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      „Das ist Erpressung.“

      „So sieht es aus. Sie werden meine Hilfe schon noch zu schätzen wissen.“

      Sie zog Straßenschuhe an, nahm eine Strickjacke von der Garderobe und ging ihm voraus. Mario hatte keine andere Wahl, er musste das mit ihr gemeinsam durchziehen. Es war inzwischen halb acht geworden, aber noch viel zu hell.

      „Wir sollten warten, bis es dunkel ist,“ schlug Mario flüsternd vor, als sie auf der Terrasse standen.

      „Von hier aus kann uns nur Frau Reinhardt sehen. Die sitzt gerade vorm Fernseher, weil ihre Lieblingsserie läuft. Und dort wohnt Herr Scherer, der nicht nur schwer hört, sondern fast blind ist. Auf uns achtet niemand, glauben Sie mir. Fangen Sie endlich an.“

      Mario war handwerklich sehr ungeschickt. Mit zitternden Händen setzte er das Brecheisen an. Machte er das überhaupt richtig? Woher hätte er das wissen sollen, niemals zuvor war er irgendwo eingebrochen. Er brauchte eine Ewigkeit, bis die Terrassentür endlich nachgab, wobei er sie erheblich demolierte. Frau Votteler war sehr ungeduldig und trieb ihn immer wieder mit unangebrachten Kommentaren an. Sie traten über Glassplitter durch die Terrassentür ins Hausinnere und sahen sich in dem völlig leeren Wohnzimmer um. Schweigend und fassungslos gingen die beiden von einem Zimmer ins nächste. Bis auf die Vorhänge an den Fenstern war nichts, auch nicht das Geringste, im Haus verblieben.

      „Das kann doch alles nicht wahr sein,“ rief Frau Votteler aufgebracht, „sie haben alles mitgenommen? Sogar die Küche ist abgebaut worden. Das müssen ja mitten in der Nacht Massen von Helfern gewesen sein. Das glaube ich alles nicht.“

      „Lassen Sie uns gehen,“ entschied Mario, der diese Leere nicht mehr ertragen konnte. Schweigend saßen die beiden noch lange an Frau Vottelers Küchentisch und tranken einen Beruhigungsschnaps nach dem anderen.

      „Und jetzt?“, durchbrach Frau Votteler die Stille.

      „Wir suchen natürlich weiter, das ist klar. Arbeitsstelle, Kollegen, Schule, und so weiter. Es gibt viele Stellen, die man abklappern kann. Wir fangen aber erst morgen damit an. Sie gehen jetzt erst mal ins Bett und schlafen sich aus. Ich muss mir noch ein Hotelzimmer suchen.“

      „Das kommt ja gar nicht in Frage, Sie bleiben hier, ich habe ein Gästezimmer für Sie. Ich ahne schon, was Sie vorhaben. Sie wollen das alles ohne mich machen. Aber das können Sie vergessen. Versprechen Sie mir sofort, dass wir gemeinsam auf die Suche gehen!“ Frau Votteler sah ihn flehend an und Mario konnte nicht anders.

      „Wie könnte ich ohne meine Miss Marple auf die Suche gehen? Ich verspreche Ihnen hoch und heilig, dass wir gemeinsam nach meiner Familie suchen.“

      Die leicht angeschwipste Frau Votteler lächelte zufrieden. Sie schlurfte ihm voraus und öffnete eine Tür am Ende des Flures.

      „Hier ist Ihr Reich junger Mann, Bettwäsche ist im Schrank, nebenan ist das Bad. Sie finden schon, was Sie brauchen. Ich muss jetzt ins Bett. Gute Nacht.“

      Mario schmunzelte. Ihm gefiel die alte Dame - und die Tatsache, dass sie so ein Gottvertrauen zu ihm hatte. Er hatte keine Lust, das Bett zu beziehen, und zog seinen Schlafsack aus dem Rucksack. Nach einer ausgiebigen Dusche in dem ebenfalls altmodischen Badezimmer fiel er in einen unruhigen Schlaf.

      „Es wurden Aktionen im Haus Pini gemeldet. Kümmern Sie sich darum.“

      Die wenigen Worte schreckten Leo Schwartz auf. Bei der Suche nach Jürgen Knoblich hatte er herausgefunden, dass dieser eine Schwester hatte: Melanie Pini. Seitdem ließ er das Haus überwachen. Leo war nur selten in seinem Büro in Stuttgart, das ihm zur Verfügung gestellt wurde. Er arbeitete lieber von zuhause aus, was ihm sehr viel angenehmer war. Er war in Stuttgart bei den dortigen Kollegen nicht gerne gesehen. Niemand wusste, warum er hier war, Gerüchte machten die Runde. Was lief hinter ihrem Rücken ab? Und warum wurde ein Kollege aus Ulm geholt? Waren sie selbst nicht in der Lage, dessen Arbeit zu machen? Misstraute ihnen der Chef? Leo spürte die Ablehnung. Außerdem machten sich viele hinter seinem Rücken über ihn lustig, was seinen Kleidungsstil betraf: Mit seiner Körpergröße von 1,90 Meter trug er stets Jeans, Cowboystiefel, eine alte Lederjacke und T-Shirts mit dem Aufdruck von längst vergessenen Rockstars. Leo liebte diese T-Shirts, für die er ein Heidengeld bezahlte.

      Leo arbeitete seit zwei Wochen an dem Fall Knoblich. Die einzige Spur, die er bislang hatte, war Melanie Pini. Längst hatte er nicht mehr an diese Spur geglaubt, bis er diese Nachricht bekam.

      Endlich kam wieder Bewegung in die Sache. Er musste so schnell wie möglich mit Zeitler sprechen. Der reagierte sofort.

      „Finden Sie heraus, was es damit auf sich hat. Wir müssen Knoblich endlich aus dem Verkehr ziehen.“

      3.

      „Guten Morgen, Mario. Ich dachte schon, Sie stehen überhaupt nicht mehr auf. Setzen Sie sich und langen Sie kräftig zu, wir haben heute viel vor.“

      Fröhlich begrüßte ihn Frau Votteler an einem reich gedeckten Frühstückstisch und schenkte dampfenden Tee ein. Es war erst kurz nach sechs, Frau Votteler war offensichtlich eine Frühaufsteherin. Ganz im Gegensatz zu Mario, der üblicherweise vor zehn Uhr niemals aufstand. Aber Frau Votteler hantierte so laut in der Küche, dass er dadurch aufwachte und sich genötigt fühlte, aufzustehen. Er war sich sicher, dass sie das mit Absicht gemacht hatte, um ihn zu wecken.

      „Guten Morgen, Frau Votteler, Sie sind echt früh auf. Und Sie waren schon sehr fleißig, das Frühstück sieht himmlisch aus.“ Mario hatte großen Appetit und sein Ärger über das frühe Aufstehen verflog im Nu.

      „Jetzt lassen wir mal die Frau Votteler weg. Ich bin die Frieda und du bist der Mario, das ist einfacher. Schließlich sind wir beide nun Komplizen und haben eine gemeinsame Mission zu erfüllen. Iss, Junge, damit du mir nicht verhungerst. Für einen Mann deines Alters und deiner Größe bist du viel zu mager. Ich mache mich fertig und dann können wir los.“

      Mario ließ es sich schmecken und war pappsatt. Es war lange her, dass er ein deutsches Frühstück genoss. Vor allem die Brezeln hatten es ihm angetan und er konnte nicht genug davon bekommen. Er hatte nicht nur den gestrigen Tag über, sondern auch am Abend nichts mehr gegessen und war völlig ausgehungert. Durch die ganze Aufregung hatte er nicht mehr an Essen gedacht. Frieda kam fertig angezogen mit Schuhen, Jacke und Tasche in die Küche und die beiden räumten den Tisch ab.

      „Ich würde vorschlagen, wir fangen mit den Arbeitsstellen von Melanie und Giuseppe an. Zuerst gehen wir zum Supermarkt, der öffnet um sieben Uhr. Danach gehen wir zu den Stadtwerken.“

      „Darf ich vorher noch kurz ins Bad?“

      Frieda nickte enttäuscht, sie wollte unbedingt sofort los. Mario versprach, sich zu beeilen. Er amüsierte sich über den wachen Geist und das Temperament seiner neuen Freundin und hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Das war gut so, denn das lenkte ihn von seinen Sorgen ab.

      Der Supermarkt befand sich nur zwei Straßen entfernt und Frieda Votteler war hier offensichtlich bekannt wie ein bunter Hund. Es gab kaum eine Person, die sie nicht begrüßte. Auf Nachfragen bezüglich ihrer Begleitung gab sie freimütig Auskunft darüber, dass es sich um einen Verwandten der Familie Pini handelte.

      Im Supermarkt trommelte Frieda Melanies ehemalige Arbeitskolleginnen zusammen und stellte Mario vor.

      „Von einem Tag auf den anderen war Melanie nicht mehr hier und wir bekamen von der Geschäftsleitung die Information, dass sie das Arbeitsverhältnis ohne Angabe von Gründen gekündigt hat.“ Diese und ähnliche Informationen bekamen sie von jeder Kollegin zu hören. Mario war schnell klar, dass Frieda alle bereits diesbezüglich befragt hatte, denn die ehemaligen Kolleginnen seiner Tante waren von den erneuten Fragen genervt.

      Niedergeschlagen verließen die beiden den Supermarkt, vor allem Mario hatte sich mehr von der Befragung versprochen. Er hatte deutlich gespürt, dass seine Tante Melanie und die übrige Familie Pini hier sehr beliebt waren und keiner verstehen konnte, dass sie so Hals über Kopf gekündigt hatte. Das streute

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