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vermeintlich guten Jobs verlassen und er hatte sehr darunter gelitten. Gerade als er anfing, darüber hinwegzukommen und eine Frau kennenlernte, die ihm gut gefiel, tauchte sie plötzlich wieder auf. Was sollte der Scheiß? Was wollte sie damit bezwecken? Die andere Frau konnte er vergessen, die hatte kein Interesse mehr an ihm. Warum hatte er sie auch einfach stehen lassen, als Viktoria wie aus dem Nichts vor ihm stand? Bis er klar denken und reagieren konnte, war die andere Frau weg.

      Leo ging Viktoria aus dem Weg, er hatte keine Lust auf irgendwelche Erklärungen. Er hatte auch kein Interesse daran, alles Geschehene einfach unter den Teppich zu kehren und einen auf gute Kollegen zu machen. Seit Viktoria zurück war, hatte er so oft wie möglich Urlaub genommen. Jeder Tag, an dem er ihr nicht begegnete, war ein guter Tag. Viktoria war inzwischen fast drei Monate hier. Wie lange denn noch? Konnte sie nicht einfach wieder gehen? Spürte sie nicht, dass er unter ihrer Anwesenheit litt und ihm die Arbeit keinen Spaß mehr machte? Er hatte sich sogar dabei ertappt, dass er ernsthaft darüber nachdachte, einfach krankzufeiern, nachdem ihm weiterer Urlaub verweigert wurde. Aber das hatte er schnell wieder verworfen, das entsprach nicht seinem Charakter.

      Als er aus dem Wagen vor der Polizeiinspektion Mühldorf stieg, atmete er die frische Frühlingsluft tief ein. Endlich war der in seinen Augen viel zu kalte Winter vorbei. Normalerweise liebte er es, wenn die Vögel wieder sangen und es von Tag zu Tag heller und wärmer wurde. Dieses Jahr war ihm das gleichgültig. Vom Parkplatz aus sah er Viktoria. Sie war bereits hier und stand am Fenster des gemeinsamen Büros der Mordkommission. Ja, er hatte sie gesehen und ihm wurde schlecht. Wie lange musste er sie noch ertragen?

      Hans Hieblers Wagen fuhr auf den Parkplatz und Leo wollte auf ihn warten. Der Freund und Kollege stieg aus. Danach fuhr ein Wagen im hohen Tempo auf den Parkplatz und hielt direkt neben Hans. Eine Frau stieg aus, ließ den Motor laufen und die Wagentür offenstehen. Sie lief auf Hans zu. Es war offensichtlich, dass der Kollege die Frau nicht kannte, sonst hätte er anders reagiert. Die Frau klammerte sich an ihn, sie schien verzweifelt. Was war da los?

      Hans Hiebler hatte Leo gesehen. Er war genervt, denn auch heute hatte Leo wieder eine Fresse auf, die er überhaupt nicht leiden konnte. Seit Viktoria hier war, benahm sich Leo wie ein geknüppelter Hund. Er ging ihr nicht nur aus dem Weg, sondern zog sich völlig zurück. Längst hatte er aufgehört, Leo dazu zu überreden, mit ihm auszugehen oder einfach nur gemeinsam abzuhängen. Hans hatte sich gefreut, als Viktoria vor ihm stand und er begriffen hatte, dass sie die Vertretung war. Er war sogar einige Male mit ihr ausgegangen. Aber auch darauf hatte er keine Lust mehr, denn Viktoria sprach nur von Leo und das Thema war ausgereizt. Was sollte er auch dazu sagen? Er verstand sie, aber auch Leo, der sehr unter ihrem Weggang gelitten hatte. Seit sie hier war, verkroch sich Leo und trank viel zu viel. Wann hörte das endlich auf? Hans hatte sich vorgenommen, endlich mit Leo zu sprechen. Wie oft er das in den vergangenen Wochen schon vorgehabt hatte, konnte er nicht mehr zählen. Ständig kam etwas dazwischen oder Leo hatte keine Lust auf ein Gespräch. Aber heute musste er ihn sich vornehmen, die Gelegenheit war günstig. Ja, er hatte auch gesehen, dass Viktoria am Fenster stand. Sollte sie doch, es war ihm egal.

      Dann hielt plötzlich der Wagen neben ihm und eine ihm völlig fremde Frau klammerte sich an ihn. Wer war sie? Und was wollte sie von ihm? Sie stammelte unzusammenhängende Worte, deren Sinn er nicht verstand.

      „Bitte beruhigen Sie sich. Was kann ich für Sie tun?“ Die Frau war etwa fünfzig Jahre alt. Sie machte auf ihn einen verwirrten Eindruck. Der Wagen war neu und teuer. Der dezente Schmuck, den sie trug, war echt, dafür hatte Hans ein Auge.

      „Sie müssen helfen“, stammelte sie, wobei sie viele Worte verschluckte. „Mein Mann…Eichendorffstraße... Bitte…“ – mehr verstand Hans nicht.

      Leo stand jetzt neben Hans und der Frau. Er sah seinen Kollegen an, auch er verstand kein Wort. Da Hans nicht reagierte, klammerte sich die Frau an Leo und sah ihn flehend an. Leo war völlig überfordert und wusste nicht, was er tun sollte.

      Dann ging alles ganz schnell. Während die Frau versuchte, sich zu konzentrieren und die Worte klarer auszusprechen, fiel ein Schuss. Die Frau sah Leo in die Augen. Sie schien, wie er, nicht zu begreifen, was eben geschah. Dann folgte ein weiterer Schuss und sie sank in Leos Armen zusammen. Sie hatte ihm nach dem ersten Schuss etwas in die Tasche seiner alten Lederjacke gesteckt, was er jedoch nicht bemerkt hatte. Leo war erschrocken und konnte nur untätig zusehen, wie die Frau in seinen Armen starb. Es dauerte nur wenige Sekunden, die Leo wie eine Ewigkeit vorkamen. Instinktiv fühlte Leo den Puls der Frau, sah Hans an und schüttelte den Kopf. Hans hatte sofort nach dem ersten Schuss Deckung genommen und registrierte erleichtert, dass Leo in Ordnung war. Da dieser ihn nur anstarrte und keine Anstalten machte, ebenfalls in Deckung zu gehen, zog Hans seinen Freund und Kollegen unsanft zur Seite.

      „Die Schüsse kamen von dort“, rief Hans und zog seine Waffe. Leo tat es ihm gleich.

      „Ich sehe nichts“, rief Leo.

      Sekundenlang war es totenstill. Dann hörten sie einen Motor aufheulen und einen Wagen, der mit quietschenden Reifen davonfuhr.

      Viktoria hatte alles mit angesehen. Sie kapierte nur langsam, was direkt vor ihren Augen geschah. Sie hatte die Schüsse gehört und sah das Blut auf dem Rücken der Frau, die in Leos Armen zusammensackte. Sie war erleichtert, dass Leo nicht getroffen war. Sie griff zu ihrer Waffe und rannte zum Ausgang. Allen Kollegen, denen sie begegnete, rief sie zu: „Schusswechsel auf dem Parkplatz!“

      Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Es dauerte nicht lange, und der Parkplatz wimmelte von Polizisten. Viktoria löcherte Hans und Leo mit Fragen, aber die hatten keine Antwort darauf.

      „Was hat die Frau gesagt? Ich habe gesehen, dass sie mit euch gesprochen hat“, drängelte sie weiter und weiter.

      „Wir wissen nicht mehr. Wir vertrödeln hier nur unsere Zeit, verstehst du das nicht?“, blaffte Leo sie an. „Die Frau faselte etwas von ihrem Mann, wir müssen nach ihm sehen.“

      Leo stieg zu Hans in den Wagen.

      „Wo wollt ihr hin?“

      „Eichendorffstraße.“

      Viktoria sah den beiden hinterher. Was sollte das? Sie war vertretungsweise die Leiterin der Mordkommission und wurde hier vor allen wie ein dummes, kleines Kind behandelt. Durfte sie sich das gefallen lassen? Sie war wütend, vor allem auf Leo.

      „Was ist hier los?“, wollte Rudolf Krohmer, der Chef der Polizeiinspektion Mühldorf wissen. Er war eben erst gekommen und fand dieses Chaos vor seiner Polizeistation vor. Viktoria unterrichtete ihn. Zumindest über das Wenige, das ihr bekannt war.

      „Wer ist die Frau?“ Krohmer zeigte auf die Tote, deren Gesicht von ihm abgewandt war. Der Chef vermied es, wenn möglich, sich Opfer anzusehen. Vor allem so kurz nach dem Frühstück konnte er gerne darauf verzichten.

      „Keine Ahnung. Sie hatte keine Papiere bei sich. Die Kollegen checken gerade das Kfz-Kennzeichen. Hiebler und Schwartz sind auf dem Weg zur Eichendorffstraße.“

      „In Mühldorf gibt es keine Eichendorffstraße. Von welchem Ort sprechen wir? Was wollen die Kollegen dort?“

      „Keine Ahnung. Was weiß ich denn schon? Mir sagt doch keiner was!“

      Viktoria ließ den Chef stehen und ging wieder an die Arbeit. Krohmer sah ihr hinterher. Es war längst klar, dass es keine gute Idee gewesen war, die Kollegin Untermaier für die Vertretung der Kollegin Struck an Bord zu holen. Was immer auch zwischen ihr und dem Kollegen Schwartz ablief – er musste sich darum kümmern, dass endlich wieder Ruhe und Frieden einkehrte.

      Viktoria war stinksauer. Am liebsten wäre sie weggefahren. Vor drei Wochen hatte sie einen Antrag auf Rückführung gestellt, der jedoch prompt abgelehnt wurde. Wie lange konnte sie die Situation noch ertragen? Als die Anfrage von Krohmer auf ihrem Tisch landete, hatte sie spontan zugesagt. Der Job in Berlin war nicht schlecht, aber sie fühlte sich einsam. Die dortigen Kollegen waren höflich und nett – mehr aber auch nicht. Man vermied privaten Kontakt, was sie mehr und mehr in die Einsamkeit drängte. Anfangs war sie noch euphorisch und war sich sicher, wenigstens zu ihren Nachbarn ein gutes Verhältnis aufbauen zu können. Aber man begegnete

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