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gelegt und sie hatte Freunde gefunden, sehr gute Freunde. Die Situation in Berlin allerdings wurde nicht besser, auch wenn sie sich noch so sehr bemühte, Kontakte auch außerhalb des Jobs zu Kollegen und Nachbarn zu knüpfen. Es wurde ihr klar, dass alle nur ihre Ruhe haben wollten, und sie gab auf. In ihrer Freizeit saß sie allein zuhause und grübelte. Wenn sie ausging - und das kam immer seltener vor - dann ebenfalls nur allein. Sie hatte sich sogar schon überlegt, sich an eine Dating-Agentur zu wenden, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Wie verzweifelt war das denn? Als sie in Mühldorf eintraf, war sie euphorisch gewesen. Jetzt war sie nicht mehr allein. Hier hatte sie Freunde, die sie mochten und auf die sie sich früher immer hatte verlassen können. Hans Hiebler hatte sie mit offenen Armen empfangen, auch Werner Grössert strahlte, als er sie sah. Sogar Tante Gerda, Leos Vermieterin und Ersatzmutter, nahm sie in die Arme und hieß sie herzlich willkommen. Nur Leo war kalt und abweisend. Seitdem sie hier war, hatten sie kaum ein privates Wort gewechselt. So sehr sie sich auch bemühte, Leo ging ihr aus dem Weg. Er war während ihrer Zusammenarbeit nicht unhöflich, das konnte sie ihm nicht vorwerfen. Aber er konzentrierte sich auf das Wesentliche und sprach mit ihr nur über die Arbeit. Mehr nicht. Hatte sie ihn so sehr verletzt, als sie gegangen war? Würde er ihr jemals verzeihen? Sie wischte den Gedanken beiseite. Leo hatte die Chance gehabt, sie nach Berlin zu begleiten. Sie hätten dort gemeinsam ein neues Leben anfangen können, was für ihn aber nicht in Frage gekommen war. Es wäre für Leo kein Problem gewesen, in der Bundeshauptstadt einen Job zu finden. Aber er wollte nicht. Er zog es lieber vor, hier in der Provinz zu bleiben. Er hatte sich hier ein neues Leben aufgebaut und das wollte er nicht aufgeben. Sie musste zugeben, dass sie ihn irgendwie verstand. Auch deshalb hatte sie vorgeschlagen, die Beziehung trotz der großen Distanz weiterzuführen. Warum auch nicht? Vielen Paaren gelang das, warum also nicht auch ihnen? Aber Leo wollte das nicht, in dem Punkt blieb er stur. Er wollte seine Partnerin in seiner Nähe haben und hatte deshalb die Beziehung beendet. War es nicht auch an ihr, beleidigt und verletzt zu sein?

      Leo waren Viktorias Befindlichkeiten gleichgültig. Er war von dem, was eben auf dem Parkplatz direkt vor seinen Augen geschehen war, noch völlig durcheinander. Er bemühte sich, gedanklich die Abläufe zu ordnen. Hans ging es ähnlich. Die beiden schwiegen während der Fahrt.

      „Wo fährst du eigentlich hin?“

      „In die Eichendorffstraße. Ich habe das Navi gespeist. Es gibt in Mühldorf keine Straße mit diesem Namen, das war mir klar, dafür aber in Töging.“

      „Hat die Frau etwas von Töging gesagt?“

      „Nein. Aber irgendwo müssen wir ansetzen. Bis wir die Identität der Toten haben, fahren wir nach Töging.“

      Leos Handy klingelte, es war Viktoria. Warum rief sie ihn an und nicht Hans?

      „Ja?“ Leo bemerkte selbst, dass sein Ton sehr unfreundlich klang. War das nicht verständlich? Schließlich war kürzlich eine Frau in seinen Armen getötet worden.

      „Der Wagen der Toten läuft auf einen Uwe Esterbauer, Mühldorf, Klingenbergstraße 12. Die Tote ist dessen Frau Heiderose.“

      „Wie kannst du dir da so sicher sein?“

      „Weil ich ihr Bild vor mir auf dem Bildschirm habe. Denkst du, ich bin blöd? Wir sehen uns in der Klingenbergstraße.“

      „Das ist nicht die Adresse, die die Frau Hans gegenüber erwähnt hat. Moment - sagtest du Esterbauer? Ist das nicht dieser Politiker der neuen Partei, dessen Gesicht man auf allen Wahlplakaten sieht?“

      Viktoria ging nicht auf die Frage ein. Ihr sagte der Name nichts und sie wusste auch nicht, worauf Leo hinauswollte. Sie war politisch seit vielen Jahren festgelegt und interessierte sich deshalb nicht für Werbeplakate anderer Parteien.

      „Fahrt bitte zu Esterbauer“, wiederholte sie nur.

      Leo nahm das Handy vom Ohr, sprach mit Hans und erklärte ihm, worum es ging.

      „Ich für meinen Teil würde lieber erst in die Eichendorffstraße fahren. Die Frau hat sicher nicht umsonst darum gebeten. Was meinst du?“

      „Ich würde dir zustimmen. Allerdings ist Viktoria der Boss und sie bestimmt.“ Hans war gespannt, wie Leo reagieren würde. Der nahm das Handy wieder ans Ohr.

      „Wir fahren erst in die Eichendorffstraße nach Töging. Wir sehen uns später.“ Leo beendete das Gespräch, er hatte genug gesagt.

      Viktoria war sauer. Was fiel Leo ein? Sie hatte eine klare Anweisung gegeben, die ihn nicht zu interessieren schien. Sollte sie zum Chef gehen und sich beschweren? Noch nicht, das Maß war noch nicht voll.

      „Das wird Viktoria nicht gefallen“, sagte Hans.

      „Ich weiß“, war Leos knappe Antwort.

      Hans schüttelte den Kopf. Was die beiden machten, war schlimmer als jeder Kindergarten. Warum konnten sie ihre Differenzen nicht einfach aus dem Weg räumen? Er musste dringend mit Leo sprechen. Aber nicht jetzt.

      Die Eichendorffstraße in Töging war eine beschauliche Straße mit schönen, gepflegten Häusern. Es gab hier eine Zahnarztpraxis, einen kleinen Supermarkt und eine noch kleinere Bankfiliale. Vorn am Eck war sogar ein Imbiss, der um die Zeit bereits geöffnet hatte. Die wenigen Fahrzeuge in der Straße parkten ordentlich. Hans fuhr mehrmals die übersichtliche Straße auf und ab. Alles schien in völliger Ordnung zu sein.

      „Was schlägst du vor? Sollen wir uns durchfragen?“ Hans hatte Bedenken, schließlich wartete Viktoria in Mühldorf. Aber die letzten Worte der Toten ließen ihm auch keine Ruhe.

      „Wo wir schon mal hier sind, bietet sich das an. Zumindest kann es nicht schaden“, antwortete Leo und Hans war erleichtert. Was war mit dieser Eichendorffstraße? Waren sie hier in Töging überhaupt richtig?

      Leo und Hans befragten die Anwohner, die zuhause waren, sowie alle Personen, die ihnen auf der Straße begegneten. Keiner hatte etwas Ungewöhnliches gesehen oder bemerkt.

      „Bist du dir sicher, dass du Eichendorffstraße verstanden hast?“

      „Ganz sicher.“ Hans nahm sein Handy und fluchte, nachdem er hektisch über den Bildschirm wischte. „Es gibt sehr viele Straßen mit diesem Namen. Zum Beispiel in Waldkraiburg, Neumarkt St. Veit, Altötting, Traunreut, und so weiter. Wie sollen wir da die richtige Straße finden?“

      „Beruhige dich. Es ist nicht deine Schuld, dass die Frau nur den Straßennamen verraten hat. Lass uns nach Mühldorf fahren. Vielleicht finden wir den Gatten dort gesund und munter.“

      Schon von Weitem sahen Leo und Hans, dass Viktoria stinksauer war. Sie wippte mit dem linken Fuß und sah immer wieder auf die Uhr, was kein gutes Zeichen war.

      „Ich halt mich raus“, sagte Hans, als er den Wagen abstellte. „Du hast sie verärgert, nicht ich.“

      „Was soll sie machen? Mir den Kopf abreißen?“

      „Schau sie dir an! Das traue ich ihr zu!“

      Leo bekam eine Strafpredigt, die sich gewaschen hatte. Viktoria überhäufte ihn mit Vorwürfen, wobei sie keine Rücksicht darauf nahm, dass alle zuhörten, die sich in ihrer Nähe aufhielten. Und das waren viele, denn mittlerweile wimmelte es hier vor Kollegen und Schaulustigen.

      Leo blieb unbeeindruckt. Alles, was Viktoria sagte, prallte an ihm ab. Er hörte ihr nicht zu, sondern hatte immer nur das Bild vor Augen, als sie ihn damals verlassen hatte und sich mit ihrem Wagen entfernte. Viktoria merkte irgendwann, dass Leo kein Wort von dem registrierte, was sie ihm vorwarf. Er schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Viktoria wurde nervös und unterbrach ihren Redeschwall. Erst jetzt bemerkte sie an den Gesichtern der Kollegen und Schaulustigen, dass sie zu laut sprach und alle ihre Vorwürfe hörten, die nicht nur beruflichen Charakter hatten. Sie hatte sich hinreißen lassen und ärgerte sich jetzt darüber.

      „Habt ihr nichts zu tun?“, blaffte sie einige Kollegen an, die sich daraufhin sofort wieder an die Arbeit machten.

      „Die Eichendorffstraße in Töging war kalt. Was gibt es hier? Warum der Aufwand?“, fragte Leo, als wenn es den Einlauf

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