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Mr. Brocklehurst aus zweiter Hand von Mrs. Reed hat und so jämmerlich und schwach und pathetisch gegen dich wiederholte, – sie trifft dich nicht; denn auf deiner reinen Stirn, in deinen lebensvollen Augen steht es geschrieben, daß du eine wahre offenherzige Natur bist – und Gott erwartet nur die Trennung der Seele vom Fleische, um uns mit dem höchsten Lohn zu krönen. Nun denn, weshalb von Leid überwältigt zu Boden sinken, wenn das Leben so bald zu Ende ist, und der Tod uns den Eintritt zu Seligkeit und Herrlichkeit bedeutet?«

      Ich schwieg. Helen hatte mich beruhigt; aber die Ruhe, welche sie mir gegeben, hatte einen Zusatz von unsäglicher Traurigkeit. Ich fühlte den Eindruck von Weh als sie sprach, aber ich konnte nicht sagen, woher er kam; und als sie mit ihrer Rede zu Ende, ein wenig schneller atmete und trocken und kurz hustete, vergaß ich für einen Augenblick meinen eigenen Kummer und gab mich einer unbestimmten Furcht und Unruhe in Bezug auf sie hin.

      Meinen Kopf an Helens Schulter lehnend, schlang ich meinen Arm um ihre Taille; sie zog mich an sich, und so ruhten wir lange schweigend. Nach Verlauf von ungefähr einer Viertelstunde trat eine dritte Person ins Zimmer. Ein frischer Wind hatte einige schwere Wolken vom Horizont fortgetrieben, und der Mond ging klar auf; durch ein nahes Fenster warf er seine hellen Strahlen auf uns und die nahende Gestalt, in welcher wir sofort Miß Temple erkannten.

      »Ich kam, um dich zu suchen, Jane Eyre,« sagte sie, »du sollst in mein Zimmer kommen, und da Helen Burns bei dir ist, mag sie uns begleiten.«

      Wir gingen. Unter Führung der Vorsteherin hatten wir unseren Weg durch ein Labyrinth von Korridoren zu suchen und eine Treppe emporzusteigen, bevor wir ihr Zimmer erreichten. Ein helles Feuer brannte in demselben; es sah freundlich und behaglich aus. Miß Temple bedeutete Helen Burns, sich in einen niedrigen Lehnsessel an einer Seite des Kamins zu setzen; sie selbst nahm einen zweiten und rief mich an ihre Seite.

      »Ist es jetzt vorüber?« fragte sie und blickte mir ins Gesicht. »Hast du deinen Kummer fortgeweint?«

      »Ich fürchte, das werde ich nicht können.«

      »Weshalb?«

      »Weil ich ungerecht und fälschlich beschuldigt worden bin; und jetzt werden Sie, Madame, und alle anderen Menschen mich für böse und gottlos halten,«

      »Wir werden dich für das halten, mein Kind, als was du dich erweist. Fahre fort, dich wie ein gutes Mädchen zu betragen und du wirst mich zufrieden stellen.«

      »Gewiß, Miß Temple?«

      »Gewiß, Jane,« sagte sie und schlang ihren Arm um mich. »Und jetzt erzähle mir, wer die Dame ist, die Mr. Brocklehurst deine Wohltäterin nannte.«

      »Mrs. Reed, die Gattin meines Onkels. Mein Onkel ist tot, und er ließ mich in ihrer Obhut zurück.«

      »Sie nahm dich also nicht aus eigenem Antrieb an Kindesstatt an?«

      »Nein, Madame; sie hat es sehr ungern getan; aber wie ich die Dienstboten oft erzählen hörte, nahm er ihr kurz vor seinem Tode das Versprechen ab, stets für mich sorgen zu wollen.«

      »Nun also, Jane, du weißt ja, oder ich will es dir sagen, daß wenn ein Verbrecher angeklagt wird, man ihm stets gestattet, seine eigene Verteidigung zu führen. Man hat dich der Falschheit, der Lügenhaftigkeit angeklagt; verteidige dich vor mir so gut du kannst. Sag alles, was dein Gedächtnis als wahr rechtfertigen kann; aber füge nichts hinzu, verschweige nichts, übertreibe nichts.«

      In der Tiefe meines Herzens beschloß ich, mich zu mäßigen, so korrekt wie möglich zu sein; und nachdem ich einige Augenblicke nachgedacht hatte, um das, was ich zu sagen hatte, zusammenhängend zu ordnen, erzählte ich ihr die ganze Geschichte meiner traurigen Kindheit. Durch die Erregung sehr erschöpft, sprach ich in gemäßigteren Ausdrücken, als ich es sonst zu tun pflegte, wenn ich auf dieses qualvolle Thema kam; und Helens Warnung gedenkend, mich dem Rachegefühl nicht rückhaltslos hinzugeben, ließ ich viel weniger Galle und Wermut in die Erzählung einfließen, als es sonst wohl geschah. So vereinfacht und beschränkt, klang sie sehr glaubwürdig: während ich sprach, empfand ich, daß Miß Temple mir vollen Glauben schenkte.

      Im Laufe der Erzählung hatte ich erwähnt, daß Mr. Lloyd gekommen sei, um mich nach jenem Krampfanfalle zu besuchen; denn niemals vergaß ich die für mich so entsetzliche Episode in dem roten Zimmer; wenn ich diese Details erzählte, konnte ich gewiß sein, daß meine Erregung in einem gewissen Grade die Grenzen überschritt; denn selbst in meiner Erinnerung noch hatte die Todesangst sich frisch erhalten, welche sich meiner bemächtigte, als Mrs. Reed mein wildes Flehen um Verzeihung verlachte und mich zum zweitenmal in das düstere, gespenstische Zimmer sperrte.

      Ich war zu Ende. Schweigend betrachtete Miß Temple mich einige Minuten; dann sagte sie:

      »Ich habe von Mr. Lloyd gehört; ich werde an ihn schreiben; wenn seine Antwort mit deinen Angaben übereinstimmt, so sollst du öffentlich von jeder Anklage freigesprochen werden. Für mich, Jane, stehst du schon jetzt unschuldig da.«

      Sie küßte mich und behielt mich noch an ihrer Seite. Mir gewährte das Betrachten ihres Angesichts, ihres Kleides, ihrer wenigen prunklosen Schmuckgegenstände, ihrer weißen Stirn, ihrer dicken, glänzenden Locken und strahlenden schwarzen Augen ein kindliches Vergnügen. Zu Helen Burns gewandt, fuhr sie fort:

      »Wie geht es dir heute Abend, Helen? Hast du während des ganzen Tages viel gehustet?«

      »Nicht ganz so viel wie sonst, glaube ich.«

      »Und der Schmerz in deiner Brust?«

      »Er ist nicht mehr so heftig.«

      Miß Temple erhob sich, nahm ihre Hand und prüfte den Puls. Dann kehrte sie auf ihren Sitz zurück; ich hörte, wie sie leise seufzte. In Nachdenken versunken, verharrte sie einige Minuten; dann erwachte sie gleichsam und sagte fröhlich:

      »Aber heute Abend seid ihr beide meine Gäste; ich muß euch als solche bewirten.« Sie zog die Glocke.

      »Barbara,« sprach sie zu dem Mädchen, welches hierauf eintrat, »ich habe noch keinen Tee getrunken, bringe das Teebrett und bringe auch Tassen für diese beiden jungen Damen.«

      Bald wurde das Teebrett gebracht. Wie hübsch erschienen der glänzende Teetopf und die Porzellantassen meinen Augen, als sie auf dem kleinen Tisch neben dem Kamin standen! Wie köstlich war das Aroma des heißen Getränks. Und nun erst der Duft der gerösteten Weißbrotschnitten! Zu meinem Bedauern – denn der Hunger begann jetzt, sich bei mir fühlbar zu machen – sah ich nur eine kleine Portion davon auf dem Teller; auch Miß Temple schien diese Entdeckung zu machen,

      »Barbara,« sagte sie, »könntest du mir nicht noch etwas Brot und Butter bringen? Es ist nicht genug für drei.«

      Barbara ging hinaus. – Gleich darauf kam sie zurück.

      »Madame, Mrs. Harden sagt, sie habe die gewöhnliche Portion heraufgeschickt.«

      Ich muß bemerken, daß Mrs. Harden die Haushälterin war, eine Frau nach Mr. Brocklehursts Herzen, die aus gleichen Teilen Fischbein und Eisen zusammengesetzt war. »Schon gut, schon gut!« entgegnete Miß Temple; »dann muß es wohl für uns genug sein, Barbara.« Als das Mädchen fort war, fügte sie lächelnd hinzu: »Glücklicherweise liegt es in meiner Macht, dem Mangel dieses eine Mal noch abzuhelfen,«

      Nachdem sie Helen und mich aufgefordert hatte, uns an den Tisch zu setzen, und jeder von uns eine Tasse heißen Tee's und eine Scheibe köstlichen gerösteten Weißbrots gegeben hatte, erhob sie sich, öffnete eine Schieblade, nahm aus derselben ein in Papier gewickeltes Paket und enthüllte vor unseren Augen einen großen, prächtigen Krümelkuchen,

      »Ich hatte die Absicht, jeder von euch ein Stück hiervon mit auf den Weg zu geben,« sagte sie, »da man uns aber so wenig Toast bewilligt hat, sollt ihr es jetzt schon haben,« und sie begann mit großmütiger Hand, den Kuchen in Scheiben zu schneiden.

      Wir schmausten an diesem Abend wie von Nektar und Ambrosia; und es war nicht die kleinste Freude dieses Festes, daß unsere Wirtin uns mit freundlich zufriedenem Lächeln zusah, wie wir unseren regen Appetit an den köstlichen Leckerbissen, welche sie uns vorsetzte, stillten.

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