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1984. George Orwell
Читать онлайн.Название 1984
Год выпуска 0
isbn 9783754126516
Автор произведения George Orwell
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Bei der anderen Person, die Winston aufgefallen war, handelte es sich um einen Mann namens O’Brien, ein Mitglied der Inneren Partei und Inhaber eines Postens, so wichtig und entfernt, dass Winston nur eine schwache Vorstellung davon hatte, um was genau es sich dabei handelte. Eine kurze Stille ging über die Gruppe von Menschen hinweg, die um ihre Stühle herumstanden, als sie den schwarzen Overall eines Mitglieds der Inneren Partei erblickten. O’Brien war ein großer, kräftiger Mann mit einem dicken Hals und einem groben, freundlichen, aber brutalen Gesicht. Trotz seiner gewaltigen Erscheinung hatte er einen gewissen Charme im Auftreten an sich: Er hatte eine Art, seine Brille auf der Nase zurechtzurücken, die auf unbeschreibliche Weise entwaffnend war – auf eine unerklärliche Art merkwürdig kultiviert. Wenn noch jemand imstande gewesen wäre, in solchen Kategorien zu denken, so hätte diese Geste an einen Edelmann aus dem achtzehnten Jahrhundert erinnert, der seine Schnupftabakdose offerierte. Winston hatte O’Brien vielleicht ein Dutzend Mal in fast ebenso vielen Jahren gesehen. Er fühlte sich zutiefst zu ihm hingezogen, und das nicht nur, weil er fasziniert war durch den Kontrast zwischen O’Briens urbaner Art und seinem Körperbau eines Preisboxers. Vielmehr war es wegen Winstons heimlichen Glaubens – oder vielleicht nicht einmal eines Glaubens, lediglich einer Hoffnung –, dass O’Briens politische Orthodoxie vielleicht nicht perfekt sein könnte. Etwas in seinem Gesicht deutete das unwiderstehlich an. Und außerdem war es vielleicht nicht einmal Unorthodoxie, die ihm ins Gesicht geschrieben stand, sondern einfach nur Intelligenz. Aber auf jeden Fall machte er den Anschein, eine Person zu sein, mit der sich sprechen ließ, wenn es gelingen konnte, den telescreen zu betrügen und O’Brien allein zu erwischen. Winston hatte niemals auch nur die geringste Anstrengung unternommen, dies zu überprüfen. Tatsächlich gab es dafür auch keinerlei Möglichkeit. In diesem Moment warf O’Brien einen Blick auf seine Armbanduhr, stellte fest, dass es fast 11-00 war, und beschloss deshalb, in der Archivabteilung zu bleiben, bis der Zwei-Minuten-Hass vorüber sein würde. O’Brien suchte sich einen Stuhl in der gleichen Reihe wie Winston. Eine kleine, sandhaarige Frau, die in der Kabine neben Winston arbeitete, saß zwischen ihnen. Das Mädchen mit den dunklen Haaren nahm unmittelbar dahinter Platz.
Dann brach ein grässliches, knirschendes Gebrüll, wie von einer monströsen, ohne Öl laufenden Maschine, aus dem großen telescreen am Ende des Raums hervor. Es war ein Geräusch, das in die Zähne fuhr und die Haare im Nacken sträubte: Der Hass hatte begonnen.
Wie üblich war das Gesicht von Emmanuel Goldstein, dem Feind des Volkes, auf dem telescreen erschienen. Es gab hier und da Zischlaute im Publikum. Die kleine, sandhaarige Frau gab ein Quietschen von sich, eine Mischung aus Angst und Ekel: Goldstein war der Abtrünnige und Rückfällige, der einst, vor langer Zeit (vor wie langer Zeit, daran erinnerte sich niemand mehr so recht), eine der führenden Figuren der Partei gewesen war, fast auf einer Ebene mit Big Brother selbst, und damals konterrevolutionäre Aktivitäten unternommen hatte und deshalb zum Tode verurteilt worden, dann aber auf geheimnisvolle Weise entkommen und verschwunden war. Die Programme des Zwei-Minuten-Hasses wechselten von Tag zu Tag, aber es gab keins, in dem Goldstein nicht die Hauptrolle spielte: Er war der Erzverräter, der früheste Schänder der Reinheit der Partei. Alle nachfolgenden Verbrechen gegen die Partei, alle Betrügereien, Sabotageakte, Ketzereien und Abweichungen, entsprangen unmittelbar aus seiner Lehre. An einem Ort dieser Welt war er noch am Leben und brütete seine Verschwörungen aus: vielleicht jenseits des Meeres, unter dem Schutz seiner ausländischen Zahlmeister, vielleicht sogar – so gingen gelegentliche Gerüchte um – in einem Versteck in Ozeanien selbst.
Winstons Zwerchfell zog sich zusammen. Er konnte das Gesicht Goldsteins nie ohne eine schmerzhafte Mischung aus Gefühlen ansehen. Es war ein schmales jüdisches Gesicht, mit einer großen verschwommenen Aureole aus weißem Haar und einem kleinen Ziegenbart; ein kluges Gesicht und doch wie von Natur aus verächtlich, mit einer Art seniler Albernheit in der langen dünnen Nase, auf deren Spitze eine Brille saß. Es glich dem Gesicht eines Schafs, und auch die Stimme hatte einen schafsähnlichen Klang. Goldstein ritt seine üblichen giftigen Attacken auf die Grundsätze der Partei; einen so übertriebenen und perversen Angriff, dass ein Kind ihn hätte durchschauen können, und doch plausibel genug, um das alarmierende Gefühl zu erzeugen, dass andere, weniger besonnene Menschen von derartigen Argumenten überzeugt werden könnten. Goldstein missbrauchte den Namen von Big Brother, prangerte die Diktatur der Partei an, forderte den sofortigen Friedensschluss mit Eurasien, trat ein für Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Gedankenfreiheit und jammerte hysterisch, die Revolution sei verraten worden – und dies alles in rascher, mehrsilbiger Sprache, die eine Art Parodie auf den gewohnten Stil der Redner der Partei war und sogar Newspeak-Worte enthielt, tatsächlich sogar mehr davon, als jedes Parteimitglied üblicherweise im täglichen Leben verwendete. Und die ganze Zeit über, damit auch ja niemand den geringsten Zweifel hatte, welche Realität sich hinter Goldsteins fadenscheinigem Geschwätz verbarg, marschierten hinter seinem Kopf auf dem telescreen die endlosen Kolonnen der eurasischen Armee: Reihe um Reihe kräftiger Männer mit ausdruckslosen asiatischen Gesichtern, die an der Oberfläche des Bildschirms ineinander verschwammen und schließlich verschwanden, um durch andere ersetzt zu werden, die genauso aussahen. Das dumpfe rhythmische Trampeln der Stiefel der Soldaten bildete den Hintergrund von Goldsteins blökender Stimme.
Noch bevor der Hass dreißig Sekunden lang gedauert hatte, kam es bei der Hälfte der im Raum Anwesenden zu unkontrollierten Wutausbrüchen. Das selbstzufriedene Schafsgesicht auf der Leinwand und die furchterregende Macht der eurasischen Armee dahinter waren zu viel auf einmal. Außerdem erzeugte der Gedanke an Goldstein automatisch Angst und Wut, denn dieser war ein beständigeres Objekt des Hasses als Eurasien oder Ostasien, da Ozeanien, wenn es sich mit einer dieser Mächte im Krieg befand, im Allgemeinen mit der anderen im Frieden war. Aber das Merkwürdige war: Obwohl Goldstein von allen gehasst und verachtet wurde und seine Theorien tausendmal am Tag, auf Bahnsteigen, auf dem telescreen, in Zeitungen, in Büchern widerlegt, vernichtet, verspottet und als der erbärmliche Müll, der sie waren, verstanden wurden, schien Goldsteins Einfluss trotz alledem niemals geringer zu werden. Es gab immer wieder neue Idioten, die nur darauf warteten, von ihm verführt zu werden: Nie verging ein Tag, an dem nicht Spione und Saboteure, die nach seinen Anweisungen handelten, von der Thought Police entlarvt wurden. Er war der Befehlshaber einer riesigen Schattenarmee, eines Untergrundnetzes von Verschwörern, die sich für den Sturz des Staates einsetzen. Die Brotherhood, so hieß sie angeblich. Es gab auch heimlich erzählte Geschichten über ein schreckliches Buch, ein Kompendium aller Häresien, dessen Autor Goldstein war und das hier und da heimlich zirkulierte. Es war ein Buch ohne Titel. Die Leute bezeichneten es, wenn überhaupt, einfach als THE BOOK. Aber bekannt waren über solche Sachen lediglich unbestimmte Gerüchte. Weder die Brotherhood noch THE BOOK waren ein Thema, das ein gewöhnliches Parteimitglied jemals erwähnen würde, wenn sich das vermeiden ließ.
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