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konnte.

      „Die Preisrichter, was machen sie mit dir?“ Meine Schwester hatte schließlich dem Druck nachgegeben und das Schweigen durchbrochen.

      Ja was machten die Preisrichter eigentlich mit mir? Würden sie mich bestrafen, mich ausbilden? „Ich weiß es nicht.“

      Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit, eine Mischung aus Aufregung und Übelkeit.

      „Sie werden dich wohl zu einer von ihnen ausbilden, oder es zumindest versuchen“, antwortete meine Mutter.

      Dora betrachtete mich mit vor Schreck geweiteten Augen.

      „Das werde ich natürlich nicht zulassen“, beteuerte ich, doch tief in meinem Inneren zweifelte ich daran, ob ich überhaupt eine Wahl hatte.

      „Wissen die Nachbarn, dass wir heute Besuch bekommen?“

      „Nein, und so soll es auch bleiben! Das Gerede nach deinem Verschwinden wird mir reichen. So sieht es wenigstens so aus, als wäre das alles überraschend für uns eingetreten und das Mitleid wird das Gerede mildern“, erwiderte meine Mutter bestimmt.

      Mein Verschwinden, das hörte sich so an, als hätte ich selbst beschlossen zu gehen, aber vielleicht hatte das ein Teil meines Gehirns ja auch ohne meine Erlaubnis getan und seine Chance ergriffen, als sie ihm zu Füßen lag. Dieses Gedankenspiel führte ich aber nicht fort, da ich wichtigeres zu tun hatte, als meinen inneren Kampf auszutragen. Die Preisrichter würden bald kommen. Doch auf unergründliche Weise war ich auf einmal bereit für all das, was kommen mochte. Meine Mutter musste diese Entschlossenheit in meinem Blick gesehen haben und nickte nur traurig. Im Gegensatz zu ihr machte ich das Beste aus meinem Schicksaal, während sie der Vergangenheit nachtrauerte. Ich würde mich den Preisrichtern stellen! Verträumt trat ich ans Fenster und blickte auf die grauen Häuser, die sich von dem schwarzen Himmel, der ein Gewitter ankündigte, abhoben. Bald, bald!

      Die Spannung, die schon den ganzen Tag in der Luft gelegen hatte, entlud sich schließlich am frühen Nachmittag. Blitze zuckten, Donner grollte, der Wind rüttelte am ganzen Haus und Regen trommelte an unser Küchenfenster. Ich saß mit Leo am Schoß auf einem unserer Stühle und wartete. Ich war so auf das Warten konzentriert, dass ich anfangs das Klopfen an unserer Tür, das vom Brüllen des Gewitters fast gänzlich überlagert wurde, überhörte. Bei einem besonders lauten Krachen zuckte ich aus meinem Halbschlaf hoch, um eine nun energischere und lautere Klopftirade zu hören. Schnell gab ich Leo meiner Mutter, die ebenfalls gedankenverloren an der Wand gelehnt hatte und trat mit schnellen Schritten zur Tür, um diese zu öffnen. Davor standen zwei Männer, ein größerer junger und ein mittelgroßer alter, beide in samtenen grünen Gewändern, die vom Regen schwarz wirkten. Ohne auf eine Reaktion meinerseits zu warten trat der ältere Mann in unsere Wohnung, gefolgt vom jüngeren, der die Tür hinter sich schloss. Ich selbst stand überrascht von der bedingungslosen Souveränität der Preisrichter in der Mitte des Raumes und wusste nicht so recht, wie mir geschah. Der ältere Preisrichter richtete seine blauen Augen auf mich und begann: „Du bist Zelda Turris?“

      „Ja“, antwortete ich mit zittriger Stimme, den traurigen und verzweifelten Blick meiner Mutter im Nacken spürend.

      „Der bildungsbeauftragte Preisrichter von Limestones berichtete, dass unter einer Klasse, die er im Zuge eines Projekts besucht hatte, eine Schülerin gesessen hatte, die sich in die Richtung auffällig benommen hatte, dass sie des Preislesens mächtig ist. Er nannte uns deinen Namen, Zelda. Aus diesem Grund werden wir dich nach Marpel mitnehmen, wo du dich einer Prüfung zu unterziehen hast, die feststellen wird, ob dies der Wahrheit entspricht.

      Bei diesen Worten begann mein Herz zu rasen. Eine Prüfung? Niemals hatte ich auch nur ansatzweise gedacht, dass man sich einer Prüfung unterziehen musste, um Preisrichter zu werden. Die Offensichtlichkeit meiner Gabe für mich hatte mir anscheinend die Augen geschlossen vor der realen Welt. Für mich war es das schlimmste Szenario meine Familie zu verlassen und sich den Preisrichtern anzuschließen, ich hasste ihren Reichtum und ihre Macht. Nie hatte ich daran gedacht, dass andere dies nur als einige der guten Dinge sehen könnten, die das Preisrichterleben mit sich brachte. Wie verzweifelt konnte man sein? Doch bei näherer Betrachtung fielen mir viele Gründe ein, das Leben eines Preisrichters seinem eigenen vorzuziehen: Armut, Hunger, keine Zukunft auf den normalen Wegen des Systems oder Machtgier und Ehrgeiz.

      Nach einem kurzen Räuspern fuhr der Ältere fort: „Wenn du, Zelda, die Prüfung bestehen solltest, werden wir dich zu einer von uns ausbilden, du wirst deinen Blick zu schärfen lernen für noch so kleine Details der menschlichen Seele, des menschlichen Wesens, allerdings unter der Bedingung, dass du nach unseren Gesetzen lebst…“

      „Und wenn nicht“, fuhr meine Mutter diesem ins Wort.

      Die unendliche Traurigkeit in ihrer Stimme stach wie ein Dolch in meine Brust.

      „Wie und wenn nicht?“

      „Wenn sie die Prüfung nicht besteht“, antwortete meine Mutter, die ihre zitternde Stimme nicht länger verbergen konnte.

      Ein Funkeln trat in die Augen des Preisrichters. Es schien mir, als wäre seine blaue Iris ein wirbelnder Sturm und die schwarze Pupille das alles verschlingende Loch. „Dann wird Ihre Tochter aus der Gesellschaft ausgestoßen, eine Preislose.“

      Ich hörte wie meine Schwester hinter mir nach Luft schnappte und die Hand vor den Mund schlug. Dagegen fühlte ich mich wie betäubt, mein Blick verschwamm, meine Ohren pochten. Eine Preislose. Ich sah vor mir den Jungen im Diamond Tower, seine gähnend leere Stirn.

      „Da ja nun alles geklärt ist, werden wir dich mitnehmen. Morgen findet die Prüfung statt. Falls du bestehen solltest, darfst du deiner Familie eine Nachricht zukommen lassen. Du hast zwei Minuten dich zu verabschieden. Wir warten draußen auf dich.“ Die geschäftsmäßigen Worte drangen nur halb durch die Mauer, die ich innerhalb von Sekunden um mich errichtet hatte.

      Als die beiden Preisrichter jedoch den Raum verlassen hatten, verflog ein Teil des Schleiers, der sich auf meine Augen gelegt hatte. Ich konnte fühlen, wie mich meine Mutter und Schwester umarmten, spürte ihre nassen Gesichter auf meiner Haut, erahnte Tränen auf meinen eigenen Wangen. Langsam löste ich mich aus der Umarmung. Ein letztes Mal nahm ich die kleine Hand meines Bruders in die meine, ein letztes Mal küsste ich die Stirn meiner Schwester, ein letztes Mal blickte ich in die warmen Augen meiner Mutter. Ich nickte meiner Familie zu. So viel wollte ich noch sagen, doch die Stimme versagte mir. Im Nachhinein wusste ich, dass es keine Sprache der Welt gab, die diesen Schmerz und diese Trauer und die zugleich innig pulsierende Liebe beschreiben konnte. Ich öffnete die Wohnungstür, meine Hand fand das dünne Holz des Türrahmens, dessen Farbe sich löste und blaue Farbpigmente auf meiner Haut verteilte. Lass los, sagte eine Stimme in meinem Kopf, geh! Und mit größtem Herzschmerz trat ich in den Gang und wand mich in Richtung Ausgang. Ich spürte erneut wie Tränen in mir hochstiegen, wie die Versuchung von mir Besitz nahm zurück zu rennen. Stattdessen setzte ich mich in die andere Richtung in Bewegung erst langsam, dann immer schneller. Es fühlte sich so falsch an, doch ein Teil von mir wusste, dass dies der einzig wahre Weg für mich war. Als ich die Haustür erreicht hatte, verweilte ich noch einen Moment. Stille machte sich breit. Einsamer als je zuvor wischte ich mir die Tränen aus den Augen, packte den Türgriff und entschlossen schritt ich durch die Tür in mein neues Leben.

      Kapitel 10

      Davor warteten bereits die beiden Herren. Es hatte aufgehört zu regnen und Pfützen hatten sich in der unebenen Straße gesammelt. Die Sonne blendete mich vor dem schwarzen Hintergrund der Wolken, die in Richtung Westen abgezogen waren. Die Preisrichter waren in ein Gespräch verwickelt, doch als sie mich bemerkten, beendete sie dieses und der jüngere machte eine Handbewegung in Richtung eines gelben Etwas. Konnte das wirklich sein? Unsicher machte ich ein paar Schritte auf die Männer zu. Ohne Zweifel, es war ein Sol. Bei genauerem Hinsehen konnte man die markante gelbe Oberfläche des Gefährts als Metall ausmachen, das wie die Sonne glänzte. Das Sol, benannt nach dem scheinenden Gelb der Außenlackierung, war ein Gefährt der Preisrichter. Es war ihr Privileg, eines ihrer vielen Statussymbole. Nur einmal zuvor hatte ich eines in echt gesehen, damals an dem Tag, an dem ich meine Schwester zu ihrer Zeremonie

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