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und droht, mir die Luft abzuschnüren, höre ich die Tür verführerisch klappern. Ich müsste nur zum richtigen Augenblick auf die Autobahn rennen, um überrollt, plattgefahren zu werden, und wäre von all den Ängsten, die ich habe, erlöst. Auch von der Horrorvorstellung, eines Tages im Badezimmer an meinem Erbrochenen zu sterben. Allerdings wünsche ich mir einen Tod, bei dem mein letzter Gedanke nicht dem Gewicht auf der Waage gilt. Noch klebt ein Fleck Optimismus an mir, mich irgendwann einmal aus den Fesseln meiner Essstörungen und Depressionen zu befreien. Bisher verlor ich bei jeder Arbeitsstelle, in der ein Buffet mit deftigem Essen aufgedeckt wurde, die Beherrschung. Es ist einfach zu paradiesisch, die Köstlichkeiten, die ich mir sonst verbiete, in Reichweite zu wissen und en masse nachfüllen zu können. Denn das ist genau das, was sich eine Bulimikerin für ihre Fressattacke zubereitet. Da ich in meinem Praktikum auf keinen Fall negativ auffallen will, verzichte ich nach dem Mittagessen auf den Klogang. Die berufsalltäglichen Phasen des Leerlaufs und der Langeweile außerhalb der Öffnungszeiten bieten viel, viel zu viel Raum für Grübelei und Raserei. Bis der Feierabend naht, bin ich bereits kurz davor, psychisch wie auch physisch zu platzen. Je später es wird, desto krasser entpuppe ich mich als hysterische Irre. Mein Plan, nach der Arbeit im Fitnessstudio zu trainieren, erübrigt sich, weil der Schuppen bis dato an Mitgliedern überquillt und ich auf die Cardiogeräte warten müsste, wozu mir die Lust fehlt. Außerdem fühlt sich mein aufgeblähter Bauch zu schwanger-rund und fett an, als dass ich mich so präsentieren möchte. Und so droht es wieder ein Tag zu werden, der sich dem Ende neigt, ohne dass ich etwas Nichtverpflichtendes erlebt habe. Darüber hinaus drehe ich bei Einladungen zu nicht regulären Teamveranstaltungen vollends am Rad. Meine Unfähigkeit, zu diesen Nein zu sagen – aus schlechtem Gewissen – und dafür das klitzekleine bisschen freie Zeit, das mir bleibt, zu entbehren, lässt mich verrückt und panisch die Wände hochklettern. So zieht Stunde um Stunde vorüber – in pausenloser Furcht vor Aufgabenmangel, Tristesse und Gewichtszunahme. Aufgaben, die man mir aufträgt – seien sie noch so stupide wie das Sortieren und Ausgeben der Besucherpost, Drucken von Dokumenten, Recherchieren, Befüllen der Getränkeplastikbecher, Geschirrspülen oder Aufräumen –, sind ein Geschenk. Denn jede Form von Ablenkung dient meiner Rettung. 15. Dezember Auf den Tag genau sind nun drei Monate rum. Seit Oktober bin ich im dritten Semester und arbeite studienbegleitend, also nur noch zweimal wöchentlich. Inzwischen hab ich die Essbrechsucht größtenteils im Griff, widerstehe den Versuchungen und schleppe selbst zubereitete Mahlzeiten mit. Da ich die Durststrecken, in denen es nix zu tun gab, nicht länger ertrug, bat ich meinen Chef um ein Gespräch, das weniger dienstlich ausfiel als angestrebt. Ich brach unvermittelt in Tränen aus, legte alle meine Befindlichkeiten, Sorgen und Probleme dar, traf überraschend auf sein tiefstes Mitgefühl und Verständnis. Seither erlaubt er mir, früher abzuhauen, und zeigt sich bemüht, mehr Order zu erteilen. Unter anderem durfte ich unsere Gäste, deren Selbstwertgefühl ich stärken wollte, mit meiner Fotokamera porträtieren. Erfolgreich – die Ergebnisse kamen super an. Montags leite ich einen eigenen Malkurs, bei dem ich leicht intimere Gespräche zu meinen Teilnehmern aufbauen kann. Zusätzlich bastele ich neue Flyer für das Unternehmen und Weihnachtskarten für unsere Spender. Dass meine Kreativität wieder zum Einsatz kommt, zeigt mir, dass es doch zu etwas gut war, meine Ausbildung zur Grafikdesignerin abgeschlossen zu haben. Kunst für einen sinnvollen Zweck – das kann gar nicht verkehrt sein. Die sporadische Eintönigkeit akzeptiere ich innerhalb der überschaubaren zwei Tage als dortigen Bestandteil. Trotzdem rieche ich die nahende Gefahr bereits. Ab März muss ich nämlich erneut in Vollzeit arbeiten und lerne trotzdem viel zu wenig darüber, was das Berufsfeld eigentlich ausmacht. Die einzige Option auf ein Jahrespraktikum während meines Studiums möchte ich nutzen, um so viele Erfahrungen wie möglich zu sammeln und nach dem Bachelor bestens vorbereitet in die Soziale Arbeit starten zu können. Obwohl ich mich nur ungern von meinem netten Team und den mir ans Herz gewachsenen Besuchern trennen mag, werde ich mich nach ’ner Einrichtung umsehen, die Abwechslung und Struktur verspricht.

      Der Dominoeffekt

      17. Dezember Kürzlich hat meine – keine Idee wievielte – Therapie begonnen. Das war auch dringend nötig nach diversen traurigen und geißelnden Umständen, die mich wie beim Dominoeffekt in einer Kettenreaktion zum Umfallen zwangen. Der Vater von Pascal, meinem Freund, erlitt letztes Jahr einen Herzinfarkt und lag vierzehn Tage lang im künstlichen Koma. Seither hat er Gedächtnislücken, Sprach- und Orientierungsschwierigkeiten. Dass Paschi sich auf den Verlust seines am meisten geliebten Menschen vorbereiten muss, nahm auch mich heftig mit und ließ aufs Neue den Kummer um Lukas’ Suizid erwachen. Mein Halbbruder (Sohn meiner leiblichen Mutter Christina) hatte sich im Juli 2014 kurz vor meinem 27. Geburtstag mithilfe eines rauchenden Holzkohlegrills im Badezimmer vergiftet. Ich konnte nicht verstehen, dass Lukas sich damals im Alter von zweiunddreißig gegen das Leben entschieden hatte. Wo Paschis Dad, fast sechzig, mit aller Kraft darum strampelte, seins zu behalten. Mir wurde klar, dass ich noch immer nicht wahrhaben wollte, dass Lukas tot ist, und mich strikt dagegen wehrte, Abschied zu nehmen. Wahrscheinlich trugen das Verdrängen und die fehlende Bewältigung dazu bei, dass mein seelischer Zustand immer schlechter wurde. Ich zog das Negative förmlich an, als würde ein Fluch auf mir liegen und Lukas probieren, mich mit in seine Hölle zu reißen. Onkel Andy war der Nächste aus meiner Familie, der sich auf bestialische und aggressive Weise selbst richtete. Ich kannte ihn kaum. Er war Pas Cousin, Sohn der verstorbenen Schwester meiner Oma Dagmar, Lenns Mutter. Trotzdem traf es mich wie ein Schlag, über die Zeitung zu erfahren, dass er sich in aller Öffentlichkeit in den Kopf geschossen hatte. Ich wurde die Panik nicht los, den Hang zur Selbstzerstörung und zum Freitod in meinen Genen zu haben. Pascals Vater, den ich als herzlichen und klugen Mann liebgewonnen hatte, im Dresdner Pflegeheim zu besuchen und ihn nun in diesem senilen, verwirrten Zustand vorzufinden, ertrug ich schwer. Es war bedrückend, wie er in einem seiner lichten Momente meine Hände nahm, mir zärtlich in die Augen sah und zu weinen anfing. Ich umarmte den abgemagerten, fahlen Körper und würgte die Tränen hinunter. Mein Blick fiel auf Paschi, der vor Schmerz kaum aufhören konnte zu schluchzen. Ich spürte, was er durchmachte ... Diese Ahnung, dass sich die Zeit langsam dem Ende neigt und sein Dad sich bald nicht mehr an ihn erinnern wird, weil seine Persönlichkeit galoppierend erlischt. Demenz muss eine grässliche Krankheit sein. Weniger für den Betroffenen selbst, schätze ich, als vielmehr für die Verwandten, die hilflos zusehen, wie der andere da und zugleich abwesend ist. Dieser Blick ins Leere, wie ihn auch Lenn einst hatte ... An Ostern dieses Jahres traten mir die Söhne meiner Nachbarn die Tür ein, die, als Pascal gerade wegen deren bollernden Klopfens durch den Spion sah, gegen seine Schläfe schlug. Blutende Platzwunde, Polizei, Anzeige, Erneuerung des Schlosses. Und wieso das Ganze? Weil er und ich innerhalb der erlaubten Zeit offenbar hörbareren Sex hatten als sonst. Mit denen bin ich schon seit meinem Einzug im Clinch. Die bulgarische Großfamilie teilt sich nämlich die zwei Dreißig-Quadratmeter-Wohnungen über mir, deren Eigentümer sie ist. Meistens muss ich bis in die Nächte hinein, an Sonn- und Feiertagen pausenlos Balkan-Gedudel, Hämmern, Scheppern, Gekreische und Gezanke ertragen. Des Weiteren sammle ich alle paar Tage Fluppenstummel, Spielsachen, Staubflusen und Kleidungsstücke von meiner Terrasse auf. Gelegentlich schreie ich nach oben, wenn ich jemanden dabei erwische, wie er seinen Teppich über meinem Blumenbeet ausschüttelt, oder renne hoch, um mir auf meine Beschwerde hin die Tür vor der Nase zuschlagen zu lassen. Wenn ich der „Crew“ dann im Treppenhaus begegne und freundlich grüße, schweigt sie und durchbohrt mich mit stechenden Blicken. Das stresst! Klar ist es heftig, dass sie mit so vielen Leuten auf engstem Raum leben müssen, ihre Matratzen nebeneinander auf dem Boden aufgereiht sind; dass sich die Ehefrau, die im Café nebenan putzt, beim Inhaber ständig über Rückenschmerzen und die Armut ihrer Familie beklagt und dass der nach Schnaps und Schweiß riechende, zahnlose Gatte ein gewalttätiger Alkoholiker zu sein scheint. Mich verärgert trotzdem, dass sie nach mehrfacher Aufforderung nicht imstande sind, sich an die Hausordnung zu halten. Was sagt die Verwaltung dazu? Nüscht. Und der Rest Nachbarn? Nüscht. Nun muss ich mich auf die Suche nach ’ner anderen preisgünstigen Bude begeben. Toll! Der nächste Dominostein kippte an einem Samstag Ende Mai. Ich war mit Charly auf’m Schanzenflohmarkt, als sie mit mir zu streiten anfing, weil ich drei kleinen Mädchen erlaubte, ihr junges Hundeweibchen zu streicheln. Charly hasst es, wenn Amy von fremden Leuten angefasst wird, zumal sie ohnehin extrem argwöhnisch ist, was dieses Tier betrifft. Bereits in der vorigen Woche hatten

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