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auch ihn ihrem Kopf. Und wenn sie Rocco auch mitgenommen hatten? Wenn sie ihn in der Wohnung entdeckt hatten? Wenn er auf der Straße aus Verzweiflung und Schmerz Polizisten, oder noch schlimmer, Mocovics Männer provoziert hatte? Maya stellte sich den Achtzehnjährigen vor, wie er verloren durch die Straßen lief, verängstigt in einer Zelle hockte oder blutend und bewegungslos auf der Straße lag. Maya schüttelte die Bilder ab. Es war nicht nützlich, sich jetzt in panischen Gedanken zu verlieren. Sie atmete tief durch, beschleunigte ihre Fahrt und holte zu Lisa auf.

      „Lisa, lass uns für heute aufhören, ja?“ Es tat ihr selbst weh, das zu sagen, aber sie war mit ihrem Latein vorerst am Ende.

      „Lass uns nach Hause fahren. Vielleicht meldet er sich ja. Oder wir suchen bei Tageslicht weiter.“ Es klang so erbärmlich wie Maya sich fühlte.

      „Ich kann nicht“, Lisa blinzelte Tränen weg, die nicht vom Fahrtwind kamen.

      Natürlich konnte sie nicht. Lisa und Rocco waren unzertrennlich. Und das nicht auf eine pudrige, süßliche Teenagerart und Weise. Sie konnten nicht ohne einander. Sie waren zusammen aufgewachsen. Lisa hatte bei Rocco Zuflucht gesucht, als ihre Eltern gestorben waren. In den kriegsähnlichen Zuständen vor beinahe vier Jahren hatte Lisa alles daran gesetzt, zu Rocco zu kommen. Sie hatten sich verliebt, waren regelrecht zusammengewachsen. Nein, Lisa konnte nicht aufhören Rocco zu suchen. Ihr fehlte ein Teil ihrer selbst.

      „Ich weiß“, sagte Maya deshalb. „Ich weiß. Aber so erreichen wir nichts. Komm mit zu mir und wir überlegen, was wir als Nächstes tun. Wir geben nicht auf. Ganz sicher nicht.“

      Lisas Bremsen quietschten und sie blieb heftig atmend mitten auf der Straße stehen. Maya trat ebenfalls in die Bremsen und verhinderte nur mit Mühe, dass ihr Rad kippte.

      „Warum ist er nicht zu mir gekommen?“ Lisas Enttäuschung war deutlich herauszuhören. Sie wohnte in einer Wohngemeinschaft mit zwei Studentinnen. Denen hatte sie eingeschärft, sich sofort zu melden, falls Rocco in der WG auftauchen sollte. Doch Lisas Handy war still geblieben.

      „Vielleicht musste er nur nachdenken, vielleicht war es ihm zu gefährlich, vielleicht… ach Lisa, ich weiß es doch auch nicht!“ Maya warf die Hände in die Luft. „Lass uns jetzt bitte umkehren. Ich kann nicht mal mehr klar denken.“

      Lisa starrte sie aus ihren großen Augen an und Maya hätte sie am liebsten in den Arm genommen, doch ihre Räder waren ihnen im Weg. Langsam nickte Lisa und wendete ihr Rad. Auf dem Rückweg sprachen beide kein Wort. Jede hing ihren eigenen Gedanken nach.

      Es war für Maya keine Überraschung, dass Roccos Eltern verschwunden waren. Beide arbeiteten bei einer der großen Firmen am Stadtrand, bei der auch ihr Sohn eine Stelle ergattern konnte. Doch während Rocco am Fließband stand und Plastikteile zusammensteckte, waren seine Eltern im Betriebsrat organisiert. Das war kein leichter Job in diesen Zeiten. Schrittweise, doch völlig öffentlich und beinahe schamlos waren die Rechte der Mitarbeiter eingeschränkt und die Möglichkeiten des Betriebsrats beschnitten worden. Was den Betriebsräten blieb, war zum Streik aufzurufen – oder zum allgemeinen Widerstand. Und das war es, was Roccos Eltern in Gefahr gebracht hatte. Widerstand wurde hart bestraft. Und eigentlich glich es einem Wunder, dass Roccos Eltern dieser Bestrafung bisher entgangen waren. Rocco musste das ebenfalls bewusst gewesen sein. Trotzdem waren die Ereignisse des heutigen Abends mit Sicherheit ein Schock für ihn gewesen.

      Und im Schock handelten die Menschen auch nicht immer, wie man es von ihnen erwarten würde. In Mayas Kopf tauchten wirre Sätze auf. Hoffentlich ist alles ganz anders, als wir denken. Hoffentlich klingelt gleich Lisas Handy und Rocco ist dran. Und dann sagt er, es sei alles nur ein Scherz gewesen, seine Eltern und er wären wohlauf und nur kurz mal verreist oder so. Doch diese Hoffnungen waren irrational, das wusste sie. Wahrscheinlich wurde ihr das alles gerade zu viel. Es hatte zu nieseln begonnen und bis zum Morgengrauen konnte es nicht mehr lange hin sein. Müdigkeit lag schwer auf Maya, als sie in ihr Viertel einbogen. Trotzdem war sie schrecklich unruhig. Sie würde es nicht schaffen, auch nur kurz zu schlafen, so viel stand fest. Maya verzichtete darauf, sich die Kapuze ihres Parkas über den Kopf zu ziehen. Sie waren vor ihrem Café angekommen. Dahinter, in einem abgetrennten Bereich ihres Ateliers lag Mayas kleine Wohnung. Die beiden Frauen schoben ihre Räder durch die Einfahrt neben dem Café in den bepflanzten, aber total verwilderten Innenhof, über den man ins Atelier gelangte. Lisa ließ ihr Fahrrad in eine struppige Hecke fallen und lehnte sich an die Mauer neben Mayas Wohnungstür. Der stärker werdende Regen hatte ihre Haare dunkel an ihren Kopf geklebt und sie war trotz der langen Fahrt mit dem Rad sehr blass im Gesicht. Sie sah erschöpft und mutlos aus. Auch Lisa würde heute Nacht kein Auge mehr zutun, da war sich Maya sicher.

      „Ich mach‘ uns jetzt erst einmal einen Kaffee“, schlug sie Lisa vor und kettete ihr Rad an die Regenrinne. Lisa nickte nur teilnahmslos. Es war jetzt wirklich an der Zeit, dass sie ins Trockene kamen. Maya kramte in ihrer ledernen Umhängetasche nach dem Schlüssel, als sie im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Blitzschnell fuhr sie herum und spähte in die Dunkelheit. Ihr Herz schlug heftig in ihrem Hals. Auch Lisa hatte etwas bemerkt. Sie stand jetzt direkt neben Maya, die Augen weit aufgerissen, der Körper angespannt und wachsam. Vielleicht war es nur eine Ratte gewesen. Wieder ein Geräusch. Heftiges Atmen, ein Scharren. Bevor Maya einordnen konnte, von wem oder was das stammte, war Lisa bereits quer über den Innenhof gerannt und kauerte in einer dunklen Ecke auf dem Boden.

      „Lisa, nicht!“ Mayas Stimme klang schrill in ihren Ohren, als sie dem Mädchen nachlief. Und dann sah sie Lisa dort sitzen, schluchzend, ihre Arme eng um dieses Etwas am Boden geschlungen.

      „Du Idiot! Du Idiot! Du Idiot!“, schimpfte sie zwischen ihren Schluchzern. Als der Idiot endlich aufsah, sackten Maya vor Erleichterung beinahe die Knie weg.

      „...tut mir leid, dass ich euch solche Angst gemacht habe.“ Rocco nahm einen weiteren Schluck von seinem Kaffee.

      Maya hatte einige Zeit gebraucht, das nasse, eng umschlungene Menschenknäuel aus dem Innenhof in ihre Wohnung zu bugsieren. Lisa hatte sich geweigert, Rocco auch nur für eine Sekunde loszulassen. Und auch jetzt, als sie ihm gegenüber an Mayas Tisch saß, hielt sie seine Hand. Sie wärmten sich an dem Feuer, das Maya in ihrem kleinen Bollerofen in der Ecke gemacht hatte.

      „Ich musste nur da weg, ein bisschen laufen.“ Rocco schob seine Tasse verlegen über den Tisch und sah Lisa entschuldigend in die Augen.

      „Das ist schon in Ordnung. Hauptsache, du bist jetzt da“, antwortete Maya und goss sich selbst Kaffee nach. Müde und durgefroren wie sie war, erschien ihr das dunkle Gebräu momentan wie der beste aller Zaubertränke. Sie lehnte sich gegen die kleine Anrichte ihrer Küche und betrachtete das Pärchen dort am Tisch. Lisa hatte die ganze Zeit noch kein Wort gesprochen. Sie war so froh, Rocco wiederzuhaben, dass sie wohl ganz in diesem Moment versunken war. Sie war einfach nur erleichtert und ihre Augen leuchteten. Hinter Roccos Stirn dagegen konnte man es beinahe arbeiten sehen. Zuviel war auf ihn eingestürmt in den vergangenen Stunden. Die Eltern verschwunden, das Zuhause zerstört.

      „Wo soll ich denn jetzt hin?“, fragte er, als hätte er Mayas Gedanken geteilt.

      „Wir suchen uns gemeinsam eine Wohnung“, schlug Lisa vor. Doch Rocco schüttelte bereits den Kopf.

      „Süße, du weißt genau, dass das nicht geht. Du musst in deiner WG bleiben, bis du 18 bist. Sonst kassieren sie dich ein.“

      Da hatte Rocco wieder einmal Recht. Als minderjährige Vollwaise durfte Lisa sich nur so frei bewegen, weil sie sich an die Regeln hielt. Gewissenhaft täglich zur Schule, keine Jungs auf dem Zimmer, keine Drogen, kein Aufsehen. Ein Verstoß bedeutete: Jugendheim für die nächsten zwei Jahre. Zwei Jahre ohne Rocco. Das würde Lisa niemals aushalten. Sie hatte schon einmal eine Zeit im Jugendheim verbracht und wollte das mit Sicherheit nicht wiederholen.

      Als Lisas Eltern bei einer Explosion in der Chemiefabrik ums Leben kamen, war Lisa gerade 13 Jahre alt gewesen. Lisa war zum Unfallort gelaufen und hatte mitangesehen, wie 34 Leichen aus der völlig zerstörten Werkshalle gebracht wurden. Als sie darunter ihre Eltern erkannte, hatte sie angefangen zu schreien. Sie hatte getobt und gebrüllt, bis sie die Sanitäter mit Beruhigungsmittel vollgepumpt

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