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und so lernt er schon früh, was andere erst den Mannesjahren abgewinnen: Verantwortlichkeit.

      Schuljahre

      Der Knabe ist noch zu jung, um die Magie von Paris zu erfassen: fremd und fast feindlich mutet den Verträumten diese lärmende und brutale Wirklichkeit an; irgendein Grauen, einen geheimnisvollen Schauer vor dem Sinnlosen und Seelenlosen der großen Städte, ein unerklärliches Mißtrauen, daß hier alles nicht ganz wahr und nicht ganz echt sei, trägt er von diesen Stunden noch weit mit in sein Leben. Die Eltern schicken ihn in das Lycée Louis le Grand , das altberühmte Gymnasium im Herzen von Paris: viele der Besten, der Berühmtesten Frankreichs sind unter den kleinen Jungen gewesen, die man dort mittags, summend wie ein Bienenschwarm, aus der großen Wabe des Wissens herausdrängen sah. Er wird dort in die klassische, französisch-nationale Bildung eingeführt, um ein »bon perroquet Cornélien« zu werden, aber seine wirklichen Erlebnisse sind außerhalb dieser logischen Poesie oder poetischen Logik, seine Begeisterungen glühen längst in lebendiger Dichtung und in der Musik. Aber dort auf der Schulbank findet er seinen ersten Kameraden.

      Seltsames Spiel des Zufalls: auch dieses Freundes Namen hat zwanzig Jahre Schweigen benötigt zu seinem Ruhm, und die beiden – die größten Dichter des Frankreich von heute –, die dort gemeinsam die Schwelle der Schule betreten, treten fast gleichzeitig nach zwei Jahrzehnten in den weiten europäischen Ruhm. Paul Claudel, der Dichter der »Annonce faite à Marie« , ist jener Gefährte. In Glaube und Geist hat dies Vierteljahrhundert ihre Ideen und Werke weit entfremdet, des einen Weg führt in die mystische Kathedrale der katholischen Vergangenheit, der des andern über Frankreich hinaus einem freien Europa entgegen. Damals aber gingen sie täglich ihren Schulweg zusammen und tauschten in unendlichen Gesprächen, gegenseitig sich befeuernd, ihre frühe Belesenheit und jugendliche Begeisterung aus. Das Sternbild ihres Himmels war Richard Wagner, der damals über die französische Jugend zauberische Macht gewann: immer hat nur der universale weltschöpferische Mensch, nie der Kunstdichter auf Rolland Einfluß gehabt.

      Die Schuljahre sind schnell verflogen, schnell und ohne viel Freude. Zu plötzlich war der Übergang aus der romantischen Heimat in das allzu wirkliche, allzu lebendige Paris, von dem der zarte Knabe vorläufig nur die Härte der Abwehr, die Gleichgültigkeit und den rasenden, wirbelnden, mitreißenden Rhythmus fast ängstlich fühlt. Das Jünglingsalter wird für ihn zu schwerer, beinahe tragischer Krise, deren Widerschein man in mancher Episode des jungen Johann Christof nachleuchten sehen kann. Er sehnt sich nach Anteil, nach Wärme, nach Aufschwung, und wieder bleibt ihm Erlöserin »die holde Kunst in so viel grauen Stunden«. Seine Beglückungen sind – wie schön ist dies in »Antoinette« geschildert – die seltenen Sonntagsstunden in den populären Konzerten, wo die ewige Welle der Musik sein zitterndes Knabenherz aufhebt. Auch Shakespeare hat nichts verloren von seiner Gewalt, seit er seine Dramen auf der Bühne schauernd und ekstatisch gesehen, im Gegenteil, ganz gibt der Knabe ihm seine Seele hin: »Er überfiel mich, und ich warf mich ihm wie eine Blüte hin, zur selben Zeit überflutete mich gleich einer Ebene der Geist der Musik, Beethoven und Berlioz noch mehr als Wagner. Ich mußte es büßen. Unter diesen überströmenden Blüten war ich ein oder zwei Jahre wie ertrunken, gleichsam eine Erde, die sich vollsaugt bis zu ihrem Verderben. Zweimal wurde ich bei der Aufnahmeprüfung in die École Normale dank der eifersüchtigen Gesellschaft Shakespeares und der Musik, die mich erfüllten, zurückgewiesen.« Einen dritten Meister entdeckt er sich später, einen Befreier seines Glaubens, Spinoza, den er an einem einsamen Abend in der Schule liest und dessen mildes geistiges Licht nun für immer seine Seele erhellt. Immer sind die Größten der Menschheit ihm Vorbilder und Gefährten.

      Hinter der Schule gabelt sich der Weg ins Leben zwischen Neigung und Pflicht. Rollands glühendster Wunsch wäre, Künstler zu sein im Sinne Wagners, Musiker und Dichter zugleich, Schöpfer des heroischen Musikdramas. Schon schweben ihm einige Tondichtungen vor, deren Themen er im nationalen Gegensatz zu Wagner dem französischen Legendenkreis entnehmen will und von denen er eines, das Mysterium des Saint Louis , später bloß im schwingenden Worte gestaltet hat. Aber die Eltern widerstreben dem zu frühen Wunsche, sie fordern praktische Betätigung und schlagen die »École Polytechnique« , die Technik vor. Endlich wird zwischen Pflicht und Neigung ein glücklicher Ausgleich geschaffen, man wählt das Studium der Geisteswissenschaften, die »École Normale« , in die Rolland 1886 nach schließlich glänzend bestandener Prüfung aufgenommen wird und die durch ihren besonderen Geist und die historische Form ihrer Geselligkeit seinem Denken und Schicksal entscheidende Prägung gibt.

      École Normale

      Zwischen Feldern und freien Wiesen burgundischen Landes hat Rolland seine Kindheit verlebt, die erste Jugend der Gymnasiumsjahre in den brausenden Straßen von Paris: die Studienjahre schließen ihn noch enger ein, gleichsam in luftleeren Raum, in das Internat der École Normale . Um jede Ablenkung zu vermeiden, werden die Schüler dort abgesperrt gegen die Welt, ferngehalten vom wirklichen Leben, um das historische besser zu begreifen. Ähnlich wie im Priesterseminar, das Renan so wundervoll in seinen »Souvenirs d'enfance et de jeunesse« beschrieben hat, die jungen Theologen und in St. Cyr die zukünftigen Offiziere, so wird hier ein besonderer Generalstab des Geistes herangezogen, die »Normaliens« , die zukünftigen Lehrer zukünftiger Generationen. Traditioneller Geist und bewährte Methode vererben sich in fruchtbarer Inzucht, die besten Schüler sind bestimmt, an der selben Stelle als Lehrer wieder zu wirken. Es ist eine harte Schule, die unermüdlichen Fleiß fordert, weil sie sich Disziplinierung des Intellekts zum Ziele setzt, aber eben durch die angestrebte Universalität der Bildung gibt sie Freiheit in der Ordnung und vermeidet die gerade in Deutschland so gefährliche methodische Spezialisierung. Nicht durch Zufall sind gerade die umfassendsten Geister Frankreichs, wie Renan, Jaurès, Michelet, Monod und Rolland, aus der École Normale hervorgegangen.

      So sehr in diesen Jahren die Leidenschaft Rollands auf Philosophie gerichtet ist – er studiert leidenschaftlich die Vorsokratiker und Spinoza –, so wählt er sich doch im zweiten Jahre Geschichte und Geographie als Hauptfach. Sie bietet ihm die meiste geistige Freiheit, indes die philosophische Sektion das Bekenntnis zum offiziellen Schulidealismus, die literarische zum rhetorischen Ciceronianismus erfordert. Und diese Wahl wird für seine Kunst Segnung und Entscheidung. Hier lernt er zum erstenmal für seine spätere Dichtung die Weltgeschichte als eine ewige Ebbe und Flut von Epochen zu betrachten, für die gestern, heute und morgen eine einzige lebendige Identität bedeuten. Er lernt Überblick und Ferne, und jene seine eminente Fähigkeit, Historisches zu verlebendigen und andererseits die Gegenwart als Biologe des Zeitorganismus kulturell zu betrachten, dankt seine Jugend diesen harten Jahren. Kein Dichter unserer Zeit hat auch nur annähernd ein ähnlich solides Fundament von tatsächlichem und methodischem Wissen auf allen Gebieten, und vielleicht ist im gewissen Sinne sogar seine beispiellose Arbeitsfähigkeit, sein dämonischer Fleiß ein Erlerntes aus jenen Jahren der Klausur.

      Auch hier im Prytaneum – das Leben Rollands ist reich an solchen mystischen Sinnspielen – findet der Jüngling einen Freund, und wiederum ist es einer der zukünftigen Geister Frankreichs, wieder einer, der gleich Claudel und ihm selbst erst nach einem Vierteljahrhundert in das Licht des großen Ruhmes trat. Es wäre klein gedacht, dies bloß Zufall nennen zu wollen, daß die drei großen Vertreter des Idealismus, der neuen dichterischen Gläubigkeit in Frankreich, daß Paul Claudel, André Suarès, Charles Peguy gerade in ihren entscheidenden Schuljahren die täglichen Kameraden Romain Rollands gewesen sind und fast zu gleicher Stunde nach langen Jahren des Dunkels Gewalt über ihre Nation gewannen. Hier war längst aus Gesprächen, aus geheimnisvoll glühender Gläubigkeit eine Sphäre gewoben, die den Dunst der Zeit nicht sogleich zu durchdringen vermochte: ohne daß jedem dieser Freunde das Ziel deutlich geworden wäre – und in wie verschiedener Richtung hat der Weg sie getrieben! –, wurde das Elementare der Leidenschaft, der unerschütterliche Ernst zu großem Weltgefühl in ihnen doch gegenseitig bestärkt. Sie fühlten die gemeinsame Berufung, durch Aufopferung des Lebens, durch Verzicht auf Erfolg und Ertrag, ihrer Nation in Werk und Anruf die verlorene Gläubigkeit zurückzugeben; und jeder der vier Kameraden hat – Rolland, Suarès, Claudel, Peguy, jeder aus einer andern Windrichtung des Geistes – ihr Erhebung gebracht.

      Mit Suarès verbindet ihn, so wie schon im Gymnasium mit Claudel, die Liebe zur Musik, besonders

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