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die hierherkommen, sind zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt. Recht jung also, was ich tragisch finde. Ihre Anliegen könnten individueller und vielseitiger nicht sein. Probleme, Fragen oder Themen wie Mode, Beziehung, Trennung, Scheidung, Schwangerschaft, Verhütung, Krankheiten, Menstruation, Schulden, Entzug oder einfach nur das Bedürfnis nach Hilfe beim Bettenbeziehen. Es entwickeln sich spannende, erschütternde, traurige und lustige Gespräche. Auf der Straso darf ich in ein paar Wochen mitlaufen. Es gibt Früh-, Spät- und Wochenenddienste. Besonders abends und nachts ist der Trubel groß, weil dann am meisten „angeschafft“, aber auch vor der Polizei, die permanent Bußgelder verhängt, geflüchtet wird. Die hiesige Straßenprostitution im Sperrbezirk in der Nähe der Drogenszene ist nämlich eine Ordnungswidrigkeit. Zu meinem Schutz muss ich mich demnächst gegen Hepatitis A und B impfen lassen. Dass jede meiner Kolleginnen in ihrer jahrelangen Berufslaufbahn mindestens einmal von ’ner Nadel gestochen wurde, bereitet mir ein mulmiges Gefühl, obwohl sich keine von ihnen mit HIV ansteckte. Die Wahrscheinlichkeit liegt bei circa 0,3 Prozent. Sicherheitshalber erhielt ich eine kurze Einführung, wie man sich im Fall X zu verhalten hat. Es war komisch, so nah mit den benutzten Spritzen in Berührung zu kommen. Die Klientinnen können ihr zu entsorgendes Besteck eins zu eins gegen neue, sterile Tanks und Kanülen verschiedener Dicke und Länge tauschen. Dafür legen sie ihr Zeugs auf den Stahltisch oder schmeißen es direkt in die vorgesehenen Container und erhalten zusätzliches Zubehör – Einweglöffel/Pfännchen, Filter, Ascorbinsäure, Alkoholtupfer und Pflaster. Ich fasse die gebrauchten Spritzen zwar, wenn überhaupt, nur mit Latexhandschuhen an, nichtsdestotrotz muss ich mich an die Handhabung und das Tropfen des Bluts auf die Ablage gewöhnen. Die Frauen sollen den Konsumraum, in dem sie ihre mitgebrachten Substanzen injizieren, schniefen oder paffen (Heroin vs. „Shore“ auf Folie/„Blech“ rauchen, Kokainsalz-Natriumhydrogencarbonat-Gemisch als Crack/„Stein“ in der Pfeife), nutzen, um unter Beaufsichtigung einer Sozialarbeiterin oder Krankenschwester eine Überdosis und Infektionen zu vermeiden. Weil mir „Fixerstuben“ bereits aus anderen Stellen bekannt sind und ich hautnah beim Pumpen dabei war, weiß ich, womit ich in etwa zu rechnen habe. Entgegen dem, was man aus Filmen kennt, ist bei den wenigsten ein „Trip“ zu bemerken. Viele konsumieren in erster Linie, um ihre schmerzhaften Entzugserscheinungen zu lindern. Bei etlichen sind die Venen so stark verhärtet, dass sie sich in Lende, Oberschenkel, Fuß, Hand oder Hals stechen müssen. Wirklich abschreckend ... Unseren Besucherinnen dienen die Drogen darüber hinaus als Strategie, Ängste und Erinnerungen zu kompensieren und die „Hurerei“ erträglicher zu machen. Wie gerät man überhaupt in die Falle von Drogen und Prostitution? Wirklich alle, die uns aufsuchen, wurden in ihrer Kindheit oder im weiteren Verlauf ihrer Biografie Opfer von sexuellem Missbrauch. Die Hälfte ist wohnungs- und erwerbslos, ohne Schulabschluss oder Ausbildung und stark traumatisiert. Es mag sein, dass belastende Lebensereignisse (Vernachlässigung, Verwahrlosung, erfahrene Gewalt, Abhängigkeit in der Familie, Heimunterbringung und Beziehungsabbrüche) Drogensucht begünstigen. Der regelmäßige Konsum ist kostspielig und kann, muss aber nicht, in die Sexarbeit führen. Bis ich hier angefangen habe, hatte ich ein total anderes Bild von Prostituierten im Kopf. Und zwar das der gepflegten, aufreizenden, „selbstbewussten“ Professionellen im Rotlichtmilieu, die für das Teilen ihrer Einnahmen von Zuhältern „beschützt“ werden, ihrer Tätigkeit „freiwillig“ nachgehen und sie als Gewerbe anmelden. Unseren Klientinnen dagegen sieht man die Folgen des Konsums an. Sie wirken oft scheu und in sich gekehrt. Für sie schien die Sexarbeit ehemals bestimmt eine vielversprechende Option zu sein, ihr Leben „frei“ gestalten und schnell Geld verdienen zu können. Dass sie nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Seele verkaufen und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden würden, davon hatten sie wahrscheinlich keine Ahnung. Ungeachtet dessen, dass Prostitution prinzipiell ein Tabuthema ist, das verurteilt und abgewertet wird, sind unsere Frauen gleich doppelt stigmatisiert. Durch die Sexarbeit selbst und den Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Für sie ist die sogenannte Beschaffungsprostitution, die sie verleugnen, lediglich ein Mittel zum Zweck, um Drogen, Essen und einen warmen Schlafplatz zu finanzieren. Diese Notlage lässt sie die Preise brechen und liefert sie den Forderungen ihrer Freier aus, die das schamlos als Gelegenheit für ihre ekelhaften Neigungen und perverseste Praktiken ausnutzen. Es ist unfassbar, was die Frauen – zum Teil an abgelegenen Orten – über sich ergehen und wie sie sich erniedrigen lassen müssen. Aufgrund der Befürchtung, außerhalb der Szene zu scheitern, ist der Ausstieg für Betroffene enorm schwer, schier unmöglich. Mich wundert nicht, dass eine von unseren Klientinnen ihrer grauenhaften Erfahrungen wegen akut selbstmordgefährdet ist. Derweil wird darüber diskutiert, ob wir das Risiko, dass sie sich in der Einrichtung umbringen könnte, eingehen sollten.

      Übergriffe

      Vorgestern gab’s in der Hochschule einen Gastvortrag zum Thema Islam. Der Dozent fragte, wer von uns sich schon mit dem Koran auseinandergesetzt hätte. Ich meldete mich als Zweite. Danach brachte er die sexuellen Übergriffe, Diebstähle und Körperverletzungen auf Dutzende Frauen in der Silvesternacht 2015/16 zur Sprache. Die Vorfälle in Köln und Hamburg würden in der Gesellschaft heftigen Unmut gegenüber Asylbewerbern auslösen, weil es sich bei den Tatverdächtigen (die Zahlen steigen) um junge Männerbanden mit nordafrikanischem und arabischem Aussehen gehandelt haben soll. Wie so etwas passieren könne, wollte der Vorträger wissen. Dabei bemühte er sich zu betonen, aufgrund dieser Ereignisse nicht pauschalisieren zu dürfen, und erläuterte, dass der Koran durch seine vagen und widersprüchlichen Formulierungen viel Raum für Fehlinterpretationen biete, und nicht zuletzt in den Aussagen zur Geschlechtergleichberechtigung unterschiedlich ausgelegt werde. Genau darin bestehe die Gefahr. Zwar lasse sich aus Sure 33,35 ableiten, dass Mann und Frau vor Gott gleichwertig seien; gemäß Sure 4,34 stünden die Männer jedoch über den Frauen.

      Diese Darlegung, die mir nicht neu war, sorgte wegen des letzten Verssatzes „... wenn ihr fürchtet, dass die Frauen sich auflehnen, dann ermahnt sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie“ sofort für Irritation und Verärgerung in meiner Klasse. Mit süffisanter Miene beobachtete ich den Klamauk und dachte: Von nix ’n blassen Schimmer ... Hauptsache das Beil schwingen und mich zerstückeln, bis mir der Kragen platzte und ich an der Diskussion teilnahm. „Ist die Bibel etwa nicht von Frauenverachtung und -unterdrückung gekrönt? In jeder Religion sind mittelalterliche Traditionen verankert. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Mehrheit der Muslime, die mit dem Strom der Moderne schwimmt, genauso empört ist über das Festhalten einiger an eindimensionalen Denkweisen. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass sich neben den Menschenrechtserklärungen im Islam durchaus nicht unwesentlich auf den Koran berufen wird. Die Schriften müssten daher gründlich überarbeitet, ergänzt und aktualisiert werden. Das passiert ja auch mit unserem Grundgesetz, in das die christlichen Werte einfließen, ohne von ihnen dominiert zu werden. Oder schlagt ihr die Bibel auf, wenn’s um Richtlinien geht?? Nein, denn Religion findet im unteren Rang Platz.“ Verpeiltes Gaffen. Kein Mucks. Eine Antwort hatte ich auch nicht erwartet. Zu sehr belastete mich, dass mit der Konfrontation die von mir abgekapselte, monatelange und anhaltende Ausgrenzung wieder aufkam. Meine Kameraden sollten sich schämen für das, was sie mir angekreidet und damit in Gang gebracht haben. Wenn die wüssten, wie sehr ich darunter leide, dass sie die Zeit meines Studiums kolossal und restlos verändern. Würden sie mich überhaupt begreifen oder sich gar entschuldigen? Das bezweifle ich ... Darüber hinaus wühlte mich aber noch eine ganz andere Erinnerung auf – ausgelöst durch die Berichte aus der Silvesternacht. Ich las von grob eingeführten Fingern im Genitalbereich und litt enorm mit den Opfern, weil ich die Ohnmacht, die sie empfunden haben müssen, ein Stück weit nachvollziehen kann. Als ich vierzehn Jahre alt war, ist mir das Gleiche widerfahren. Unter anderen Umständen ... was es für mich nicht besser macht. Ich paddelte mit meiner damals zwölfjährigen Freundin – ’n Hungerhaken, flach wie ’ne Flunder – auf einer Luftmatratze. Indessen näherte sich uns ’ne Gruppe von sechs ausländischen Männern zwischen achtzehn und Mitte zwanzig, die uns erst spielerisch, dann stetig aufdringlicher werdend anbaggerte und mich sogleich zur Flucht alarmierte. Zumal wir immer weiter aufs Meer hinaustrieben. Meine Freundin hingegen fühlte sich geschmeichelt, erkannte das Risiko nicht und wollte bleiben. Zu ihrem Unmut hatten’s die Typen auf meine Kurven abgesehen. Während ich mich schreiend, fischartig am Angelhaken zappelnd und windend zur Wehr setzte, rettete sie ihren eigenen

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