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von Kandern war, als Leonore aus ihrem Zimmer geführt wurde, sehr bald in dasselbe zurückgekehrt und ging wohl eine Stunde lang in sichtbarer Aufregung auf und ab, dann öffnete sie ihr Schreibepult, stützte eine lange Weile noch den Kopf in die Hand und begann zu schreiben. Der Brief war an Leonorens Vater bestimmt und lautete, wie folgt:

      »Mein lieber Arnold!

      Wenn Sie meine Schriftzüge vergessen haben in der langen Reihe von Jahren, da Sie sie nicht gesehen, so sage ich Ihnen hier gleich in den ersten Zeilen, es ist Dorothea von Kandern, Ihre alte Freundin, welche Ihnen schreibt. Was Sie auch erlebt haben mögen, in Glück oder Leid, vergessen haben Sie mich doch wohl nicht ganz, man vergisst nicht diejenigen, die die wichtigsten Lebenskatastrophen mit uns durchmachten.

      Es sind jetzt siebzehn Jahre, dass wir nichts voneinander gehört haben, meine Teilnahme für Sie ist aber noch ebenso groß, als sie war, da ich Ihnen die Hand zum Abschiede reichte und Ihnen versprach, das Möglichste zu tun, um Sie mit Ihrer Familie auszusöhnen. Ich habe nichts für Sie tun können, seltsamer Weise aber setzt das Geschick mich in den Stand, Ihrem Kinde die Liebe und Teilnahme zu betätigen, die ich für Sie empfand.

      Leonore, Ihre Leonore ist seit vierundzwanzig Stunden bei mir.

      Ich weiß nicht, was Sie bewegen konnte, sich von dem Mädchen zu trennen. Ist es Armut? Sind Sie so bedeutend krank, dass Sie Ihren Tod erwarten, Ihr Kind noch vor demselben den Verwandten zum Schutze übergeben wollten?

      In den Händen des Justizrates Delbruck, Ihres Schwagers, ist Leonore sehr übel geborgen. Delbruck ist ein herz- und gewissenloser Mensch, ein alternder Wüstling – damit ist alles gesagt. Ihre sechszehnjährige Tochter hat sich vor einer Nichtswürdigkeit flüchten müssen, der Zufall wollte, dass Dobezutkas Tochter sie im Walde fand. Jetzt ist Leonore bei mir und soll bei mir bleiben, bis Sie über Ihr Kind verfügen. Dass ich Leonore im Hause meiner Schwägerin nicht wie das Kind eines Freundes behandeln kann, darf ich Ihnen nicht auseinandersetzen. Sie bleibt daher hier als meine Kammerjungfer, Gesellschafterin, kurz als zu meiner Bedienung und Bequemlichkeit gehörig.

      Meine Schwägerin hat ohnedies einigen Grund, das junge Mädchen nicht in ihrer nächsten Umgebung dulden zu wollen. Sie gefällt nämlich durch ihre jugendliche Einfachheit dem einzigen Sohne meines Bruders; nun können Sie aber denken, dass seine Mutter nichts mehr fürchtet, als die Möglichkeit, dass Siegmund die Wege seines Vaters gehen möchte.

      Lassen wir die Vergangenheit, sie war für uns alle schmerzlich, wohl uns, wenn Schmerz und Liebe, wenn Glück und Entsagung zu unserer Ausbildung, zu unserer Veredlung beigetragen, wenn das Leben das Götterbild des eigenen Ichs bei jedem von uns zur Vollendung entwickelte.

      Aber das ist es nicht, lieber Arnold, was ich Ihnen schreiben wollte, sondern einzig und allein die Frage, was soll aus Ihrer Leonore werden? Zurückkehren in Delbrucks Haus kann sie unter keiner Bedingung. Wird sie es tragen können, hier in einer untergeordneten Stellung zu weilen? Werden Sie dies wünschen, werden Sie es nur zulassen? – Sie wohnt jetzt in dem kleinen Fremdenzimmer, das Ihre Schwester vor ihr so oft und gern bewohnte, in dem auch Anna von Korff mehr als einmal geweilt in Tagen – die vergangen.

      Welch’ ein liebliches Kind sie ist; alles an ihr einfache Wahrheit und Natur. Sie gleicht Ihrer Schwester, doch steht mir das Bild derselben nur in voller Entwicklung weiblicher Schönheit vor Augen; Ihre Leonore ist noch trotz ihrer sechszehn Jahre fast ein Kind.

      Antworten Sie mir umgehend, lieber Arnold, auch Leonore erwartet einen Brief von Ihnen mit Sehnsucht. Sie deutete mir an, dass man dem Briefwechsel zwischen Vater und Tochter im Hause des Justizrates Hindernisse in den Weg gelegt. O diese Pharisäer!

      Aber – ich will nicht richten, jede böse Tat, ja jeder unlautere Gedanke, den wir hegen, ist ein Samenkorn, das früher oder später aufgeht und dessen Früchte wir auch genießen müssen, aber ebenso ist’s mit dem Guten, welches wir taten oder dachten. –

      Ich reiche Ihnen in der Ferne die Hand, lieber Arnold und sage Ihnen vom ganzen Herzen:

      Gott mit Ihnen!

      Dorothea von Kandern.«

      Es war längst Mitternacht vorüber, als dieser Brief gesiegelt und adressiert auf dem Schreibtische der Dame lag, während sie selbst noch immer ruhelos im Zimmer auf und ab ging, und das anscheinend so ruhige Haus barg in seinen Mauern außer ihr noch mehr als ein unruhiges, von Schmerz und Sorge bewegtes Herz. Frau von Kandern, Dorotheas Schwägerin, saß in ihrem mit klösterlicher Einfachheit eingerichteten Zimmer vor ihrem Schreibtische, dessen geheimste Schiebfächer weit offen standen.

      »Hier ist es«, sagte sie ganz laut, obgleich außer ihr kein Mensch im Zimmer war, »hier, großer Gott, wie ähnlich.«

      Sie hatte ein Pack hervorgezogen, das augenscheinlich aus alten Briefen bestand, die mit einem schwarzen Band zusammengebunden waren. Diese Briefe hatte sie auseinandergebunden und auf den Tisch verstreut, bis sie zwischen ihnen ein Medaillon in altmodischer Goldfassung fand, das ein schönes, weibliches Portrait enthielt. Das Bild glich unbedingt der jungen Leonore, doch war das Gesicht zarter, regelmäßiger und von einer Farbenschönheit, die man nur im Busen der eben erschlossenen Rose und in manchen jugendlichen Gesichtern nordischer Mädchen findet. Die gemalte Kleidung gehörte der Mode einer längst vergangenen Zeit, und der Goldrand des Bildes und die hintere emaillierte Seite desselben war von großen dunklen Rostflecken verunstaltet, welche Frau von Kandern mit Schauder betrachtete. –

      »Was soll ich tun, o mein Gott, was soll ich tun?« sagte sie, das Bild aus den Händen legend und die bleiche Stirn trocknend. »O Gott, Gott! Wie hart prüfst und versuchst Du die Deinen!«

      In diesem Augenblick ließ sich ein leises Klopfen an einer Tapetentür vernehmen. Die Dame stand auf, und ohne das Bild zu verbergen, noch die Papiere zusammenzuschieben, öffnete sie den Riegel und ließ den protestantischen Geistlichen ein, welchem Leonore bei ihrem Eintritt in das Haus begegnet war.

      »Raten Sie mir, mein verehrter Freund«, sagte Frau von Kandern dem bleichen, trüb blickenden Mann die gefalteten Hände flehend entgegenstreckend:

      »Raten Sie mir, was soll ich tun? Ist es meine Pflicht nach dem, was Dorothea uns andeutete, das Mädchen, das – o mein Gott – das Bild einer grässlichen Vergangenheit, in meinem Hause, unter meinem eigenen Dache zu behalten und kann das Gott von mir verlangen? Und noch dazu jetzt, wo Siegmund in kurzem heimkehrt, der nach einem Zusammensein mit ihr, das kaum Stunden dauerte, hingerissen war von ihrer Schönheit, Gelehrigkeit und Einfachheit? Soll ein Wesen aus dem Blute derjenigen, die meine Jugend in Galle tauchte, jetzt vielleicht bestimmt sein, mein Alter zu vergiften, alle meine Pläne zu durchkreuzen und mir das Herz meines einzigen Sohnes zu rauben?«

      »Fräulein Dorothea«, sagte der Befragte, »fordert den Aufenthalt des jungen Mädchens nur für einige Zeit, nur bis über sie von Seiten ihres Vaters bestimmt werden kann. Dies zu verweigern, wäre unchristlich, gnädige Frau. Zudem bleibt sie in untergeordneter Stellung, eine Kammerjungfer seiner alten Tante dürfte Ihrem Sohne, Frau Baronin, wohl keine Leidenschaft, oder nur höchstens eine vorübergehende einflößen, auch dürfen wir, wie Ihnen wohl bewusst ist, in Fräulein Dorothea den schlafenden Löwen nicht wecken. Dem, was sie einmal entschieden will, geradezu widersprechen, können wir nicht, aber die Umstände leiten, mit sanfter Hand einen wünschenswerten Ausgang herbeiführen, das ist uns erlaubt, und ich selbst, ich wüsste jetzt schon einen solchen, meine verehrte Freundin. In Ihrem Hause, unter Ihrer Leitung müsste die Blutsverwandte Ihrer Todfeindin sich glücklich und ihren Verhältnissen gemäß verheiraten, dann könnten Sie, Ihrer natürlichen und christlichen Großmut folgend, feurige Kohlen sammeln auf die Häupter Ihrer Widersacher, und das Kind, das Gott Ihnen zuführte, ausstatten mit barmherziger Hand. Ihr Herr Sohn kommt in den ersten Tagen, ja in den ersten Wochen noch nicht heim; bis er kommt, kann manches geschehen. Legen Sie diese traurigen Erinnerungszeichen an eine traurige Vergangenheit nur wieder hinweg. Es wird alles gut und nach Wunsche gehen, wenn wir Gott vertrauen und das Unsrige tun. Und nun, meine teure Freundin, ermahne ich Sie zu Gebet und Buße und gebe Ihnen meinen Segen, denn es ist spät und Ihnen ganz besonders die Ruhe Not. –«

      Er stand auf, verbeugte sich und verschwand so geräuschlos als er gekommen,

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