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nicht immer bewußt sind; vielfach leben sie dumpf dahin, ihrer selbst nicht bewußt, wie ja überhaupt die leeren Räume im Denken des Menschen viel, viel größer sind, als man gemeinhin annimmt. Bei dem Satz: „Es gibt einen Gott“ oder „Der Walfisch wirft lebendige Junge“ denken sich die meisten Menschen überhaupt nichts; sie haben das in der Schule gelernt, und so ist es ihnen verblieben. Die Axiome, von denen ich spreche, sind Glaubenssätze, hingenommen in absolutem Gehorsam, ehern errichtet, für das ganze Leben Geltung behaltend. Sie sind nicht zu allen Zeiten dieselben gewesen: der Panzer von Vorurteilen, mit denen sich ein Bremer Bürger aus dem Jahre 1874 umgeben hat, war aus andern Plättchen geschmiedet als der eines bayrischen Gymnasialdirektors aus dem Jahre 1928. Aber sie tragen diesen Kettenpanzer bis zum Tode und legen ihn nie ab. Sie haben ihre Vacua; sie teilen die Welt sehr streng in Groß- und Kleingedrucktes ein, was ferne ist, verschwimmt, und aus den Niederungen ihrer trüben Erkenntnis kommen sie nicht heraus. Das ist immer so gewesen. Weil sie aber heutzutage vom Hochmutteufel besessen sind, der ihnen ins Ohr flüstert, wer die Technik habe, brauche keine Seele und habe sie außerdem schon –: deshalb verlohnt es, aus dem reichhaltigen Herbarium zwei Pflanzen herauszugreifen, die ich mir gepreßt habe. Charakteristisch für einen Menschen ist das, was ihm selbstverständlich ist. Wollen mal sehen.

      Frau Emmi Pagel aus Guben (Niederlausitz). Ehefrau des Buchhalters Paul Pagel, der sich in seinen Papieren „Werkbeamter“ nennt. Frau Pagel ist mittelgroß, hat um eine Kleinigkeit zu dicke Beine, breite Hüften, eine frische Gesichtsfarbe, ist gut gewaschen, aber nicht sehr gepflegt; sie hat manikürte dicke Finger, mit einem Siegelring und einem verzierten Ehering. Kurz geschnittenes Haar. Durchaus keine Kleinstädterin, sondern eben eine Frau, die in einer kleinen Stadt wohnt.

      Dies sind ihre zehn Glaubenssätze:

      I.

      Unter dem Kaiser war alles besser.

      II.

      Ein Oberbuchhalter ist mehr als ein Buchhalter.

      III.

      Ein Brief darf nicht mit „Ich“ anfangen; das ist unhöflich.

      IV.

      Schuld an dem ganzen Elend sind die Juden. Die Juden sind schmutzig, geldgierig, materiell, geil und schwarz. Sie haben alle solche Nasen und wollen Minister werden, soweit sie es nicht schon sind.

      V.

      Es gibt natürlich keine Gespenster. Immerhin ist es unheimlich, nachts auf einen Friedhof zu gehen oder allein in einem großen dunkeln Haus zu sein. (Mäuse.)

      VI.

      Dienstboten sind eine von den Besitzenden verschiedene Rasse; aber sie empfinden das nicht so.

      VII.

      Wenn man Rhabarber nachzuckert, wird er sauer. (Dieser Satz ist völlig unsinnig; er ist durch ein Mißverständnis entstanden, also unausrottbar.)

      VIII.

      Kommunismus ist, wenn alles kurz und klein geschlagen wird. In Rußland werden die Frauen vergewaltigt, sie haben eine Million Menschen ermordet. Die Kommunisten wollen uns alles wegnehmen.

      IX.

      Was allen und mir gefällt, ist hübsch; was allen, mir aber nicht gefällt, ist schön.

      X.

      Alle Welt ist gegen Deutschland – aus Neid.

       *

      Soweit Frau Pagel. Frau Rechtsanwalt Margot Rosenthal hingegen ist ziemlich groß, eine Spur zu mager, um schlank zu sein, sehr gepflegt, sieht aber nicht immer so aus. Das Haar ist nicht fettig, man denkt aber, es sei fettig. Der Teint … „Sie glauben nicht, was ich für den Teint schon alles …“

      I.

      Christen sind dümmer als Juden und werden aus diesem Grunde „Gojim“ genannt.

      II.

      Natürlich gibt es keine Gespenster. Immerhin muß man aber nicht grade nachts allein auf einen Kirchhof … ich muß nicht von allem haben.

      III.

      Ein Mensch, der französische Stiche sammeln und kaufen kann, ist ein gebildeter Mensch.

      IV.

      Kommunismus ist, wenn alles kurz und klein geschlagen wird. Die Kommunisten wollen uns alles wegnehmen, wo man sich Stück für Stück so mühsam zusammengekauft hat. Arbeiter muß es natürlich geben, und man soll sie auch anständig behandeln. Am besten ist es, wenn man sie nicht sieht.

      V.

      Alle Welt ist gegen die Juden – aus Neid.

      VI.

      Kunst darf nicht übertrieben sein.

      VII.

      Wenn man in einem eleganten Hotel sitzt, ist man selber elegant.

      VIII.

      Bei Gewitter muß man den Gashahn zudrehen. (Siehe Frau Pagel, Ziffer VII: Rhabarber.)

      IX.

      Nach Paris kann man keinen Mann allein schicken, meinen schon gar nicht. Die Axt im Haus …

      X.

      Mein Mann ist zu gutmütig.

       *

      Soweit Frau Rosenthal.

      Und wer pflückt die andern –?

      „Oberes Bild. Von links nach rechts: Generalintendant T., künstlerischer Beirat L., Betriebsdirektor F., Komparseriechef M., Oberspielleiter P., Dramaturg M., Oberspielleiter S., Spielleiter D., Intendanzsekretär B.“

      Was ist das –?

      Das ist das arbeitende Deutschland von heute. Anders können sies nicht – anders machts ihnen keinen Spaß. Diese Nummern des deutschen Alphabets mit den Metternich-Kanzleititeln vor ihren Namen halten in Wahrheit nur ein mittleres Stadttheater einer Provinzstadt in Ordnung, was immerhin nicht gar so welterschütternd ist. Aber weil es ja keine Angestellten mehr gibt, sondern ganz Deutschland einer Bodenkammer gleicht (vor lauter Leitern kommt man nicht vorwärts) – „leiten“ sie alle, und wenn es auch nur ein kleines Mädchen an der Schreibmaschine ist, die zusammen mit ihrem Kaffeetopf gern „Abteilung“ genannt wird; die leiten sie dann. Es gibt eine „Vereinigung leitender Angestellter“, offenbar eine Art Obersklaven, die gern bereit sind, unter der Bedingung, daß sie von oben her besser angesehen werden, kräftiger nach unten zu treten. Die Bezeichnung „Chefpilot“ erspart einem Unternehmen etwa zweihundert Mark monatlich.

      Im Gegensatz zu diesem Unfug, der jeden mittlern Angestellten zu einem Direktor aufbläst, steht, nach des Dienstes ewig falsch gestellter Uhr, eine süße Stunde. Abends, wenn sich die ersten Lautsprecher gurgelnd übergeben, flutet die Muße über das Land herein: der Betriebsdirektor glättet die Dienstfalte seiner Amtsstirn, der Oberspielleiter klopft dem Spielleiter huldvoll auf die Schultern, und nun pladdert das „Menschliche“ aus ihnen heraus.

      Das „Menschliche“ ist das, was sich anderswo von selbst versteht. Bei uns wird es umtrommelt und zitiert, hervorgehoben und angemalt … Wenn der kleinste Statist unter den weißen Jupiterlampen fünfundzwanzig Jahre lang die gebrochenen Ehrenworte der Filmindustrie aufgesammelt hat, dann gratulieren die Kollegen „dem Künstler und dem Menschen“, was sie – Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps – sorgfältig zu trennen gelernt haben. Der Künstler ist eines, und der Mensch ist ein andres.

      Aus dem „Menschlichen“ aber, das man nie mehr ohne Anführungsstriche schreiben sollte, ein eignes Ressort gemacht zu haben, ist den Deutschen vorbehalten geblieben, die sich so ziemlich im Gegensatz zur gesamten andern Welt einbilden, es gäbe etwas „rein Dienstliches“, oder, noch schlimmer: „rein Sachliches“. Wenn die Herren Philologen mir das freundlichst in eine andere Sprache

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