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Mein Leben und Streben. Karl May
Читать онлайн.Название Mein Leben und Streben
Год выпуска 0
isbn 9783754175415
Автор произведения Karl May
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Droben auf dem Oberboden stand eine alte Kiste mit noch älteren Büchern. Das waren in Leder gebundene Erbstücke verschiedenen Inhaltes, sowohl geistlich als auch weltlich. Es ging die Sage, daß es in der Familie, als sie noch wohlhabend war, Geistliche, Gelehrte und weitgereiste Herren gegeben habe, an welche diese Bücher noch heut erinnerten. Vater und Tochter konnten lesen; sie hatten es beide von selbst gelernt. Des Abends, nach des Tages Last und Arbeit, wurde das Reifröckchen *) angebrannt, und eines von Beiden las vor. In den Pausen wurde das Gelesene besprochen. Man hatte die Bücher nahe schon zwanzigmal durch, fing aber immer wieder von vorn an, weil sich dann immer neue Gedanken fanden, die besser, schöner und auch richtiger zu sein schienen als die früheren. Am meisten gelesen wurde ein ziemlich großer und schon sehr abgegriffener Band, dessen Titel lautete:
Der Hakawati
d.i.
der Märchenerzähler in Asia, Africa, Turkia, Arabia,
Persia und India sampt eyn Anhang mit Deytung,
explanatio und interpretatio auch viele Vergleychung
und Figürlich seyn
von
Christianus Kretzschmann
der aus Germania war.
Gedruckt von Wilhelmus Candidus
A. D: M. D. C. V.
~ ~ ~
*) Kleines Oellämpchen.
Dieses Buch enthielt eine Menge bedeutungsvoller orientalischer Märchen, die sich bisher in keiner andern Märchensammlung befanden. Großmutter kannte diese Märchen alle. Sie erzählte sie gewöhnlich wörtlich gleichlautend; aber in gewissen Fällen, in denen sie es für nötig hielt, gab sie Aenderungen und Anwendungen, aus denen zu ersehen war, daß sie den Geist dessen, was sie erzählte, sehr wohl kannte und ihn genau wirken ließ. Ihr Lieblingsmärchen war das Märchen von Sitara; es wurde später auch das meinige, weil es die Geographie und Ethnologie unserer Erde und ihrer Bewohner rein ethisch behandelt. Doch dies hier nur, um anzudeuten.
Der Vater starb infolge einer Reihe von Blutstürzen. Die Pflege war so anstrengend, daß auch die Tochter dem Tode nahe kam, doch überstand sie es. Nach verflossener Trauerzeit kam May, der treue Geliebte, und führte sie heim. Nun endlich, endlich wirklich glücklich! Es war eine Ehe, wie Gott sie will. Zwei Kinder wurden geboren, mein Vater und vor ihm eine Schwester, welche später einen schweren Fall tat und an den Folgen desselben verkrüppelte. Man sieht, daß es an Heimsuchungen, oder sagen wir Prüfungen, bei uns nicht fehlte. Und ebenso sieht man, daß ich nichts verschweige. Es darf nicht meine Absicht sein, das Häßliche schön zu malen. Aber kurz nach der Geburt des zweiten Kindes trat jenes unglückliche Weihnachtsereignis ein, welches ich bereits erzählte. Der brave junge Mann stürzte des Nachts mit den Broten in die tiefe Schneeschlucht und erfror. Großmutter hatte mit ihren beiden Kindern an den Christtagen nichts zu essen und erfuhr erst nach langer Zeit der Qual, daß und in welch schrecklicher Weise sie den geliebten Mann verloren hatte. Hierauf kamen Jahre der Trauer und dann die schwere Zeit der napoleonischen Kriege und der Hungersnot. Es war Alles verwüstet. Es gab nirgends Arbeit. Die Teuerung wuchs; der Hunger wütete. Ein armer Handwerksbursche kam, um zu betteln. Großmutter konnte ihm nichts geben. Sie hatte für sich und ihre Kinder selbst keinen einzigen Bissen Brot. Er sah ihr stilles Weinen. Das erbarmte ihn. Er ging fort und kam nach über einer Stunde wieder. Er schüttete vor ihr aus, was er bekommen hatte, Stücke Brot, ein Dutzend Kartoffeln, eine Kohlrübe, einen kleinen, sehr ehrwürdigen Käse, eine Düte [sic] Mehl, eine Düte [sic] Graupen, ein Scheibchen Wurst und ein winziges Eckchen Hammeltalg. Dann ging er schnell fort, um sich ihrem Dank zu entziehen. Sie hat ihn nie wieder gesehen; Einer aber kennt ihn gewiß und wird es ihm nicht vergessen. Dieser Eine schickte auch noch andere, bessere Hilfe. Einem abseits wohnenden Oberförster, den man als ebenso wohlhabend, wie edeldenkend kannte, war die Frau gestorben. Sie hatte ihm eine sehr reichliche Anzahl Kinder hinterlassen. Er wünschte Großmutter zur Führung seiner Wirtschaft zu haben. Sie hätte in dieser Zeit der Not nur zu gern eingewilligt, erklärte aber, sich von ihren eigenen Kindern unmöglich trennen zu können, selbst wenn sie einen Platz, sie unterzubringen, hätte. Der brave Mann besann sich nicht lange. Er erklärte ihr, es sei ihm gleich, ob sechs oder acht Kinder bei ihm äßen; sie würden alle satt. Sie solle nur kommen, doch nicht ohne sie, sondern mit ihnen. Das war Rettung in der höchsten Not!
Der Aufenthalt in dem stillen, einsamen Forsthause tat der Mutter und den Kindern wohl. Sie gesundeten und erstarkten in der besseren Ernährung. Der Oberförster sah, wie Großmutter sich abmühte, ihm dankbar zu sein und seine Zufriedenheit zu erringen. Sie arbeitete fast über ihre Kraft, fühlte sich aber wohl dabei. Er beobachtete das im Stillen und belohnte sie dadurch, daß er ihren Kindern in jeder Beziehung dasselbe gewährte, was die seinen bekamen. Freilich war er Aristokrat und eigentlich stolz. Er aß mit seiner Schwiegermutter allein. Großmutter war nur Dienstbote, doch aß sie nicht in der Gesinde- sondern mit in der Kinderstube. Als er aber nach längerer Zeit einen Einblick in ihr eigenartiges Seelenleben erhielt, nahm er sich ihrer auch in innerer Beziehung an. Er erleichterte ihr die große Arbeitslast, erlaubte ihr, ihm und seiner Schwiegermutter des Abends aus ihren Büchern vorzulesen, und gestattete ihr, dann auch in seine eigenen Bücher zu schauen. Wie gern sie das tat! Und er hatte so gute, so nützliche Bücher!
Den Kindern wurde in vernünftiger Weise Freiheit gewährt. Sie tollten im Walde herum und holten sich kräftige Glieder und rote Wangen. Der kleine May war der jüngste und kleinste von allen, aber er tat wacker mit. Und er paßte auf; er lernte und merkte. Er wollte Alles wissen. Er frug nach jedem Gegenstand, den er noch nicht kannte. Bald wußte er die Namen aller Pflanzen, aller Raupen und Würmer, aller Käfer und Schmetterlinge, die es in seinem Bereiche gab. Er trachtete, ihren Charakter, ihre Eigenschaften und Gewohnheiten kennen zu lernen. Diese Wißbegierde erwarb ihm die besondere Zuneigung des Oberförsters, der sich sogar herbeiließ, den Jungen mit sich gehen zu lassen. Ich muß das erwähnen, um Späteres erklärlich zu machen. Der nachherige Rückfall aus dieser sonnenklaren, hoffnungsreichen Jugendzeit in die frühere Not und Erbärmlichkeit konnte auf den Knaben doch nicht glücklich wirken.
In dieser Zeit war es, daß Großmutter während des Mittagessens plötzlich vom Stuhle fiel und tot zu Boden sank. Das ganze Haus geriet in Aufregung. Der Arzt wurde geholt. Er konstatierte Herzschlag; Großmutter sei tot und nach drei Tagen zu begraben. Aber sie lebte. Doch konnte sie kein Glied bewegen, nicht einmal die Lippen oder die nicht ganz geschlossenen Augenlider. Sie sah und hörte alles, das Weinen, das Jammern um sie. Sie verstand jedes Wort, welches gesprochen wurde. Sie sah und hörte den Tischler, welcher kam, um ihr den Sarg anzumessen. Als er fertig war, wurde sie hineingelegt und in eine kalte Kammer gestellt. Am Begräbnistage bahrte man sie im Hausflur auf. Die Leichenträger kamen, der Pfarrer und der Kantor mit der Kurrende. Die Familie begann, Abschied von der Scheintoten zu nehmen. Man denke sich deren Qual! Drei Tage und drei Nächte lang hatte sie sich alle mögliche Mühe gegeben, durch irgendeine Bewegung zu zeigen, daß sie noch lebe — — vergeblich! Jetzt kam der letzte Augenblick, an dem noch Rettung möglich war. Hatte man den Sarg einmal geschlossen, so gab es keine Hoffnung mehr. Sie erzählte später, daß sie sich in ihrer fürchterlichen Todesangst ganz unmenschliche Mühe gegeben habe, doch wenigstens mit dem Finger zu wackeln, als einer um den andern kam, um ihre Hand zum letzten Male zu ergreifen. So tat auch das jüngste Mädchen des Oberförsters, welches besonders sehr an Großmutter gehangen hatte. Da schrie das Kind erschrocken aus: "Sie hat meine Hand angegriffen; sie will mich festhalten!" Und richtig, man sah, daß die scheinbar Verstorbene ihre Hand in langsamer Bewegung abwechselnd öffnete und