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Stadt ohne Licht. Ernst Meder
Читать онлайн.Название Stadt ohne Licht
Год выпуска 0
isbn 9783737526371
Автор произведения Ernst Meder
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Nach dem Tod seines Urgroßvaters bestand seine erste Handlung darin, die Geige in den Geigenkasten zu legen und diesen in der hintersten Ecke zu verstecken. Als sein Großvater nach der Geige fragte, wurde diese notgedrungen wieder aus der Ecke hervorgeholt, denn nun sollte sein Sohn Leo das Geigenspiel erlernen. Leo war nun der Erste in der Familie, der Freude daran hatte und diese Freude hörte man auch bei seinem Spiel.
Die letzten Jahre hatte er mit dem Spiel aufgehört, damit der Frieden in seiner Familie nicht gestört wurde. Als bei seinem Sohn immer häufiger epileptische Anfälle auftraten, hatte seine Frau sich immer mehr zurückgezogen, um sich ausschließlich um den Jungen zu kümmern. Sein Geigenspiel hätte diesen Frieden zu Hause nur gestört, ihre mühsam erkämpfte Balance ins Wanken gebracht.
Nun gab er für mich und unser ungeborenes Kind regelmäßig Violinkonzerte seiner Lieblingskomponisten. Es war der fünfte oder sechste Monat meiner Schwangerschaft, als er an einem Donnerstag ein dickes Buch mitbrachte, aus dem er mir vorlesen wollte. Er wirkte dabei so traurig, dass ich ihn fragte, weshalb er so traurig ist. Es ist die Geschichte unserer Liebe, auch wenn diese Geschichte bereits mehr als dreihundert Jahre alt ist. Es ist die Geschichte zweier Liebender, die wegen der Feindschaft ihrer Familien nicht zueinander kommen konnten.
Er las aus Romeo und Julia vor, verglich unsere Situation mit der der verfeindeten Familien Montague und Capulet, dann nannte er mich zärtlich seine Julia. Es muss die Hoffnung geben, dass dieses unmenschliche Regime nicht so lange existiert wie selbst beschworen, wie sonst sollte die Menschheit ein System wie dieses überleben.
Dann erzählte er mir von seiner Angst, alles zu verlieren was seine Familie über viele Generationen angesammelt, was seine Vorfahren sich erspart haben. Er hätte es am liebsten mir oder unserem Kind übertragen, aber aus bekannten Gründen war dies nicht möglich. Nach und nach erzählte er mir von seinem Plan, sprach von dem deutschen Schulfreund, der ihm über die Jahre in Freundschaft verbunden geblieben war. Er war der Einzige, der ihm in jener Nacht, als die Nationalsozialisten Synagogen niederbrannten und Juden verfolgten, geholfen hatte. Ihm vertraue er rückhaltlos, mit ihm habe er einen Plan entwickelt, wie er sein Eigentum schützen könne.
Mit ihm werde er einen Vertrag schließen in dem er ihm sein Eigentum, das im Wesentlichen aus dem Mietshaus bestehe, übertrage. Um diesen Vertrag nach außen wirksam werden zu lassen, würden sie so tun, als ob er das Haus von ihm gekauft hat. Zugleich werden sie einen zweiten Vertrag schließen, in dem festgehalten wird, dass die Übertragung nur pro forma erfolgt sei. Sein Freund habe keineswegs die Mittel um das Haus zu kaufen. Wenn der jetzige Spuk der Vergangenheit angehöre, werde das Haus wieder rückübertragen, sein Freund solle dafür reichlich entschädigt werden.
Diesen Plan verfolgte er mit einer Zielstrebigkeit, da er fürchtete, dass ihm sein Eigentum genommen wird, weil er Jude ist. Obwohl er kein gläubiger Jude war, hatte er unter den Verfügungen und Erlassen der Nationalsozialisten zu leiden, wurde verfolgt, bespuckt und geschlagen.
Alles, was er erleiden musste, hatte er versucht nicht in unsere Wohnung mitzubringen, hatte immer abgewunken, wenn ich ihn darauf ansprach. Trotzdem blieben mir die Spuren dieser Gewaltakte nicht verborgen, wenn er mit blauen Flecken, Kratzern am Körper oder auch größeren Wunden zu unseren Treffen kam. Ich versorgte seine Wunden, tröstete ihn wegen des zugefügten Unrechts. Meist weinte ich, wenn ich allein war, da er nicht wollte, dass darum geweint wird. Nachdem er meinen Vorschlag abgelehnt hatte, mit ihm wegzugehen, freute ich mich jedes Mal, wenn er unversehrt zu unseren Treffen kam.
Elisabeth legte die Seite auf den Stapel der bereits gelesenen Papiere, dann rieb sie mit den Handballen über ihre müden Augen. Inzwischen war es sogar bis in ihr Bewusstsein gedrungen, die ungeborene Tochter, von der ihre Mutter in ihrem Tagebuch schrieb, war sie. Ihr Geburtsdatum ließ keinen anderen Schluss zu. Was auch neu für sie war, ihr ursprünglicher Vater, an den sie keine Erinnerung hatte, da er nur wenige Tage zu Hause verbracht hatte, war nicht ihr Vater. Ihr Vater, oder besser ihr Erzeuger war, so entnahm sie aus den Unterlagen ihrer Mutter, dieser Leo Bernstein, dessen Name sie bis zum heutigen Tag noch nie gehört hatte.
Warum hatte ihre Mutter ihr nie von ihm erzählt, auch wenn sie eine Abneigung an die Geschichten aus der Vergangenheit hatte, so zählte sie dies nicht dazu. Natürlich hätte sie alles über ihren tatsächlichen Vater wissen wollen, statt ein paar Floskeln über ihren falschen Vater.
Dass dieser in den Kriegswirren der letzten Tage an einem Verkehrsunfall gestorben war, klang fast schon wie Ironie. Den gesamten Krieg ohne Verwundung, halt stopp, das wusste sie nicht, aber den Krieg ohne Kriegshandlung überlebt um dann bei einem Verkehrsunfall ums Leben zu kommen. Das wirkte ja fast wie ausgleichende Gerechtigkeit, sie korrigierte sich, das war nun auch zu voreilig, noch wusste sie zu wenig über ihn um urteilen zu können.
Müde starrte sie auf die noch nicht gelesenen Papiere, dazu kam noch das Tagebuch ihrer Mutter, das eigentlich erst nach dem Krieg weiter geführt wurde. Nun verstand sie, weshalb ihre Mutter versuchte das aufzuteilen, weshalb sie einen Teil in das Tagebuch, den anderen Teil auf diese losen Blätter geschrieben hatte. Während sich ihr Tagebuch in der einen Wohnung befand, hatte sie parallel dazu ein zweites Tagebuch für ihr ungeborenes Kind geschrieben.
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