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Vollbremsung. Heike Heth
Читать онлайн.Название Vollbremsung
Год выпуска 0
isbn 9783738092875
Автор произведения Heike Heth
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Koma!? Na klar, wieso war er nicht selbst darauf gekommen. Aber war man da nicht völlig bewusstlos?
»... deshalb könnte eine Form des sogenannten Locked-In-Syndroms vorliegen, ... schwierig zu diagnostizieren ... führen wir eine Messung der Pupillenerweiterung durch ... oft funktioniert die vertikale Augenbewegung ...«
Michael war unfähig, den Ausführungen kontinuierlich zu folgen, sein Kopf schmerzte, mit aller Kraft wehrte er sich gegen den aufkommenden Schwindel.
»Wann wird es möglich sein festzustellen, ob Hirnschäden ...«
»Bitte, Dr. Mauritz, nicht jetzt«, unterbrach unwirsch Dr. Friedrich.
»Also, Herr Hallstatt, erst müssen die körperlichen Verletzungen heilen. Sollte sich unsere Diagnose bestätigen, gibt es Möglichkeiten, eine Kommunikation herzustellen. Bis dahin raten wir Ihren Angehörigen, Sie zu besuchen und mit Ihnen zu sprechen, damit die Isolation nicht zu groß wird. Bei der nächsten Visite wissen wir mehr.
Michael wollte sich bemerkbar machen. Die vertikale Augenbeweglichkeit hatte Dr. Friedrich gesagt. Er musste die Lider bewegen können. Vergeblich! Die Erbitterung, die Enttäuschung und die Verzweiflung darüber, jemanden nicht zu erreichen, obwohl dieser direkt neben ihm stand, lösten eine nie zuvor erlebte Ohnmacht in ihm aus.
»Schwester Brigitte, sorgen Sie dafür, dass Herr Hallstatt ausreichend Schmerzmittel erhält, und melden Sie sofort, wenn eine Veränderung eintritt.«
Er hörte das Scharren und Knarzen von Schuhen, die sich fortbewegten. Jemandem rutschte beim Verlassen des Zimmers die Tür aus der Hand, und sie schlug mit einem dumpfen Laut zu. Er versank in eine Reglosigkeit, die über die seines Körpers hinausging.
3.
Seine Gedanken liefen ins Leere, er sah sich nicht in der Lage, einen einzigen festzuhalten. Sein Geist oder Verstand schien sich aufzulösen. Erst allmählich kam seine Denkmaschinerie wieder in Gang. Satzfragmente der Visite tauchten an der Oberfläche auf, blieben hängen und lösten neue Überlegungen aus.
... vor sieben Tagen ... war es wirklich möglich, dass er bereits so lange in diesem Zustand verharrte? Ihm kam es wie endlos sich aneinanderreihende Stunden vor, vor allem, da er nicht zwischen Tag und Nacht unterscheiden konnte. Jegliches Zeitgefühl war ihm verloren gegangen. Warum, wenn so viel Zeit vergangen war, hatte ihn noch niemand besucht? War er die ersten Tage ohne Bewusstsein, so dass er es gar nicht mitbekommen hatte? Die Vorstellung, dass Menschen neben ihm am Bett saßen und seinen leblos wirkenden Körper anstarrten, gefiel ihm nicht.
Wer würde überhaupt herkommen? Natürlich seine Frau, es wunderte ihn, dass sie nicht schon da saß. Die Töchter? Er wusste momentan gar nicht, wo sie sich aufhielten und was sie taten. Sie lebten ihr eigenes Leben, und meist bekam er sie nur an den runden Geburtstagen zu Gesicht. Sein Sohn befand sich geschäftlich für mehrere Monate in China. Er hoffte, dass er nicht übereilt herreiste, solange keine akute Lebensgefahr für ihn bestand. Wie sie wohl alle auf die Nachricht über den Unfall und seine Folgen reagiert hatten? Seine Vorstellungskraft reichte nicht aus, sich ihre Reaktionen auszumalen.
»Wie auch, außer deinem Sohn kennst du sie ja kaum.«
Da war sie wieder, diese bescheuerte Stimme. Wer war sie und woher wusste sie so viel von ihm. Es musste mit diesem Syndrom zusammenhängen. ... ja, das wäre eine Möglichkeit, es war eine Nebenwirkung der Medikamente, die sie ihm gaben.
»Gut, dass dir immer eine Erklärung einfällt. Wir wollen ja nicht, dass du durchdrehst. Ha, ha, ha ...«
Das Lachen breitete sich dröhnend in seinem Kopf aus. Michael war kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. Seine Fäuste ballten sich in Gedanken vor Wut. Er wünschte sich sehnlichst, sie heftig an die Stirn zu pressen, um diese alberne Halluzination zu vertreiben. Machtlos, unfähig, seinen Zorn abzureagieren, erkannte er, was es bedeutete, keinen Einfluss auf das, was mit ihm passierte, zu haben. Er besaß keinerlei Zugang mehr zur Außenwelt. Er war nicht in der Lage, ein Gespräch zu führen, Fragen zu stellen, Ansichten auszutauschen, Wünsche zu äußern. Blind zu sein, stellte eine zusätzliche Isolation und intensive Einschränkung seiner Wahrnehmung dar. Die Kommunikation ging nur noch in eine Richtung. Alles, was an Gedanken und Erwiderungen dabei hervorging, blieb bei ihm eingeschlossen. Wenn sein Zustand sich nicht veränderte, würde seine Welt einzig und allein daraus bestehen! Panik stieg in ihm auf.
»He, he, beruhige dich! Du wirst einen Weg finden.«
Die Aussage wirkte unerwartet wie ein akustischer Rettungsanker und half ihm, die Panik zurückzudrängen. Gleichzeitig wurde er wütend auf die Stimme.
»Erst mich reizen und dann den Helfer spielen. Woher willst du das wissen?«
»Na, du bist doch sonst so überzeugt von deinen Fähigkeiten. Wer sagt denn immer: wo ein Wille, da ein Weg?« »Deine oberlehrerhafte Art geht mir auf die Nerven. Natürlich werde ich einen Weg finden, da brauche ich dich nicht dazu.« Er kam sich ertappt vor. Er konnte es nicht leiden, wenn jemand ihn in einem schwachen Moment erwischte.
»He, ich bin in deinem Kopf drin. Keiner da draußen bekommt das mit.«
Musste das sein, dass sie ihm diese Tatsache ständig auf die Nase band? Nur mühsam unterdrückte er die erneut aufsteigende Beklemmung. Er hasste diesen hilflosen Zustand, ohne eine Chance, aktiv etwas zu unternehmen. Nur Geduld half hier weiter. Abwarten und hoffen, dass er die derzeit unüberwindliche Mauer nach außen früher oder später durchbrechen kann. Hoffentlich bald, denn Geduld war ein Fremdwort für ihn.
»Endlich merkst du, dass dir erst mal nichts anderes übrig bleibt.«
»Na, dann lege ich mich gemütlich zurück, bis ich aufwache.« Michael hatte genug von dieser ominösen Stimme.
»Hast du denn etwas Besseres vor?«
Mann, die nervte! Immer noch einen obendrauf setzen. Wieso verschwand sie nicht? Jedes Mal, wenn er davon ausging, sie sei verstummt, tauchte sie erneut auf.
Es beunruhigte ihn, dass er anfing, sich mit ihr zu unterhalten. Er wünschte, er fände eine Möglichkeit, sie zum Schweigen zu bringen. Konnte es sich um eine Art Notfallprogramm des menschlichen Gehirns handeln? Eine Funktion, die verhinderte, dass man während einer solchen Isolation durchdrehte?
»Bla, bla, bla. Akzeptier mich doch einfach.«
Es blieb ihm sowieso nichts anderes übrig. Egal, um was für ein Phänomen es sich handelt, er musste hinnehmen, so wie das Wetter, auf das man auch keinen Einfluss hat. Positiv betrachtet, war sie zumindest eine zeitweilige Ablenkung.
»Solange dir das hilft, besser mit mir zurechtzukommen. Dann können wir uns ja jetzt ein Weilchen unterhalten.«
Ihr gönnerhafter Ton reizte Michael, und abweisend schnauzte er: »Ich pflege in der Regel nicht, imaginären Stimmen zuzuhören!«
»Du pflegst in der Regel niemanden zuzuhören, es sei denn, du bestimmst das Thema.«
»Es gibt wichtige und es gibt unwichtige Themen.«
»Und du allein entscheidest, was was ist.«
»Hör mal, du Klugscheißer, ich bin Inhaber eines Unternehmens und ich habe einen sehr engen Terminplan, da bleibt keine Zeit für unnötige Gespräche.«
»Jetzt nicht mehr. Jetzt hast du alle Zeit der Welt!«
Mit der Wucht einer Kanonenkugel schlug diese Erkenntnis in seinem Bewusstsein ein. Noch stärker als zuvor wurde ihm durch diese Aussage klar, dass sein bisheriges Leben verloren wäre, wenn er in diesem Koma gefangen bliebe.