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Ja, das wollte er alles sehen. Warum war er nie mit seiner Frau hierher gekommen?

      Über Treppen ging es hinunter auf die Straße. Gleich darauf stand er vor einem langgezogenen, wuchtigem Gebäudekomplex. Hier mußte ja auch der berühmte Fischmarkt sein. Es wimmelte von Menschen. Touristen, dachte er. Genau wie ich. Ein Durchgang in dem großen Gebäude brachte ihn zu einer ganzen Reihe schräger Abgänge die dem Ort den Namen gaben - Landungsbrücken.

      Er ging die etwa sechzig Meter lange Schräge nach unten. Noch mehr Menschen. Eine gut fünf Meter breite Hafenmole an die das Wasser der Elbe schwappte. Und hier reihte sich Ausflugschiff an Ausflugschiff. Die meisten ähnelnden schnittigen Yachten mit zwei Oberdecks. Alles drängte auf diese Schiffe um eine Hafenrundfahrt zu erleben. Aber auch kleinere Barkassen boten Fahrten in die Speicherstadt an. An der langen Mole, der Landseite zugewandt, fügten sich Kioske, die Hamburger Spezialitäten anboten, und Andenkenlädchen nahtlos aneinander.

      Ferdinand gönnte sich eine Fischsemmel und ein Bier. Hamburgisch herb. Dann löste er eine Karte für die große Rundfahrt. Er bereute es nicht. Vorbei an Trockendocks, riesigen Containerschiffen die gerade ent-oder beladen wurden und den Großkränen zwischen deren riesigen Auslegern die Container wie Spielzeug aussahen. Auf der gegenüberliegenden Seite Hamburgs Villenviertel, eingebettet in viel Grün. Genußvoll atmete Ferdinand die frische Luft ein und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Wohin war Oskar gegangen? Oder besser wohin war er verschwunden? Er fand keine vernünftige Erklärung. Alles nur Spekulation. Vielleicht war er tatsächlich in eine andere Stadt gezogen. Und lebte dort friedlich als Rentner, genau wie er. Ob er je geheiratet hatte? Schließ dieses Kapitel ab, sagte eine innere Stimme zu ihm.

      Bevor er zurück Richtung Bahnhof fuhr besichtigte er noch den großen Dreimaster der seitlich an den Landungsbrücken vor Anker lag. Einst ein stolzer Segler der die Meere befuhr und jetzt als Museumsschiff sein Dasein fristete.

      Am nächsten Tag nach dem Frühstück fragte er seine Zimmerwirtin, was er in Hamburg wohl noch alles unternehmen könnte. Interessante Sehenswürdigkeiten zum Beispiel.

      "Bei den Landungsbrücken war ich schon."

      "Na steigen Sie doch dem Michel aufs Dach", sagte sie.

      Oder machen Sie einen Spaziergang an der Außenalster."

      "Gute Idee", antwortete Ferdinand.

      Er sah auf seinen Stadtplan. Das war vom Hauptbahnhof ja nur eine kurze Wegstrecke. Gesagt, getan. Erneut kaufte sich Ferdinand ein Tagesticket. Der Blick aus dem Fenster der S-Bahn war ihm nun schon ein bisschen vertraut. Als er kurz darauf den Bahnhofsplatz überquerte und den breiten Fußgängerweg auf der gegenüberliegenden Seite betrat blieb er abrupt stehen. Schon in den vergangenen Tagen waren ihm Männer in heruntergekommener Kleidung aufgefallen. Unrasierte Männer mit stumpfem Blick die auf Begrenzungspfosten oder Bänken saßen und Bierflaschen in der Hand hielten. Wie überall konzentrierte sich die Anwesenheit von Obdachlosen auf das Bahnhofsviertel. Hier durchwühlten sie Abfalleimer oder sprachen in unbeobachteten Momenten auch mal Reisende an, um sich Geld zu erbetteln.

      Aber dieses Bündel da vor ihm auf dem Gehsteig hatte kaum noch Ähnlichkeit mit einem zivilisierten Menschen. Zerlumpfte Kleidung die diesen Namen nicht mehr verdiente. Dicht an die Hauswand gedrängt lag der hilflose Mann auf dem verdreckten Gehwegpflaster und schlief. Ferdinand starrte gleichzeitg angewidert aber auch

      voll Anteilnahme auf den Bedauernswerten. Sein Schuhwerk war nur noch die Karikatur einer Fußbekleid-ung. Dem linken Schuh fehlten beim Oberleder an der Schuhspitze mehrere Zentimeter und schwarze Zehen reckten sich ins Freie. Auf beiden Seiten hing die Sohle, ebenfalls im vorderen Teil, vom übrigen Schuhkörper.

      Ferdinand konnte, von einer seltsamen Faszination gepackt, nicht den Blick abwenden. Er sah kurz auf, als eine Frau vorbeiging die den Kopf schüttelte. Er hörte sie murmeln: "Das wird immer schlimmer."

      Und dann auf einmal kam es Ferdinand vor, als durchzucke ihn ein Blitz. Sein Gehirn weigerte sich es zu akzeptieren. Er bückte sich zu der Gestalt nach unten und sah in das verwüstete Gesicht. Das konnte nicht sein! Er zitterte ein wenig und richtete sich wieder auf. Er griff in die rechte Innentasche seines Jacketts und holte das alte Foto heraus.

      Ein Mann hinter ihm blieb kurz stehen und sagte: "Dem ist nicht zu helfen. Der ist fertig. Lass ihn liegen."

      Ferdinand drehte sich um und sah den Fremden verständnislos an. Bevor er etwas erwidern konnte entfernte sich der Mann mit schnellen Schritten.

      Erneut bückte sich Ferdinand, ging tief in die Hocke um dem Liegenden ins Gesicht zu sehen. Sein Blick wanderte zwischen dem Foto und der Realität hin-und her. Es bestand kaum Ähnlichkeit mit der Peson auf dem Foto, und doch... er war sich nicht sicher. Was konnte er tun?

      Das bildest du dir alles nur ein, meldete sich sein Unterbewußtsein. Du bist fixiert darauf hier Oskar zu finden!

      Ja, wahrscheinlich hast du recht. Vielleicht wenn er diesem Menschen in die Augen sehen könnte.

      Er streckte seine linke Hand aus und berührte den Schlafenden an der Schulter. Achtlos gingen Passanten vorüber. Jetzt war er so weit gegangen. Nun gab es kein Zurück mehr. Ich muß es wissen, dachte Ferdinand. Er rüttelte an der Schulter. Nach einer Weile bewegte sich der Schläfer. Ein unangenehmer Geruch stieg Ferdinand in die Nase.

      "He, he... was soll das... was willst du?"

      "Wachen Sie...wach auf... du kannst hier nicht liegen bleiben."

      Der Penner schlug langsam die Augen auf. Zwei Augäpfel die heftig hin-und herrollten.

      "Lass mich in Ruhe Idiot."

      "Hallo Oskar...", Pause "Oskar Sebald...? Bist du das?"

      Nun sah dieser unrasierte Mensch ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Zahnlücken, schwarze Stummel.

      "Was... wer bist du...? Was willst du von mir? He, haste n'paar Euro für mich. Hab noch nichts gegessen."

      Und jetzt war sich Ferdinand fast sicher, dass dies sein alter Kumpel aus Bundeswehrzeiten war. Auch wenn er es kaum glauben konnte.

      "Du bist Oskar Sebald, ich weiß es jetzt. Was ist bloß mit dir geschehen?"

      Die kleine Narbe auf der linken Wange, die er vorhin noch auf seinen Arm gedrückt hatte, war immer noch da. Damals hatte Oskar sich beim Freigang in einer Kneipe geprügelt. Der Lohn dafür war ein Stich in die Wange. Nicht allzu tief. Aber es hatte gereicht. Geblutet hatte er wie ein Schwein. Die Diziplinarstrafe folgte auf dem Fuße.

      "Komm steh auf Oskar. Ich will mit dir reden."

      "Ach laß mich in Ruhe. Ich kenn dich nicht."

      Ferdinand hatte das alte Foto immer noch in der Hand. Er hielt es Oskar vor das Gesicht.

      "Das bist du Oskar. Und ich. Weißt du noch, damals bei der Bundeswehr in Grafenwöhr." Der Geruch von billigem Fusel und dreckiger Unterwäsche stieg Ferdinand wieder in die Nase.

      "Kenn dich nicht", murmelte der Angesprochene. "Lass mich in Frieden."

      Der Mensch da vor mit hat seinen Verstand versoffen, dachte Ferdinand. Er konnte es immer noch nicht fassen.

      Er wandte sich wieder an den Liegenden der sich gerade wieder mit dem Gesicht zur Hauswand rollte.

      "Komm Oskar ich spendier dir was zu essen und zu trinken."

      Bei den letzten Worten kam Leben in das Wrack. Oskar setzte sich ächzend auf, sah Ferdinand durchdringend an und sagte: "Ja, spendier mir was."

      Deutlich konnte Ferdinand an den Augen des vor ihm Sitzenden sehen, dass er nicht wußte wer ihn da einlud.

      Nun war es an Ferdinand einen kleinen Schock zu bekommen. Ihm wurde bewußt, dass er mit dieser zerlumpten Gestalt nirgenwo hingehen konnte. Jede Gaststätte würde ihnen den Zutritt verwehren. Aber vielleicht gab es irgendwo einen Stehimbiss auf der Straße.

      Er steckte das Foto in die Tasche, denn es war zu nichts nütze. Aber nun war er so weit gegangen, jetzt mußte er Wort halten. Und schließlich

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