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      In Hinterpommern waren damals vor fast sechzig Jahren die Winter sehr beständig. Der Schnee lag öfter wochenlang, und es war bitterkalt. Man brauchte im Winter die Doppelfenster. Der Vater hatte sie rechtzeitig im Herbst aus der Dachkammer, in der sie den Sommer über stationiert waren, herunter getragen und in die Rahmen eingesetzt. Von der Mutter waren die Glasscheiben blitzblank geputzt worden. Es war alles für den Einzug des Winters vorbereitet. Auch das Brennholz und die Briketts zum Beheizen der Kachelöfen waren im Keller aufgestapelt.

      Eines Nachmittags, der Himmel war schon den ganzen Tag über so grau, schneevolle Wolken hingen tief und schwer, fing es ganz langsam an zu schneien. Weiße Flocken tanzten lustig auf die Erde hernieder. Das kleine Mädchen hatte aus Steinbauklötzen Häuser gebaut, in denen die „Mensch-ärgere-Dich-nicht“-Puppen zu lebendigen Menschen wurden. Es war ganz in dieses Spiel versunken, da rief einer der beiden älteren Brüder: „Es schneit, guck mal, es schneit!“ Schnell lief das Mädchen ans Fenster und drückte das Näschen neugierig an die Scheibe, und das Herz hüpfte vor Freude, machte Luftsprünge beim Anblick des fallenden Schnees. Verzaubert sahen Bäume, Zäune, die ganze Erde aus. Temperamentvoll bat es gleich den Vater, ihr doch den Rodelschlitten vom Boden zu holen. Aber der machte ihm verständlich, dass erst noch viel mehr Schnee fallen müsse, damit der Schlitten auch gleiten könne.

      Aufgeregt, erwartungsvoll und ungeduldig blieb das Kind dann auch eine ganze Zeit am Fenster stehen, bis der Vater die Schneedecke für hoch genug zum Rodeln befand. Es ließ ihm auch nicht eher Ruhe, bis er den Schlitten die Treppen herunter getragen hatte. Inzwischen hatte es sich Trainingshosen, Mantel, Mütze und Handschuhe angezogen. Die älteren Brüder wollten natürlich auch im ersten Schnee dieses Winters rodeln. Zum Lenken brauchte sie ohnehin noch einen verlässlichen Steuermann. Sie stapften gemeinsam durch den pulvrigen Schnee und zogen vereint den Schlitten hinter sich her. Am größten Berg angekommen, fuhren sie die steilsten Abhänge, glattesten Bahnen herunter.

      Kalter Wind sauste um ihre Köpfe. Mit geröteten Wangen zogen sie den Schlitten nach jeder Abwärtsfahrt wieder den Berg hinauf. Die Herzen jubelten, die Kinder lachten, der Schnee wurde aufgewirbelt. Ehe sie es bemerkten, legte die Dunkelheit ihren schwarzen Mantel sanft über die weiße Pracht.

      Nasse Wollhandschuhe, kalte Füße, leere Mägen, so zogen sie etwas müde, aber herrlich ausgetobt, zufrieden ihren Schlitten an vereister Schnur nach Hause. Bei Muttern war es wohlig warm, und sie hängten die nassen Kleidungsstücke neben den großen Kachelofen zum Trocknen auf. Aus der Ofenröhre kamen Düfte zischender Bratäpfel. Sie labten sich an dieser heißen süßen Köstlichkeit und gingen dann selig trunken in ihre Betten. Nachts träumte das kleine Mädchen, dass der Schnee noch lange liegen bleiben möge.

      Wir alle sind nur

      Durchreisende

      auf dieser Erde.

      Wir sollten nicht

      so viel Gepäck

      aufhäufen,

      sonst verbauen wir

      uns den Horizont und

      verlieren

      das Ziel

      aus den Augen.

      Danke, meine Jüngste

      Nun bist auch du fort gegangen. Ja, es ist an der Zeit, du bist erwachsen und möchtest dich noch mehr loslösen von deinen Eltern. Deine Geschwister sind schon lange selbständig und fortgezogen. Doch du hast unser gemeinsames Nest immer noch mit deinen jugendlichen fröhlichen Federn gewärmt. Schon frühzeitig habe ich dich zu großer Eigenständigkeit erzogen, und plötzlich wundere ich mich, dass du so gut allein fliegen kannst. Mein Verstand kann das sehr gut nachvollziehen, dennoch schmerzt es meine Seele. Es ist wie ein kleiner Abschied, diese räumliche Trennung, und Abschiednehmen tut auch immer wieder weh. Ich habe in meinem Leben das Hergeben vielleicht nicht oft genug als etwas Selbstverständliches angesehen. Je mehr ich mich aber bewusst im Loslassen übe, und das muss ich wohl noch oft tun, sehe ich diesen Abschied aus einer ganz neuen Perspektive, die mir keinen Grund zum Traurigsein lässt. Wie eine Beschenkte sehe ich mich dann und blicke dankbar auf die gemeinsame Zeit von über zwanzig Jahren zurück. Du hast mein Leben reich gemacht.

      Zuerst schaue ich zurück auf den glücklichen Augenblick deiner Geburt, als ich dich gesund in meine Arme schließen konnte. „Wir danken Gott für das gesunde Kind“, habe ich, im Wochenbett sitzend, auf jede Karte geschrieben, die wir anlässlich deiner Geburt verschickt haben. Dass du ein Wunschkind bist, das habe ich dir ja schon öfter erzählt. Außer der Mühe, die ein so kleines Kind ja auch macht, überwiegt aber bei weitem die Freude, mit der du mich all die vielen Jahre beschenkt hast. Sorgen um dich hatte ich nur, wenn du krank warst. Dann brauchtest du meine Nähe intensiv, und ich habe sie dir ganz natürlich gegeben. In den letzten Jahren jedoch, seit ich erkrankt bin, habe ich so viel Zuwendung von dir bekommen. Ich denke da an einen besonders schönen Spätsommertag, du hattest mich vom Arzt abgeholt, und wir suchten gemeinsam für dich eine Winterjacke und für mich einen Mantel aus. Danach saßen wir unter den Arkaden und unterhielten uns einfühlsam bei einem kleinen Mittagessen. Oder du hast mich schon beim morgendlichen Frühstück liebevoll aufgemuntert, wenn ich deprimiert war. Gewiss werde ich die Augenblicke, die wie wärmende Sonnenstrahlen auf mich gewirkt haben, nicht vergessen, wenn du nach meinen Operationen gleich fürsorglich an meinem Bett warst, wenn ich aus der Narkose wieder mit der Wirklichkeit konfrontiert wurde. Besonders habe ich dich auch als Geschenk empfunden, wenn wir in den Urlaubswochen oftmals draußen miteinander Federball gespielt haben. Bei schlechterem Wetter saßen wir gemütlich über das Mühlespiel gebeugt, oder du hast mit meiner Hilfestellung schon Kuchen gebacken. Fällt mir nun gar nichts Negatives ein? Doch, aber was ist hier schon eine kleine nächtliche Störung, wenn du mit deinen Freunden ziemlich laut Geburtstag gefeiert hast. Oder du hast auch mal aus meinem Schrank eine Bluse „gemopst“, die ich dir dann später geschenkt habe. Und manchmal nahm mein Parfüm so sehr schnell ab; dieses merkte ich erst an der Duftwolke, die den ganzen Korridor erfüllte.

      Meine Jüngste, du hinterlässt eine farbenfrohe, leuchtende Spur in mir mit einzigartigen Mustern und wunderschönen Eindrücken. Einen erfüllten Abschnitt in meinem Leben kann ich loslassen, weil ich dankbar bin für den „reichen Sommer“, der mir geschenkt wurde. So kann ich auch nach diesem einschneidenden Abschnitt wieder weiterwachsen, wahrscheinlich in eine ganz neue, andere Richtung. Wir alle sind ja immer wieder in unserem Leben Veränderungen unterworfen, die wir bejahen sollten. Auch ich kann den Sommer nicht festhalten, der Herbst ist schon eingezogen, der letzte reife Apfel hat sich vom Ast gelöst. Ich beuge mich dem Naturgesetz und laufe fröhlich singend durch den bunten Herbstwald, mit offenen Sinnen für alle Eindrücke, und habe viel Zeit zum Lauschen, Verweilen und Staunen. Noch immer trage ich das grüne Kleid der Hoffnung, vielleicht ist ein neuer Glanz zu mir schon unterwegs.

       Manchmal

      Wenn ich morgens erwache

      nach einer unruhigen Nacht,

      zaghaft und missmutig

      in das Tageslicht schaue,

      mich den Anforderungen

      eines Arbeitstages

      nicht gewachsen fühle,

      dann halte ich mir bewusst

      Gottes Liebe und Schutz

      vor Augen.

      Diese Gewissheit

      macht

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