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lassen«, sagte Martin, nicht ohne gekränkte Würde. Diese Bemerkung schien dem strengen Apotheker bis zum gewissen Grade einzuleuchten; er ließ sich von seinem Fräulein Papier und Bleistift reichen und notierte, mit zugleich schwungvollen und klaren Lettern, die Adresse des Doktors.

      An der Haustür des Arztes – der um die Ecke wohnte – gab es ein Messingschild mit der Inschrift: »Doktor Fritz Kohlhaas. Spezialist für Kinderkrankheiten.« – Doktor Kohlhaas war hochbetagt und recht schwerhörig. Martin schrie ihm etwas zu über die fatalen Nierenkoliken, die ihm zu schaffen machten, und daß er ein gewisses leichtes Medikament benötige, »es heißt Eucodal«. – »Wie heißt diese Medizin?« fragte Doktor Kohlhaas, der schon seinen Rezeptblock gezogen hatte. »Euradom?« Martin, der von einem nervösen kleinen Lachen geschüttelt wurde, wiederholte den richtigen Namen. Doktor Kohlhaas schrieb mit gichtigen Fingern das Rezept. »Vielleicht sind Sie so nett, mir gleich zwanzig Ampullen à 0,02 zu genehmigen«, sprach Martin lachend und mit Donnerstimme an seinem Ohr. »Das genügt mir dann für die nächsten vier bis fünf Monate.«

      Er fuhr zum Apotheker zurück, der das Rezept mit gerunzelter Stirne musterte. Schließlich händigte er Martin die beiden Schachteln mit den Eucodal-Ampullen aus. Martin griff mit einer unbeherrscht-gierigen Bewegung nach den länglichen, blauen Packungen, die er in der Innentasche seines Mantels hastig verschwinden ließ. »Ich brauche noch eine Injektionsspritze und Nadeln«, sagte er keck. »Ziemlich dünne, wenn ich bitten darf. Numero 16 dürften die richtigen sein …«

      Er verließ die Apotheke. Draußen bat er den Chauffeur, das Taxi noch eine Minute lang stillstehen zu lassen. Im Wagen öffnete er seine Kleidung ein wenig und – schamlos, fast besinnungslos vor Gier – machte er sich, auf den Polstern des Wagens sitzend, die Injektion in den Schenkel. Ein kleines Mädchen, das vorüberschlenderte, beobachtete ihn mit vor Erstaunen aufgerissenen Augen.

      Die Wohltat war riesenhaft. Innerhalb von Sekunden war von ihm genommen die Erniedrigung der physischen Qual, die Last der Traurigkeit. Aufatmen ohnegleichen! »Fahren Sie mich zum Bahnhof!« rief er dem Chauffeur mit fast lustiger Stimme zu.

      Der nächste Zug nach Paris ging in anderthalb Stunden.

      Es war reichlich viel, was Marion sich zumutete. Sie magerte ab; ihr Arzt machte ein besorgtes Gesicht und erklärte, hundert Pfund Gewicht sei entschieden zu wenig für ihre Größe. Übrigens hustete sie beunruhigend. Zu den eigenen und den politischen Sorgen kamen die um Menschen, die ihr nahestanden. Von Marion erwarteten alle Trost. Würde sie auf die Dauer stark genug sein, um ihn zu spenden?

      Nur Frau von Kammer, die Mutter, schien immer noch zu hochmütig starr, um sich trösten zu lassen. Sie haßte und verachtete, mit trotziger Konsequenz, »das Pack«, das in Deutschland regierte; aber sie hielt sich in stolzer Distanz von denen, die mit ihr haßten und ohne sie kämpften. Seitdem Tilla Tibori nach Hollywood abgereist war, wo sie endlich einen Vertrag bekommen hatte, schien Marie-Luise ganz allein. Sie saß in Rüschlikon, machte Handarbeiten und zeigte jedem, der es sich etwa einfallen ließ, sie aufzusuchen, eine strenge Miene. Auch mit ihren Töchtern verkehrte sie weiter auf die zeremoniös-gemessene Art. Tilly hatte sich damit abgefunden; Marion tat es immer noch weh. In ihr war das innige Bedürfnis, der armen Mutter zu helfen; aber die ließ es nicht zu.

      Tilly hingegen vertraute sich unter Tränen der Schwester an. »Was soll ich tun? Ich muß immer an diesen Mann, diesen Ernst denken, und ich höre nichts mehr von ihm. Wo ist er hingekommen? Er darf sich ja nirgends aufhalten … Vielleicht ist er aus lauter Verzweiflung nach Deutschland zurück und sitzt schon in einem Lager – das wäre zu grauenhaft, dann sehe ich ihn nie mehr. Und der Peter Hürlimann will, ich soll mich von meinem Ungarn scheiden lassen und ihn heiraten, er bekommt jetzt bald eine Stellung. Aber das kann ich doch nicht, ich liebe ihn nicht genug, was soll ich nur tun, wenn ich nur wüßte, wo der Ernst steckt, dann würde ich gleich zu ihm hinfahren …« So redete und schluchzte Tilly – die hübsche kleine Tilly mit dem schlampigen Mund. Wußte Marion, die große Schwester, Rat? Sie konnte ihr nur das Haar streicheln und ihr die Stirn küssen und immer wieder versichern, es wird schon noch alles gut werden, vielleicht finde ich deinen Ernst, ich könnte in Paris ein paar Leute darum bitten, sich nach ihm umzusehen … Und Tillys hilfloses Weinen: Ach bitte, tu das, Marion – ach, wenn du das für mich tun wolltest – als brauchte die große Schwester sich nur zu entschließen, und gleich wäre die Adresse des Verschollenen bekannt.

      In Paris sprach Marion mit Theo Hummler und mit der Proskauer über den Fall. Beide bemühten sich, aber ohne Erfolg. Marion mußte viel an Tilly denken; sie schrieb ihr lange Briefe, telefonierte mit ihr. Aber sie konnte nicht ihre ganze Sorge auf die kleine Schwester konzentrieren. Es gab andere Hilfsbedürftige, zum Beispiel Martin. Ihn fand Marion in einem erschreckenden Zustand. Den Freunden gegenüber schwindelte er, die Kur in Zürich sei von ihm bis zum Ende glücklich durchgeführt worden; seit Wochen rühre er kein Morphium mehr an, und sein miserables Aussehen sei noch »Ausfallserscheinung«. Marion aber hatte gute Augen. Als sie zum ersten Mal allein mit Martin war, sagte sie ihm ins Gesicht: »Vor mir brauchst du dich doch nicht zu verstellen und keine Geschichten zu machen! Du spritzt lustig weiter. Pfui – ich finde das ekelhaft!« – Martin leugnete erst; gab aber dann alles zu und schien sich nicht einmal sehr zu schämen. »Wenn schon!« rief er herausfordernd. »Es ist doch wohl meine Sache, wenn ich mich kaputtmachen will! Mon corps est à moi …!« Marion schaute ihn eine Weile prüfend an, ehe sie ihn fragte: »Warum tust du es eigentlich? Es muß doch einen Grund haben …« – Daraufhin er, mit gesenkter Stimme: »Wenn ich nur einen guten Grund wüßte, um es nicht zu tun …« Nach einer Pause fügte er noch leiser hinzu: »Kikjou wäre ein Grund gewesen.«

      Marion gab noch nicht nach. »Kikjou wird nur dann wieder zu dir kommen, wenn du mit dem Teufelszeug endgültig Schluß machst – das weiß ich. Ich muß dir aber gestehen: mir scheint, es ist recht traurig um dich bestellt, wenn du nur seinetwegen damit aufhörst, dich langsam zu vergiften. Wenn du das wolltest, hättest du in Berlin bleiben sollen. Inmitten der allgemeinen Verkommenheit dort drüben wäre es nicht weiter aufgefallen, und übrigens soll unter prominenten Nazis deine Droge ja recht beliebt sein. Wir hier draußen aber haben Verantwortung und Verpflichtung; wir repräsentieren etwas – die Opposition gegen die Barbarei. Wir müssen uns in guter Form halten, um kämpfen zu können. Verstehst du das nicht? Natürlich verstehst du es, du bist ja gescheit.«

      Er bewegte gequält das Gesicht. »Ich weiß … Das weiß ich ja alles … ›Kämpfen‹ – es klingt sehr schön. Aber kämpfen ohne Hoffnung geht über menschliche Kraft. Ich habe die Kraft nicht. Ich habe keine Kraft und keine Hoffnung mehr.« Er verstummte; hob den Kopf auch nicht, da ihre zornige Stimme ihn wieder anrief.

      »Du machst es dir leicht! Es muß verdammt bequem sein, dazusitzen, die Hände im Schoß, und zu murmeln: Ich habe keine Kraft und keine Hoffnung mehr …« – Er lächelte müde. »Du meinst, das ist so besonders bequem?« Sein verschleierter Blick streifte spöttisch ihre empörte Miene. »Aber herumzugehen mit Gebärden wie ein Fahnenschwinger und immerfort zu erzählen: Der Sieg ist unser! – während man doch aufs Haupt geschlagen ist und sich kaum noch rühren kann – das ist wohl das Richtige, wie? Das ist wohl das Wahre?«

      Marion hatte als Antwort: »Es ist immer noch besser als der billige Trost in den künstlichen Paradiesen. Das ist etwas für ausgediente Fliegeroffiziere, die Ersatzsensationen brauchen, oder für bourgeoise Damen, die in ihrer Ehe unbefriedigt bleiben und sich nun entschädigen mit morbiden kleinen Amüsements. Es ist so feige, so langweilig, so kleinbürgerlich!«

      Nun änderte Martin plötzlich Blick und Haltung. »Ich weiß übrigens gar nicht, wovon du sprichst.« Er sagte es schläfrig und kokett; in den verhangenen Augen blitzten tückische kleine Lichter. »Schließlich habe ich gerade eine schwere Entziehungskur hinter mir. Ich nehme fast gar nichts mehr – und daß ich noch ab und zu eine Kleinigkeit brauche, ist nur natürlich, wenn man bedenkt, was für Dosen ich konsumiert habe. Aber auch mit diesen Bagatellen höre ich nun bald auf. Es ist nur eine Frage von Tagen oder Wochen, dann bin ich vollständig frei. Ich werde mich mit Kikjou versöhnen. Wahrscheinlich verlasse ich mit ihm zusammen Europa. Wir fahren nach Brasilien, dort hat er ja große Möglichkeiten, wir gründen etwas, machen irgend etwas auf, eine Zeitschrift oder dergleichen …« Glaubte er selbst,

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