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im Frühjahr sollte auch Hans eingezogen werden. Die Maschinerie der Manipulation lief jedenfalls auf Hochtouren. Doch so oder so: Würde es für Jan und mich eine Zukunft geben?

      Mir schwirrte der Kopf, und der dumpfe Schmerz in meinem Nacken mahnte, mich nicht weiter in zermürbende und beängstigende Spekulationen zu ergehen. „Am Ende wird doch noch alles gut; und wenn’s nicht gut ist, dann ist es noch nicht zu Ende!“, pflegte meine Großmutter zu Lebzeiten stets zu sagen. Bei der Erinnerung daran wurde mir ganz warm ums Herz; neuer Mut keimte in mir auf. Ich atmete tief durch, straffte die Schultern, schüttelte den Kopf, als könnte ich auf diese Weise alle störenden Gedanken vertreiben und machte mich auf den Weg zur Waschküche.

      Kurze Zeit später saßen wir alle am riesigen Küchen-tisch. Doch zuvor galt es, in Reih‘ und Glied zur Essenausgabe anzutreten. Mütterchen hatte nämlich schon beizeiten die Vorzüge des Kantinengeschehens für sich entdeckt. Und so löffelten wir nach dem Tischgebet alle brav den deftigen Eintopf: unser fleißiges Gesinde und meine Geschwister Hans, Else, Roland, Emil und Peter. Der 5jährige Lothar wich Piotr nicht von der Seite, und Klein-Erwin saß auf Mutters Schoß; als Dreijähriger musste er hin und wieder noch gefüttert werden. Mir wurde der Platz zu ihrer Rechten angewiesen, damit ihr auch ja keiner der verstohlenen Blicke entging, die Jan und ich gelegentlich tauschten. Dann entfuhr ihr meist ein energisches Hüsteln, was augenblicklich ein unterdrücktes Grinsen auf das Gesicht eines jeden Erwachsenen zauberte.

      „Wo bleibt denn nur euer Vater?“, fragte sie rein rhetorisch in die Runde. „Er wollte doch zum Essen daheim sein. Auf nichts kann man sich mehr verlassen.“

      „Annchen“, meinte der alte Piotr mit einem Augen-zwinkern. „Du kennst Heldchen von Volkssturm. Bei so nasskalte Wetter die muss aufheize in Wirtshaus.“

      Ein Blick von Mutter genügte, um Piotr verstummen zu lassen. Doch plötzlich zuckten ihre Mundwinkel amüsiert und mit einem verständigen Kopfschütteln antwortete sie: „Ja, ja, Piotr, ich hab’s kapiert! Kriegst ja nach dem Essen deinen Schnaps. Ohne Schlubberche schick ich dich bestimmt nicht wieder vor die Tür. Und für die anderen gilt das Gleiche.“

      Plötzlich vernahmen wir das Klappern von Pferdehufen und das Rattern eines Fuhrwerks in unserem Hof. „Brrr…, haaalt!“ War das nicht Vaters Stimme?

      Neugierig liefen wir zum Fenster; keine zwei Minuten später standen wir draußen vor den Neuankömmlingen: eine alte Frau, ihre Tochter und zwei Kinder.

      Augen voll Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit starrten uns entgegen, und gleichzeitig schienen sie durch uns hindurch zu blicken. Die Greisin kletterte überraschend behände vom Kutschbock und half zunächst den Kindern vom Fuhrwerk herunter. Als Vater Anstalten machte, der jüngeren Frau seine Hilfe anzubieten, indem er die Hand nach ihr ausstreckte, wich diese panisch zurück und brabbelte nur noch wirres Zeug.

      „Schon gut, schon gut! Wir sind in Sicherheit, mein Kind“, redete die Alte beruhigend auf ihre Tochter ein, deren von zahlreichen Blessuren gezeichnetes Gesicht wieder einen versteinerten Ausdruck angenommen hatte. Mit ihren eingefallenen, blassen Wangen und den dunklen Schatten unter den Augen wirkte sie mehr tot als lebendig.

      Mein Vater kam um das Fuhrwerk herum. „Das sind Ida, ihre Tochter Charlotte und die Zwillinge Stefan und Paul. Sie bleiben vorerst bei uns. Kathinka und Sonja, ihr beide richtet oben das große Zimmer für sie her. Piotr, Stanislaw, Jan … ausspannen und Pferde versorgen, bevor ihr ab-ladet!“ Und dann hörte ich, wie er Mutter zuraunte: „Überlebende aus Nemmersdorf. Hab sie unten im Dorf aufgelesen. Völlig neben der Spur, wenn du mich fragst. Et Charlottche konnte zwar ihre Mutter und die Kinder noch in Sicherheit bringen. Sie selbst hatte es allerdings nicht mehr geschafft. Armes Ding! Sie muss durch die Hölle gegangen sein. Wenn man bedenkt, dass der Überfall der Bolschewiken schon drei Wochen zurückliegt und sie immer noch Blessuren hat …“

      Weiterer Erklärungen bedurfte es nicht. Mutter legte Charlotte kameradschaftlich einen Arm um die Schulter und führte sie ins Haus mit den Worten: „Jetzt gehen wir erst mal ins Warme, und dann gibt’s was zu essen. Ihr seid ja völlig ausgemergelt.“ Als Charlotte müde den Kopf schüttelte und ein „ich kann nicht; hab keinen Hunger“ hauchte, meinte Mutter in ihrer unbeirrbaren Art: „Ach papperlapapp! Du musst wieder zu Kräften kommen, und da gibt’s nicht Besseres als einen Teller Eintopf und Schmalzbrote.“ Und in gemäßigterem Ton fügte sie noch hinzu: „Ich weiß, du hast Schlimmes durchmachen müssen! Du hast es überstanden, du hast überlebt. Was geschehen ist, können wir leider nicht mehr ändern. Aber jetzt musst du nach vorne blicken! Und mit der Zeit wirst du vergessen, was die Schweine dir angetan haben.“

      Aus heutiger Sicht mögen Mutters Worte herzlos erscheinen, dennoch waren sie nicht weniger als die typische Überlebensstrategie der Menschen jener Zeit: Tote beweinen, Wunden lecken, dann Schicksalsschläge ver-drängen, nach vorne blicken und dem Herrgott danken für die Chance auf eine hoffentlich bessere Zukunft.

      Ähnlich einer Trauergemeinschaft zogen sie die Stufen zur Eingangstür hinauf, mit hängenden Schultern, als würde die Last der Welt auf ihnen ruhen. Ich blieb zurück, fassungslos und desillusioniert. Jetzt waren die Schatten des Krieges auch bei uns angekommen. Diese armen Menschen hatten alles zurückgelassen, was ihnen lieb und teuer war: ihr Zuhause, ihre Heimat. Sie hatten um ihr Leben laufen müssen. Traumverloren blickte ich mich um. Allein der Gedanke, mein geliebtes Mantowen verlassen zu müssen, jagte mir eisige Schauer über den Rücken. Seit Generationen hatte meine Familie aus diesem einstmals bescheidenen Bauernhof ein stattliches Vorwerk geschaffen.

      In dem Moment trat Vater vor die Haustür, zündete sich eine Zigarre an und kam schweren Schrittes auf mich zu. Wahrscheinlich hegte er dieselben schwermütigen Gedanken wie ich, denn in seinen Augen schienen sich meine Ängste und Befürchtungen zu spiegeln. Ohne ein Wort zu sagen legte er mir seinen Arm um die Schultern.

      „Werden die Russen auch bis zu uns kommen?“, brach ich mit zitternder Stimme das Schweigen.

      „Ich weiß es nicht. Aber ich befürchte schon.“

      „Aber…aber…“, weiter kam ich nicht. Unwillkürlich traten mir Tränen in die Augen, die ich energisch zu unterdrücken versuchte, da Piotr und Jan aus dem Stall kamen und sich uns näherten. Haltung bewahren, Martha, Haltung bewahren! Meine Tränen sollten sie nicht sehen. Das verbot mir meine preußische Selbstdisziplin.

      „Habt ihr alles erledigt?“, fragte Vater seine treuen Knechte und nach einem zu erwartenden Nicken: „Dann trinkt noch einen Kaffee und raucht von mir aus eine Zigarette oder gönnt euch ne Priese Schniefke, bevor ihr mit dem Dreschen weiter macht. Ach ja, und tut uns allen einen Gefallen und schaut der Frau nicht in die Augen. Sie hat verständlicherweise panische Angst vor Männern. Und sprecht auch die beiden Buben nicht an; sie haben Schreckliches gesehen und gehört.“

      „Nemmersdorf?“, fragte Piotr.

      „Nemmersdorf.“ So demütig hatte ich Vater noch nie erlebt.

      „Dann waren das doch keine Gerüchte? Es wirklich passiert?“ Piotrs Fragen waren rhetorisch. „Diese Schweine. Das keine Männer, das Abschaum. Wie konnte kleines Frauchen das überleben.“

      „Ein russischer Kommandant muss dem Spuk wohl ein Ende bereitet haben, nachdem seine Männer schon die halbe Nacht die Frau auf brutal Weise vergewaltigt hatten. Das hat jedenfalls die alte Ida erzählt. Sie selbst und die Kinder befanden sich in einem Versteck im Keller, in einem geheimen Raum, den Idas Mann - Gott hab ihn selig - schon im Ersten Weltkrieg vorsorglich angelegt hatte.“

      Ich hatte genug gehört, wollte nur noch weg, drehte mich um und stieß mit Jan zusammen. Er nahm mich in Anwesenheit meines Vaters tröstend in die Arme und sagte leise: „Keine Angst. Dir werden nix passieren. Ich dich immer beschützen.“

      „Jan!“, bellte Vater im Kasernenhofton und brachte uns beide somit zur Vernunft.

      „Ihr versteht nicht“, versuchte ich mich zu rechtfertigen. „Bernhard und Jacob, meinen kleinen Brüder, sind mittendrin. Sie müssen jeden Tag diese schrecklichen Bilder sehen. Und sie sind nicht einmal zwanzig.“

      „Die

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