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wie sie seit den WTC-Anschlägen im September 2011 auch bei allen Inlandflügen an jedem Passagier, besonders aber an Ausländern, durchgeführt wurden, wäre sie mit der Menge an Bargeld, das sie mit sich führte, unbedingt in Verdacht geraten. Sie wusste, wenn sie sie in ihre Hände bekamen, würden sie den Minichip finden, so vermeintlich gut verborgen er auch unter der Hornhaut ihres rechten Fußes einoperiert war. Sie würden sie Zentimeter für Zentimeter auseinander nehmen. Sie hatte einst sorgfältig und mit quälendem Entsetzen gelesen, was die Folterärzte der amerikanischen Geheimdienste alles drauf hatten und was das CIA-Verhörhandbuch, das so genannte KUBARK, für exorbitante Befragungsmethoden empfahl.

      Auf dem Truckerhof von Flagstaff hatte Li Hui einen gemütlichen Schwarzen kennengelernt, der mit gebrauchten Autos handelte. Ziemlich spontan kaufte sie ihm für vierhundert Dollar einen geräumigen, neun Jahre alten, Ford ab und besorgte sich in der Stadt ein kleines Zelt, einen Schlafsack und einige Campingutensilien. Und dann fuhr sie los, zunächst immer die Interstate 40 entlang, die zuweilen auf der legendären Route 66 verlief, immer in Richtung Florida.

      Auf diesem Teilstück war der Highway recht komfortabel ausgebaut und Li Hui kam zügig voran. Memphis am Mississippi war ihr nächstes Ziel. Bei herrlichstem, klaren Herbstwetter durchquerte sie mit dem alten Kasten auf der unendlich scheinenden, große Strecken schnurgerade verlaufenden, Straße die südlichen Staaten Arizona, New Mexico, Texas, Oklahoma und Arkansas, bis sie am östlichen Ufer der zentralen Wasserstraße des Imperiums, des Vaters aller nordamerikanischen Ströme, angelangt war. Wäre sie nicht auf der Flucht und voller Trauer um ihren getöteten Freund gewesen, hätte diese Fahrt eine der schönsten Reisen ihres Lebens werden können.

      Aber ihr Kummer wegen des Verlustes ihres Liebsten und verlässlichen Freundes verstärkten nur noch das Gefühl ihrer Einsamkeit, während sie die Schönheit des Herbstes und der Herrlichkeiten der Natur dieses Landes, dem sie einst dienen wollte und aus dem sie jetzt verstoßen wurde wie eine leprainfizierte Kranke, begierig in sich aufnahm. Die Widersprüchlichkeit zwischen ihrer Traurigkeit und den Schönheiten des nordamerikanischen Kontinents hätte für sie nicht schmerzhafter sein können. Und irgendwie war dann dieses denkwürdige abendliche Erlebnis auf einem Parkplatz unweit des berühmten Fort Smith eine seltsame Art von innerer Befreiung gewesen, wenn sie auch die Tage danach ständig Befürchtungen hegte, dass ihr Pegasus deswegen erneut auf die Spur kommen könnte.

      Die Dämmerung war bereits eingetreten, als Li Hui endlich den Zeltplatz ausgangs des Kerr Lakes, unweit des Arkansas River, gefunden hatte. Sie war gerade damit beschäftigt, ihr winziges Zelt aufzustellen. Der kleine Campingtisch und zwei einfache Klappstühle aus Segeltuch standen bereits neben dem Heck des alten Ford. Nur die sich selbstaufblasende Isomatte machte momentan alles andere, als sich vorschriftsmäßig zu öffnen.

      Langsam und fast geräuschlos kam ein offener Buick, ein schönes altes, cremefarbenes, wenn auch sehr rostiges Modell, mit vier unternehmungslustig darin lümmelnden farbigen Jungens die schmale Straße herauf, welche von der Interstate zum Campingplatz führte. Dicht am wackeligen Holzzaun, der den Parkplatz vom Campingareal trennte, hielten sie an. Es sah aus, als ob die Jungs hier öfter vorbeikommen würden. Vielleicht auch nur, um im kleinen Drugstore des Campingplatzes am diesem Freitagabend ein paar Bier zu trinken, weil anderswo in der Umgebung noch weniger los war.

      Die Halbstarken hatten, während sie einer nach dem anderen den Buick verließen, das mit vereinzelten Weymutskiefern bestandene Gelände kurz inspiziert und die einsame Li Hui neben ihrem Ford schnell ausgemacht. Sie beobachteten die Chinesin zunächst ein paar Minuten bei ihrer Arbeit, bevor sie sich entschlossen, lässig mit den Hüften wippend, zu ihr hinüber zu schlendern.

      Der Dialog verlief wie immer, wenn sich so etwas anbahnte, aufreizend eindeutig und primitiv. Li Hui wirkte schmal, jung und hilflos in ihren hellen Trainingshosen und dem locker übergestreiften, ockerfarbenen Baumwoll-T-Shirt. Ihr volles, schwarzes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der ihr vom Nacken vorn über die Brust herabhing, während sie sich noch immer mit der Luftmatratze plagte. Die widerspenstige Matte in den Händen drehend, forderte sie die aufdringlichen Jungens betont freundlich auf, dass sie verschwinden und sie in Ruhe lassen sollten. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie den richtigen Ton getroffen hatte. Kichernd und fröhlich herumtänzelnd gaben die vier Rabauken vor, ihr doch nur helfen zu wollen. Schließlich sei es für ein Mädchen wie sie viel zu kompliziert, solch eine Campingbehausung aufzubauen. Man hätte ja gesehen, wie sie sich mit der Isomatte abquäle. Und sie sei ja auch so alleine.

      Li Hui erwiderte, dass ihr Freund nur zur Toilette gegangen sei und jeden Augenblick zurückkehren werde. Die Jungs glaubten ihr natürlich nicht und lachten. Sie hatten die Lage längst überblickt. Das unscheinbare Go-In und die Sanitärbaracke waren von hier etwa dreihundert Meter entfernt. Die kleine Holzhüttensiedlung, die ebenfalls zum Campingplatz gehörte, befand sich auf der anderen Seite der Einfahrtstraße und der sozialen Einrichtungen. Die beiden einzigen Zelte, die noch zwischen den Bäumen standen, waren momentan leer.

      Ob sie schon länger hier sei, war die nächste Frage. Sie waren um ihren Ford gekreist und hatten das Kennzeichen gemustert. Sie wussten somit, dass die Chinesin nicht aus Oklahoma kam. Ob sie denn keine Lust auf Sex hätte? Freitag Abend hätten doch alle Lust auf auf einen schönen Fick. Sie wären gut darin und sogar zu viert. Da wäre für sie doch ´ne Menge drin!

      Li Hui sah sich suchend um. Am nächsten Zelt, dass vielleicht dreißig Meter entfernt stand, kam gerade ein junger Mann an, der wohl Duschen gewesen war. Er schaute einen Augenblick lang interessiert herüber, verschwand dann aber im Innern seiner Behausung. Er wollte damit nichts zu tun haben! Vier gegen eineinhalb, unmöglich!

      Li Hui forderte die vier Stänkerer noch einmal auf, sie in Ruhe zu lassen, sonst würden sie es sicher bereuen. Die Boys lachten über diesen Witz laut und lange. Vier junge, starke, abenteuerlustige Oklahomajungs sollten irgendetwas bereuen, was mit einem kleinen, einsamen Asiatenmädel zu tun hatte! Das war doch zu lustig! Einer zog ein Jagdmesser und ließ es im Abendlicht blitzen.

      Er hatte die tänzerische Bewegung Li Hui´s noch nicht einmal gesehen, als der Außenknöchel ihres rechten Fußes bereits an seiner Schläfe einschlug. Der junge Mann kippte lautlos, wie in Zeitlupe, zur Seite und landete auf dem weichen Waldboden. Das Messer, welches er dabei fallen ließ, blieb in einer Wurzel stecken. Li Hui´s Unterbewusstsein schrie: "Hoffentlich ist er nicht tot, hoffentlich ist er nicht tot!..."

      Der Zweite brach in der gleichen Sekunde nach einem blitzartigen Fingerknöchelkick auf seinen Solarplexus in die Knie und fiel dann vornüber auf sein Gesicht. Die beiden anderen waren einen Moment lang wie erstarrt, dann flüchteten sie mit schrillem Hilfegeschrei.

      Während Li Hui in höchster Eile das Zelt abriss und ihre Sachen in ihr Auto warf, sah sie noch, wie der Typ gegenüber seinen Kopf aus dem Zelteingang steckte, ihn aber schnell wieder zurückzog. Die beiden Jungen lagen wie tot im Gras. Li Hui startete den Ford und fuhr verwirrt und mit großer Geschwindigkeit in die südliche Nacht. Es war nur noch ein Katzensprung bis hinüber nach Arkansas. Nach einer halben Stunde angstvoller Fahrt hatte sie es geschafft. Doch ihre Furcht vor Polizei und Pegasus war unbegründet. Die armen, farbigen, arbeitslosen Südstaatenboys, die ihr langweiliges, perspektivloses Leben mit einem kleinen sexuellen Abenteuer am Wochenende ein wenig aufpeppen wollten, waren weit davon entfernt, den staatlichen Behörden etwas von ihrem Fehltritt zu vermelden. Li Hui kam deshalb nach einem weiteren, sehr lang erscheinenden Tag Autofahrt am Ende des Monats September wohlbehalten, wenn auch aufgeschreckt und dadurch doppelt wachsam, in der einstigen Baumwollmetropole Memphis an.

      Memphis, Tennesse! Wer nur hatte dieser Ansiedlung den Namen der einstigen nördlichen Hauptstadt des alten Ägyptens gegeben? Waren es die Spanier unter Hernando des Soto gewesen, die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts als erste Europäer auf die hiesigen Chickasaw-Indianer trafen? Oder die Franzosen, die im siebzehnten Jahrhundert ihr erstes Fort an den östlichen Steilufern des Mississippi errichteten? Oder waren die Engländer im achtzehnten Jahrhundert auf diese Idee gekommen, als sie diesen Flecken von den Franzosen erobert hatten?

      Als Li Hui über die nördliche der beiden riesigen Flussbrücken fuhr, die von Westen in die auf dem Ostufer liegende Stadt hineinführten, sah sie im Licht des frühen Nachmittags zuerst

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