, schreibt ihr die Sachbearbeiterin sogar auf Englisch: „everything is all right“. Die Grabstätte liegt Bertha offenbar sehr am Herzen. Warum, wer ist dort bestattet? Aufgrund des Ortes dürfte es sich um ihren Großvater Gabriel Loeser handeln, der 1902, fünfzehn Monate nach Berthas Geburt, starb. Gabriel Loeser wurde 1882 in Liège, wie es auf Französisch heisst, Direktor einer Zinkhütte. Berthas geliebte Großmutter und Namensgeberin starb erst ein Vierteljahrhundert später, im Januar 1926 in Cap Ferrat an der Côte d‘Azur. Wahrscheinlich hat sie da — wie oft zuvor — einige Wintermonate bei ihrer Tochter Pauline verbracht.

      Perfekter Service und ungeahnte Chancen

      In der Vorbereitung der Bertha-Sander-Ausstellung geht 2012 eine E-Mail an das Friedhofsamt Lüttich, die besagte Grabstätte auf dem Friedhof Robermont betreffend, die ja in der Korrespondenz exakt per Nummer definiert ist. Existiert das Grab noch? Wer ist dort gegebenenfalls noch beerdigt? Nach Monaten kommt am 6. Juni 2012 eine E-Mail in formvollendetem Französisch von einem Monsieur Marcelino Arguëlles, der alle Fragen, auch die ungestellten, beantwortet.

      (Übersetzung)

      Datum: 6. Juni 2012 11:53:11 MESZ

      Betreff: Grabstätte LOESER-MEYER

      Frau Rogalski,

      Betreff: Grabstätte LOESER-MEYER

      In Beantwortung Ihrer Mail die Grabstätte LOESER-MEYER betreffend und nach Recherchen in unseren Archiven, habe ich das Vergnügen, Sie über die unten angeführten Punkte zu informieren. Die Grabstätte LOESER-MEYER befindet sich wirklich auf dem Friedhof von Robermont. Die Akte trägt die Nummer 3675.

      Es handelt sich um eine Gruft mit vier Plätzen, in der folgende Personen bestattet sind:

      LOESER Gabriel bestattet am 07/06/1902

      STRAUS Gustave bestattet am 29/01/1919

      MEYER BERTHA bestattet am 22/01/1926

      Die Gruft enthält ebenfalls drei Urnen, die folgende Aschen enthalten:

      LANDER Karl bestattet am 09/08/1917

      LANDER Otto bestattet am 15/02/1924

      LANDER Gustave bestattet am 19/09/1928.

      Es handelt sich um eine unbegrenzte Konzession. 1971 wurde in Belgien

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