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Der Obmann hielt dem seinerseits entgegen, daß man sie doch nicht für unschuldig erklären könne, da sie ja selbst gestanden habe, dem Kaufmann das Pulver eingegeben zu haben.

      »Sie gab es ihm, gewiß – aber sie dachte, es sei Opium,« sagte der Kaufmann.

      »Auch durch Opium konnte sie seinen Tod herbeiführen,« versetzte der Oberst, der gern seine Meinung in abweichendem Sinne äußerte und abzuschweifen liebte. Und er benutzte gleich die Gelegenheit, um zu erzählen, wie die Frau seines Schwagers mittels Opiums sich zu vergiften versucht habe und gestorben wäre, wenn nicht ein Arzt in der Nähe geweilt und rechtzeitig Gegenmaßregeln ergriffen hätte. Der Oberst erzählte so eindringlich, so voll Selbstvertrauen und Würde, daß niemand ihn zu unterbrechen wagte. Nur der Kommis, den das Beispiel des Obersten angesteckt hatte, entschloß sich, ihm ins Wort zu fallen, um seinerseits eine Geschichte zu erzählen.

      »Es gibt Leute,« begann er, »die sich so an dieses Gift gewöhnen, daß sie vierzig Tropfen davon einnehmen können. Ich habe einen Verwandten ...«

      Doch der Oberst litt nicht, daß man ihn so ohne weiteres unterbrach, und erzählte weiter, welche Folgen das Opium bei der Frau seines Schwagers hervorgerufen habe.

      »Aber, meine Herren – die Uhr geht schon auf fünf!« sagte einer der Geschworenen.

      »Wie liegt also die Sache, meine Herren?« wandte sich der Obmann an alle Anwesenden. »Wollen wir sie schuldig erklären unter Verneinung des Vorsatzes, ihn zu berauben, und unter Verneinung der Schuldfrage bezüglich der Entwendung irgendwelchen Eigentums? Was meinen Sie?«

      Peter Gerassimowitsch, der mit seinem Siege sehr zufrieden war, stimmte seiner Fassung bei.

      »Sie verdient jedoch mildernde Umstände,« fügte der Kaufmann hinzu.

      Alle stimmten zu. Nur der Speisewirt bestand darauf, daß man sagen solle: »Nein, sie ist nicht schuldig.«

      »Aber die Sache kommt doch auch so darauf hinaus,« erklärte der Obmann – »wenn ihr die Absicht des Raubes fehlte und sie kein Eigentum entwendet hat, so ist sie eben nicht schuldig.«

      »Gut, dann wollen wir es so annehmen und noch hinzufügen, daß sie mildernde Umstände verdient: so wird auch der Rest noch von ihr genommen, der vielleicht noch übrig bleibt,« versetzte der Kaufmann vergnügt.

      Alle waren so ermüdet, so in ihre Streitereien verrannt, daß niemand darauf kam, der Fragebeantwortung auch noch die Worte: »ja, doch ohne den Vorsatz, ihn des Lebens zu berauben« – hinzuzufügen.

      Nechljudow war so erregt, daß auch er nicht daran dachte. In dieser Form nun wurden die Antworten nach dem Gerichtssaal gebracht.

      Rabelais schreibt, daß ein Jurist, dem eine Streitsache vorgelegt wurde, nach einem Hinweis auf alle möglichen Gesetze und nach Verlesung von etwa zwanzig Seiten unsinnigen Juristenlateins den streitenden Parteien vorgeschlagen habe, sie sollten ihre Sache dem Würfelbecher anvertrauen: »gerade oder ungerade!« Falls »gerade« herauskommt, habe der Kläger recht, falls »ungerade«, der Beklagte.

      So lag die Sache auch hier. Daß gerade diese und keine andere Entscheidung erfolgte, lag nicht etwa daran, daß alle einer Meinung waren, sondern erstens daran, daß der Vorsitzende, der sein Resümee so lang ausgedehnt hatte, diesmal vergessen hatte, zu sagen, was er sonst stets sagte, daß sie nämlich bei Beantwortung der ihnen vorgelegten Fragen sagen könnten: »ja, sie ist schuldig, doch hat sie ihn nicht vorsätzlich des Lebens beraubt«; zweitens daran, daß der Oberst die Geschichte seiner Schwägerin gar zu weitläufig und langweilig vorgetragen hatte; drittens daran, daß Nechljudow zu erregt war, um die Auslassung des Zusatzes über die Vorsätzlichkeit der Tat zu bemerken, und daß er der Meinung war, der Zusatz: »ohne die Absicht der Beraubung« sei schon völlig ausreichend, um die Anklage zu entkräften; viertens daran, daß Peter Gerassimowitsch bei der Beschlussfassung nicht im Zimmer war – er war gerade hinausgegangen, als der Obmann die Fragen und Antworten verlas; hauptsächlich aber daran, daß alle ermüdet waren, die Sache so rasch wie möglich vom Halse haben wollten und daher sich für diejenige Antwort entschieden, die dies am raschesten herbeiführte.

      Die Geschworenen klingelten. Der Gendarm, der mit dem blanken Säbel vor der Tür stand, steckte den Säbel in die Scheide und trat zur Seite. Die Richter nahmen ihre Plätze ein, und die Geschworenen kamen einer nach dem andern herein.

      Der Obmann brachte mit feierlicher Miene den Bogen mit den Fragen und Antworten herein. Er trat an den Vorsitzenden heran und reichte ihm das Schriftstück. Der Vorsitzende las es durch und wandte sich mit dem Ausdruck des Erstaunens an seine Kollegen, um ihren Rat zu hören. Dieses Erstaunen hatte darin seinen Grund, daß die Geschworenen, nachdem sie den ersten Vorbehalt: »ohne den Vorsatz des Raubes« gemacht hatten, nicht auch den zweiten Vorbehalt: »ohne die Absicht, ihn des Lebens zu berauben«, hinzugefügt hatten. Es ergab sich aus der Entscheidung der Geschworenen, daß die Maslowa zwar weder gestohlen noch geraubt hatte, daß sie jedoch einen Menschen ohne jeden ersichtlichen Zweck vergiftet hatte.

      »Sehen Sie doch mal, was für einen Unsinn sie mir da gebracht haben!« sagte er zu dem Richter, der zu seiner Linken saß. »Das bedeutet ja Zwangsarbeit, und dabei ist sie unschuldig!«

      »Wieso denn unschuldig?« sagte der strenge Richter.

      »Ganz einfach: unschuldig. Nach meiner Meinung liegt hier ein Fall vor, in dem Artikel 818 in Anwendung kommt.«

      Artikel 818 besagt, daß, wenn das Gericht die Entscheidung der Geschworenen ungerecht findet, es diese aufheben kann.

      »Wie denken Sie darüber?« wandte sich der Vorsitzende an den gutmütigen Richter.

      Der gutmütige Richter antwortete nicht sogleich; er sah auf die Nummer des vor ihm liegenden Aktenstückes, addierte die einzelnen Ziffern und rechnete nach, ob die Summe sich durch 3 ohne Rest teilen lasse. Er hatte für diesen Fall dem Vorsitzenden zustimmen, andernfalls aber gegen ihn stimmen wollen. Obgleich nun die Zahl nicht durch 3 teilbar war, stimmte er aus Gutmütigkeit doch schließlich zu.

      »Auch ich bin der Meinung, daß dieser Fall hier vorliegt,« sagte er.

      »Und Sie?« wandte sich der Vorsitzende an den grimmigen Richter.

      »Auf keinen Fall!« antwortete dieser entschieden. »Ohnedies heißt es in den Zeitungen schon immer, daß die Geschworenen die Verbrecher freisprechen; was werden sie sagen, wenn nun auch das Gericht sie freispricht? Ich bin auf jeden Fall dagegen.«

      Der Vorsitzende blickte auf die Uhr.

      »Es tut mir leid – aber was ist da zu machen!« sagte er und reichte den Bogen mit den Fragen dem Obmann zur Verlesung.

      Alle erhoben sich, und der Obmann las, nachdem er sich geräuspert, bald auf das eine, bald auf das andere Bein gestützt, die Fragen und Antworten vor. Alle Gerichtspersonen – der Sekretär, die Advokaten, selbst der Staatsanwaltsgehilfe, drückten ihr Erstaunen aus.

      Die Angeklagten saßen teilnahmslos da, sie begriffen offenbar die Bedeutung der Antworten nicht. Alles nahm wieder Platz, und der Vorsitzende fragte den Staatsanwalt, welche Strafen er gegen die Angeklagten zu beantragen gedenke.

      Der Staatsanwalt, höchst erfreut über den unerwarteten Erfolg in Sachen der Maslowa – einen Erfolg, den er ganz auf Rechnung seiner Beredsamkeit schrieb – schlug irgendein Buch nach, erhob sich dann ein wenig und sagte:

      »Ich würde vorschlagen, den Simon Kartinkin auf Grund der Artikel 1452 und 1453, Absatz 4, die Euphemia Botschkowa auf Grund des Artikels 1659 und die Jekaterina Maslowa auf Grund des Artikels 1454 zu bestrafen.«

      Alle beantragten Strafen waren so hoch wie nur irgend möglich bemessen.

      »Der Gerichtshof zieht sich zur Beschlussfassung zurück,« sagte der Vorsitzende, sich vom Platze erhebend.

      Alle erhoben sich nach ihm und gingen mit dem angenehmen Gefühl der Erleichterung, das die Vollbringung einer guten Tat erzeugt, hinaus oder schritten im Saale auf und ab.

      »Wir haben da etwas Schönes eingerührt, meine werten Herren,« sagte Peter Gerassimowitsch, auf

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